Güzin, bevor wir zum gemütlichen Teil dieses
Gesprächs übergehen: In «Seitentriebe» verliebt sich ein Teenager in eine
Erwachsene und eine Beinah-60-Jährige ist sexsüchtig. Du bist nicht gerade
zimperlich mit deinen Ficktionen, oder?
Ich warte nur darauf, dass irgendwer pikiert
den Link zu MeToo herstellt und schreit: Erst feministisch tun und dann selber
im Film Kinder missbrauchen und lauter Nackte zeigen! In so vielen Filmen gibt
es ältere Männer, die mit blutjungen Frauen ins Bett gehen, und keinen kratzt
es. Nele, die Frau, die mit dem 16-Jährigen schläft, sagt, als sie zur Rede
gestellt wird: «Für euch Männer gibt es Bordelle, lustige Stripclubs und eine
ganze Sexindustrie, unser Sex ist gleich Hochverrat.»
Da hat sie recht.
Bei der Sexualität von Frauen
wird die Moral immer mitverhandelt, so auch bei der älteren Frauenfigur in der
Serie: Eine Frau in einem Film, die Sex mit vielen Männern hat, wird pathologisiert
und muss am Ende durch Liebe erlöst werden. Bei mir passiert das Gegenteil:
Eine Frau sucht Sex und findet Sex, denn Liebe hat sie bereits zu Hause. Sunnyi
Melles, die die Rolle spielt, hat sofort verstanden, was die Sprengkraft dieser
Figur ist.
Sehr schön, gehen wir zu was ganz Anderem: Wir haben unsere Kindheit mehr oder weniger
gleichzeitig im aargauischen Fricktal verbracht. Ich in einem kleinen Dorf, du
in der – vom Dorf aus gesehen – megamondänen Kleinstadt Laufenburg, deren eine
Hälfte auf schweizerischem, die andere auf deutschem Boden ist. Ich erinnere
mich an: langweilige, aber liebliche Hügel, Kirschen, Kirsch und die
Feldschlösschen-Brauerei in Rheinfelden. Und du?
Meine sind: Die Nähe zu Deutschland, die
liebte ich sehr, ich hatte viele Freunde im deutschen Stadtteil, Leute mit
italienischen, türkischen, jugoslawischen Eltern. Im Sommer konnten wir uns
zwischen der schweizerischen und der deutschen Badi entscheiden, das war schön.
Andere Erinnerungen sind die Fasnacht, die beide Städtchen gemeinsam feierten,
der starke Katholizismus, das Spital, mit den Benediktinerinnen, die dort als
Krankenschwestern arbeiteten. Und eine sehr harte, militärische Schulerziehung.
Gab es in Laufenburg ein Kino?
Irgendwie musst du ja schon in relativ jungen Jahren «zum Film» gekommen sein.
In Laufenburg nicht, aber in Frick. Als
Kind ging ich ein einziges Mal ins Kino. An den Film erinnere ich mich nicht
mehr, aber ich war sooo begeistert von der Atmosphäre, von dieser
Menschenmasse, alle schauen verzückt auf die Leinwand – ich staunte die
Zuschauer an und dachte: Das ist so schön! Mein nächstes Kinoerlebnis war «Pink
Floyd: The Wall». Bob Geldof, der sich die Augenbrauen rasiert, machte mir
totale Angst. Und trotzdem wusste ich: Auch das ist also Film, diese
Verstörung.
Hast du damals auch dieses Magazin,
den «Musenalp-Express» gekannt?
Oh natürlich! Selbstverständlich! Hallo?!
Man konnte all seine pubertären poetischen
Ergüsse einschicken und gelegentlich wurde einer gedruckt. Ich hab
eingeschickt. Erschienen ist allerdings nie etwas.
