Als Fynn noch ein Mädchen war, hat er seinen Namen nie ausgesprochen. Louisa. Diesen Geburtsnamen, den seine Eltern ihm gegeben hatten, weil sie ein Mädchen gebaren. Er blieb einfach stumm, wenn ihn jemand fragte, wie er denn heisse, und seine Mutter schüttelte dann immer den Kopf und dachte, wie sonderbar, warum spricht er seinen Namen nicht aus?
Manchmal, wenn jemand Louisa sagte, welch hübsches Mädchen sie doch sei, schaute das Kind den Menschen bloss an und sagte: Ich bin kein Mädchen. Ich bin ein Bub.
Louisa heisst heute Fynn. Fynn ist sieben Jahre alt, und er ist transident. Was heisst: Er ist ein Kind, das sich mit dem biologischen Geschlecht, das ihm gegeben wurde, nicht identifizieren kann. Im falschen Körper geboren, würden einige kurz und knapp sagen. Wie viele transidente Menschen es gibt, weiss niemand. Es existiert keine Statistik, weder in der Schweiz noch für Europa.
Warum sich ein Mensch nicht mit seinem angeborenen Geschlecht identifiziert, weiss auch niemand so recht zu sagen. Neue Studien deuten zwar darauf hin, dass biologisch etwas anders sein könnte, das Gehirn anders funktioniert, doch die Evidenz ist klein. Andere Studien mit eineiigen Zwillingen, bei denen der eine transident ist und der andere nicht, zeigen: An der Biologie alleine liegt es nicht.
Die Frage, ob jemand transident ist oder nicht, ob er oder sie es bleibt und welche Gründe das hat, weiss also keine externe Instanz zu beantworten. Nur der betroffene Mensch selbst.
Fynn weiss, dass er ein Bub ist. Nicht körperlich, aber in allem anderen. 2020 fand seine soziale Transition statt. Fynn war damals fünf Jahre alt. Dann haben seine Eltern und er beschlossen, die Familie, die Verwandtschaft, die Nachbarn, den Kindergarten zu orientieren. Alle zusammen gestalten eine Zeremonie, besprechen mit den Kindergärtnerinnen, wie die Transition vermittelt werden kann.
Dann erzählen sie im Kindergarten die Geschichte einer Raupe, die nicht zum Schmetterling werden will, weil sie Angst hat, dann anders zu sein und nicht mehr dazuzugehören. Eine Regenbogenröhre wird aufgestellt, die Kinder verabschieden Louisa, dann geht das Kind durch die Regenbogenröhre und kommt am anderen Ende als Fynn wieder heraus.
Fynn hat sich seinen Namen selbst ausgesucht, er wollte zuerst heissen wie ein Ninja-Kämpfer, doch dann hat er sich den Namen eines Migros-Wichtels ausgesucht, und seit zwei Jahren hat sich das nicht verändert. Den Namen Louisa hat er nie wieder ausgesprochen und das Umfeld auch nicht. Für die Kinder, sagen seine Eltern, ist Fynn wohl schon lange einfach Fynn. Und auch die Eltern stellten sich von Beginn an hinter ihr Kind. Bloss einmal, als er neue Panini-Bilder hatte, haben sie ihn erpresst und gesagt: Wenn du sie uns nicht gibst, nennen wir dich wieder Louisa. Fynn hat sie ihnen alle gegeben.
Der Vater sagt:
Die Mutter sagt heute, sie habe schon ganz früh gespürt, dass Fynn anders sein wollte. Dass er mit seinem Mädchensein nicht klarkam. Mehr noch: unglücklich war. Er spricht das auch schon sehr früh aus. Im Bett, beim Gutenachtgeschichte vorlesen, fragt Fynn oft nach. Er fragt dann Dinge wie, ob ihm auch mal so Brüste wachsen wie Mama. Und sie sagt: Ja, weisst du, als Mädchen wirst du das auch bekommen.
Und er, der antwortet: Ich will das nicht. Ich möchte sein wie Papa und Opa. Die Haare kurz. Einen Bart. Und als sie dann endlich beim Coiffeur sind und er sich die Haare kurz abrasieren darf, sagt Fynn: endlich. Und dann: Sei nicht traurig, Mama, bitte sei nicht traurig. Seine Mutter sagt:
Dabei hätte sie sich manchmal gewünscht, es sei bloss eine Phase. Eine Laune, nichts weiter. Manchmal, wenn Fynn sich auf Netflix dann doch einen Pony-Film aussucht, flackert in der Mutter kurz Hoffnung auf. «Lächerlich, im Nachhinein», sagt sie heute. «Als könnten sich nicht auch Buben für Ponys interessieren. Doch etwas in mir klammerte sich an meinem Mädchen fest. Und daran, dass es einfacher wäre, wenn alles bliebe, wie es ist.»
Dabei gehe es gar nicht darum, dass der Mensch ihr nun fehle. Sie habe ja noch immer den gleichen Menschen vor sich. «Aber von dieser Idee, von diesem Leben mit meiner Tochter, von dem muss ich mich verabschieden», sagt die Mutter. Ihre Therapeutin habe mal zu ihr gesagt, sie trauere, als sei jemand gestorben.
