Mal angenommen, du kämest gerade vom Arzt und hättest eine unangenehme Diagnose bekommen. Einen Streit wegen einer Kleinigkeit mit der eigenen Mutter gehabt oder ganz einfach einen unterdurchschnittlichen Tag auf der Arbeit. Wen würdest du anrufen, um Dampf abzulassen? Wem würdest du auf WhatsApp als Erstes schreiben?
Vermutlich einer Person, die dir nahe steht, aber:
Auf ebendiese Fragen bin ich kürzlich gekommen, als mir auffiel, wie unterschiedlich ich im vergangenen Jahr sowohl meine eigenen Freundschaften als auch das Verhalten meiner Freundinnen und Freunde bewertet hatte. Mehr unbewusst als bewusst, sei dazu gesagt. Während mir sieben Tage Antwortzeit bei meiner Fernfreundschaft mit Sara als eine unendlich lange, nur unter besonderen Umständen (Trennung, Lungenembolie, kaputtes Handy) tolerierbare Zeit vorkam, duldete ich sie bei meinem Freund Jan beinahe automatisch. Von Sara hingegen verlangte ich mehr. Mehr Nachfragen, mehr wohlwollende Worte, mehr Trost.
Aber galt das nicht auch für Jan? Eigentlich schon. Nun belegt ein Beispiel leider noch lange keine These, also ging ich mein Telefonbuch durch und stellte mir dabei die immer gleiche Frage:
Relativ wenig.
Ich rief sie nicht an, wenn ich ein wichtiges Gespräch hinter mich brachte, ich zählte nicht selbstverständlich auf ihre Unterstützung bei Lesungen, wenn ich sie gebraucht hätte und überhaupt erschien es mir die meiste Zeit als eine Zumutung, über andere Themen zu sprechen als österreichische Innenpolitik, die neue Chefredaktion irgendeines Tagesblatts oder das bevorstehende Update meiner Website.
Ein paar Tage später treffe ich meinen Nachbarn im Treppenhaus und bitte ihn um einen nicht ganz uneigennützigen Spaziergang. «Ganz ehrlich», frage ich ihn. «Hast du das Gefühl, dass du wirklich für deine Freundinnen da bist?»
Mein Nachbar sagt:
Ich denke an meine männlichen Peers in Wien und dass ich sie bald wieder treffen werde. Nur selten war ich bisher beleidigt, wenn sie keine Zeit für mich hatten, oder sich am nächsten Tag doch nicht wie vereinbart meldeten. Woher kommen diese unterirdisch geringen emotionalen Ansprüche an Menschen, die ich doch gerne um mich habe? Die ich wertschätze und mag?
Wollte ich nicht enttäuscht werden?
Arlie Hochschild, die US-amerikanische Professorin für Soziologie an der University of California in Berkeley, prägte Mitte der 1980er Jahre den Begriff «Emotional Labour». Sie beschäftigte sich unter anderem mit der Doppelbelastung von Frauen, die sowohl die Hausarbeit erledigen als auch Arbeitsverhältnisse von Flugassistentinnen oder Fahrscheinkontrolleuren aufrechterhalten. Frauen und Geringverdiener also, die dazu verpflichtet sind, sich um die Gefühle anderer zu kümmern, ohne für diese anstrengenden Jobs Anerkennung oder Geld zu bekommen.
Oft werden die kleinen Mühen nicht bemerkt, die das Zusammensein erträglich machen. Jene der Kollegin, die sich stets darum bemüht, eine nette Arbeitsatmosphäre aufrechtzuerhalten, in dem sie Geburtstage notiert, Geschenke besorgt und After-Drinks organisiert.
Friseurinnen, die das Lächeln gemeinsam mit dem Lippenstift auftragen. Emotionale Arbeit ist streng genommen das Management von Gefühlen – der eigenen oder jenen von jemand anderem – um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Einen Kunden zufriedenzustellen, zum Beispiel, oder einen Haushalt funktionieren zu lassen.
Frauen in der Schweiz leisten pro Woche im Durchschnitt 10 Stunden mehr unbezahlte Arbeit (vor allem Kochen und Putzen) als Männer.
Wenn das Konzept auf der Arbeit – und Zuhause – greift, lässt es sich dann vielleicht auch auf Freundschaften übertragen? Es scheint einleuchtend, dass die ständige emotionale Verfügbarkeit von Frauen auch im Privaten in diesen nachwirkt. Dass ein jahrelang im Umfeld beobachtetes Weg- und Zuschieben von Verantwortlichkeiten letztlich dazu führte, dass Männer in Freundschaften mit weniger belastenden Situationen konfrontiert werden.
Weil die Männer in der Kindheit die Chauffeure waren, die wortkarg vorm Spital warteten, aber nicht die, die am OP-Bett Händchen hielten, weil sie vor Nervosität im Umgang mit unbekannten Situationen lieber an der Ecke Kette rauchten.
Auch fern der klassischen Lohnarbeitssphäre wurde Emotional Labour seit 2015 in feministischen Kontexten diskutiert. Während sich Soziologinnen auf emotionale Arbeit in der Serviceindustrie konzentrierten, rüttelt die Autorin Jess Zimmermann in «The Toast» auf:
Auch Rose Hackman ist ratlos. Im Guardian-Artikel «Is emotional labour feminism’s next frontier» (2015) fragt sie, warum Emotional Labour immer noch grossteils an Frauen hängen bleibt:
Hackman diskutiert, ob es sich bei Emotional Labour neben Haushaltsführung und Kinderbetreuung nicht um eine zusätzliche Form unbezahlter Arbeit handeln würde.
Was Täuschung, Delegations(un)fähigkeiten und persönliche Anteilnahme mit dem Funktionieren einer Freundschaft zu tun haben? Eine ganze Menge. Trotzdem ist es schwierig, eine Grenze zwischen Emotional Labour und organisatorischer Arbeit, in Zuge derer man Emotionen verspürt, zu ziehen.
Wenn wir alles, was innerhalb von Beziehungen Arbeit verlangt und Emotionen produziert, als Emotional Labour bezeichnen und vergüten, wird der Begriff ad absurdum geführt und seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt.
Was nicht heisst, dass wir nicht darüber sprechen oder unsere männlichen Freunde von Trennungsgesprächen, postoperativen Betreuungspflichten abseits von Abholdiensten und der Anwesenheit auf unseren Geburtstagsfeiern verschonen sollten. Denn emotionale Arbeit hat auch unabhängig von ausgezahlten Franken einen wichtigen Wert.
So könnten wir zum Beispiel anfangen, offen und gemeinsam darüber zu diskutieren, was es bedeutet, Beziehungen im Spätkapitalismus aufrechtzuerhalten – monetär, zeitlich und emotional. Aussprechen, was wir uns wünschen.
Für kommenden Sonntag habe ich meinen Freund Tobi darum gebeten, sich nach einer kleinen Operation um mich zu kümmern.
«Kriegst Wunschkost ;) Geh dann am Samstag einkaufen», schrieb er zurück.