Von mir auch nicht, nie. Ich habe aber auch
nur zweimal etwas eingeschickt. Mehr hab ich mich gar nicht getraut neben den
Superpoeten, die mit mir zur Schule gingen. Das waren schwarz gekleidete
Menschen, die als Gesamtkunstwerk überzeugender waren als ich. Die traten auf
und man wusste: Ui, da kommt jetzt die geballte jugendlich-suizidale Weisheit. Ihre
Gedichte wurden veröffentlicht. Die gingen auch oft nachts auf den Schlossberg
und überlegten sich, wie es wäre runterzuspringen.
Warst du eher ein lustiger oder ein
melodramatischer Teenager?
Ich war megamelodramatisch! Ogott, was habe
ich gelitten! Alle konnten alles besser als ich. Neben den «Musenalp»-Freaks
gab es auch diejenigen, die bereits wussten, was sie werden wollten. Dass man
aus Film einen Beruf machen kann, davon hatte ich keine Ahnung. Und mein Berufsberater
sagte mir: «Mach bloss keine teure Ausbildung, du wirst eh heiraten. Wieso
willst du Literatur studieren? Du wirst nie so gut Deutsch können wie eine
gebürtige Schweizerin.» Damals redete man Mädchen gut zu, doch bitte höchstens eine mittelteure Ausbildung zu machen, etwa
eine Diplommittelschule, aber um Himmels Willen nicht die Gymnasien zu
überfluten.
Wo bist du schliesslich ins Gymi?
In Basel.
Wow. Da durfte ich nicht hin, es hiess, da
gäbe es zuviele Drogen. Ich durfte nur nach Muttenz.
Ein halbes Jahr lang musste ich über den Pass mit dem Postauto nach
Aarau in die Kantonsschule fahren. Zum Glück wurde mir im Postauto immer
schlecht, und ich kam grün an. Ich musste also «aus ärztlichen Gründen» nach
Basel, und das war wirklich geil.
Wieso will man eigentlich Regisseurin werden?
Von restlos allen schönen Kreativberufen, die ich mir vorstellen kann, ist dies
doch mit Abstand der anstrengendste.
Ein bisschen spinnen musst du schon. Du
befindest dich permanent in irgendwelchen Zwischenwelten, die aber immer durch
die Realität durchbrochen werden. Du kannst ja nicht einfach dasitzen und dir
Gott weiss was vorstellen. Es wird nicht so sein, die Gegebenheiten vor Ort
werden andere sein. Du hast mit so vielen Bereichen zu tun, und die einzige,
die das in ihrem Kopf zu einer Vision zusammenbringt, bist du.
Du bist sehr erfolgreich. Als Kolumnistin, Drehbuchautorin
und Regisseurin. Was sind die Vorurteile, denen du begegnest? Dass du dich
hochschläfst?
Das wird jeder Frau irgendwann unterstellt.
Bei mir heisst es immer: Dir wird so viel geschenkt, du musst dich gar nicht
anstrengen. Dann sag ich: Ja, das stimmt! Mir werden tatsächlich viele Gelegenheiten
geboten. Nur erwähne ich nicht, wie viel Arbeit es bedeutet, sich in etwas
hineinzuknien und Dinge zu tun, von denen man zuvor keine Ahnung hatte. Ich mag
es, wenn an meinen Arbeiten kein Schweissgeruch klebt, wenn sie wirken, als
wären sie zufällig und spontan entstanden. Und zum Hochschlafen war ich leider
zu blöd. Ich hätte nicht den Mächtigsten, sondern den Hübschesten ausgesucht,
der garantiert Hausmeister oder sowas gewesen wäre.
Was bedeutet dir Fernsehen?
Viel! Ich bin ein totales Fernsehkind, ich
habe auch nie verstanden, wieso mich das verderben soll, alles andere verdirbt
einen doch viel mehr. In der Schule hiess es immer: Bücher lesen ist toll, TV
schauen ist Schund. Dabei gibt es doch viel mehr schlechte Bücher als schechte
TV-Sendungen! Mir war nie klar, wie das Fernsehen zu seinem Image gekommen ist.