Dagmar Pauli, Chefärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und Leiterin der Sprechstunde für Geschlechtsidentität, sagt, es sei normal, dass Eltern trauern. Dass es manchmal schwierig ist. Dass sie sich Orientierung wünschen. Nicht wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Sie kommen dann zu Frau Pauli in die Sprechstunde und würden am liebsten einen Test machen lassen, irgendetwas, das ihnen Gewissheit darüber gibt, in welche Richtung sich nun alles entwickelt.
Über hundert Personen kommen pro Jahr in ihre Sprechstunde, weil sie ein minderjähriges Kind zu Hause haben, bei dem nicht klar ist, ob es ein anderes Geschlecht haben will oder es sich um Geschlechtsvarianz handelt, also darum, dass ein Bub beispielsweise Mädchenkleider tragen will, sich aber trotzdem als Bub sieht.
Entscheidend sei der Leidensdruck des Kindes. Und wie stabil der Wunsch über die Zeit ist. «Am Ende aber», sagt sie, «gibt es keine absolute Sicherheit. Man muss mit dem Kind mitgehen, aufmerksam sein, in Kontakt. Ihm helfen, seine Vorlieben auszuleben.» Es gebe Kinder, die lange ihren Weg suchen. Und dann gäbe es solche, die schon mit drei Jahren ganz klar wissen, dass sie in einem für sie nicht passenden Körper geboren wurden. So ein Kind ist Fynn.
Fynn war 3.5 Jahre alt, wir hatten einen Termin beim Augenarzt und mussten eine halbe Stunde warten, und der Arzt meinte, gehen Sie doch einkaufen, um die Ecke. Wir standen dann in diesem Laden, links die Mädchenkleider, rechts die für Jungs, und er lief ohne Zögern nach rechts. Ich sagte: Was machst du dort, hier bei den Mädchen musst du schauen, und er antwortete ganz unberührt: Nein, warum? Ich bin ein Bub. Ein paar Minuten später kam ein gleichaltriger Junge in die Abteilung, sah ihn an und meinte: Du bist hier falsch. Da hat sich Fynn auf den Boden geworfen und ganz lange geweint. So sehr geweint und geschrien: Warum seht ihr denn alle nicht, dass ich ein Bub bin? Da wusste ich: Jetzt muss ich etwas tun, sagt die Mutter.
Fynn ist an diesem Tag im März noch in der Schule, als ich die Eltern zum Gespräch treffe, in einem schönen, grossen Haus auf dem Land, ein paar hundert Einwohner, hier wisse wohl jeder, was mit dem Kind sei, sagt die Mutter, doch die Diskriminierung, die sie von anderen Familien höre, die habe sie zum Glück bisher nicht am eigenen Leib erlebt. «Wir haben unglaubliches Glück, wenn ich höre, was andere Familien durchmachen müssen», sagt sie, ein anderes Mädchen, im Körper eines Jungen geboren, hat eine Angststörung entwickelt.
Nein, dieses Dorf schenke Zuversicht und Halt, die Lehrerin habe einfühlsam reagiert, für nächstes Jahr, wenn die Kinder das erste Mal gemeinsam duschen müssen, sei man bereits im Gespräch. Vielleicht bekommt Fynn dann eine Einzelkabine, vielleicht klärt man die Klasse auf, je nachdem.
Die Eltern haben von Beginn an sehr offen kommuniziert, stehen voll hinter der Entscheidung ihres Sohns. Dass sie in diesem Text anonym bleiben wollen, hat weniger mit ihnen zu tun. Sondern mehr damit, dass sie nicht wollen, dass Fynn in ein paar Jahren seinen Vor- und Nachnamen googelt und als Erstes ein Artikel aufscheint, der sich um sein Geschlecht dreht.
Es werde, sagen sie, schon schwierig genug. Eine mögliche Geschlechtsangleichung. Hormone. Operationen. Die Gefahr, ausgegrenzt zu werden. Und die eigene Unsicherheit, immer wieder, weil sie sich daran orientieren müssen, was das Kind will.
Auf eine subjektive Meinung, am Ende. Und da auch immer irgendwo die Angst bleibt, dass sie zu früh handeln. Oder zu spät. Dagmar Pauli rät hier: einen Schritt nach dem anderen. Es sei ja ein Wandel, ein Prozess, nichts in Stein gemeisselt. Und das solle man dem Kind auch mitgeben. Du darfst sein, wer du bist, und wenn du dich irgendwann wieder umentscheidest, ist das auch okay.
Im Hausflur hängen noch immer Fotos von Fynn als Mädchen, zusammen mit seinen Geschwistern, allein, mit der Familie, ein Kind mit goldenen, langen Löckchen. «Ich müsste sie irgendwann abhängen», sagt die Mutter, doch sie könne noch nicht. Das brauche alles Zeit. Doch sie sehe, wie es Fynn besser gehe, wie unbeschwert er ist, wie glücklich. Bald werden sie auf dem Amt die Papiere ändern lassen, den Namen, das Geschlecht. Eins nach dem anderen. (aargauerzeitung.ch)
Ein Grossteil dieser geschlechtlichen Dislozierung, entspringt unserem Gesellschaftlichen aufzwingen von Rollenbildern. Wir Predigen gern, dass wir im 21 Jahrhundert sind. Ein Mann der zu Hause bleibt und sich um die Familie kümmert und eine Frau die als Sanitärinstallateurin arbeitet, werden aber weiterhin als Alien angesehen. Das Gleiche gilt bei Hobbys und Interessen.
Wir müssen damit aufaufhörend allen die Freude am leben lassen.