Die letzten zehn Jahre aber hab ich das Fernsehen nicht so genau verfolgt, da
war ich auch auf dem Serientripp und fand, dass es viel zu viele TV-Sender
gibt, die Sparten bedienen, die allesamt nicht meine sind. Aber jetzt, wo die
grossen Sender selbst Serien produzieren und damit in mein Bewusstsein
zurückkommen, finde ich Fernsehen wieder sehr spannend.
Ich habe in einer deiner Kolumen, die du als
türkischer Callcenter-Agent Hüsnü verfasst hast, den wunderbaren Satz gelesen:
«So ist der Fernseh. Dort gibt es ganze Welt im klein. Und ganze Angst im
gross.» Erstens: Was genau heisst das? Zweitens: Würde sowas auch Güzin Kar
sagen?
Das
ist ja typisch Hüsnü, dass er comicartig alles in einem Bild zusammenzurrt. Ich
würde es wahrscheinlich anders sagen. Es heisst ja immer ganz platt: Das Fernsehen
ist ein Fenster zur Welt. Das stimmt. Vielleicht ist dir ja eine Zeitung zu
wenig, du brauchst die Vermittlung über Ton und Bild. Und dann bist du Teil
einer Gemeinschaft. Von etwas Fixem, Ritualisiertem. Das gibt dir Sicherheit. Bei
serien ist das ja noch krasser. Doch in jeder Sicherheit schwingt auch die Angst
mit: Das könnte morgen schon vergessen sein! Wir könnten unsere Welt verlieren!
Wir gehen von der Selbstverständlichkeit aus, dass wir abends einschlafen und
unsere Welt am Morgen noch die Gleiche ist.
Und wo würdest du jetzt auf der
Welt-Angst-Skala deine erste TV-Serie «Seitentriebe» verorten?
Irgendwann sagt Gianni, eine meiner
Hauptfiguren: Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt, wir haben alle
Freiheiten und wir wissen nicht, was wir damit sollen. Die Figuren sind von
ihren eigenen Möglichkeiten übersättigt. Es ist die Angst vor dem ungelebten
Leben.
Das klingt schwer nach Midlife-Krise.
Ich kenn unendlich viele Menschen, die sich
als zweigeteilt wahrnehmen: Einerseits sind sie die Person, als die sie sich im
Alltag geben, mit ihren Jobs, Projekten, Freundschaften und Beziehungen. Andererseits
stellen sie sich eine perfektere Version von sich selbst vor, die irgendwann
eintreten könnte. Wenn was genau passiert? Das kann keiner sagen. Irgendwann
bist du 90, schaust auf dein Leben zurück und denkst dir: Eigentlich wäre ich
eine andere. Eigentlich wäre ich 20 Kilo dünner. Und wenn ich 20 Kilo dünner
wäre, wäre ich glücklicher. Man verschiebt das eigene Glücksempfinden auf
dieses andere Leben, das als Schatten mitläuft und gar nie stattfindet. Damit
spielt «Seitentriebe».
Du hast Drehbuch geschrieben und Regie
geführt. Wie oft sind die beiden Jobs einander in die Quere gekommen, und wie
oft dachtest du: «Geiles Buch!»?
Selten! Es geschah schon öfter, dass ich
dachte: Welche Idiotin hat denn das geschrieben! Aber ich wusste: Ich hatte
meine Gründe dafür, ich muss mir jetzt einfach vertrauen.
Eine blöde Zeitung schrieb mal über dich: «Aus
der Ferne betrachtet, scheint Kar die klassische
Pfeffer-im-Arsch-und-Pferde-stehlen-Typ Frau.»
Und was bin ich dann aus der Nähe
betrachtet? Ich habe Angst vor Pferden. Pfeffer dagegen mag ich sehr. Aber
lieber im Essen.
Güzin Kar wechselt sich mit Gabriel Vetter in der Samstagskolumne im Kulturteil des «Tages-Anzeigers» ab. Ihre Hüsnü-Kolumne in der «Basellandschaftlichen Zeitung» ging im vergangenen Dezember zu Ende. 2014 erschien der Band «Hüsnü, hilf!»