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Krimi um das berühmteste Pissoir der Welt: Indizien liegen in Zürich

Krimi um das berühmteste Pissoir der Welt – neue Indizien liegen im Kunsthaus Zürich

Hat Marcel Duchamp sein Urinal «The Fountain» von der Dadaistin Elsa von Freytag-Loringhoven geklaut? Die Künstlerin Barbara Visser zeigt ihre überraschenden Schlüsse in einer Ausstellung und Filminstallation.
12.02.2024, 19:4612.02.2024, 19:46
Daniele Muscionico / ch media
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Zuerst waren es nur Gerüchte, dann führte Beweis zu Beweis. Briefwechsel, Notizen, alles scheint dafür zu sprechen: Das anrüchigste Kunstwerk des 20. Jahrhunderts stammt nicht von dem, der das behauptet, dem Dada-Hohepriester Marcel Duchamp (1887-1968). «Fountain», jenes 1917 von anonym an die wichtigste Moderne-Ausstellung New Yorks eingesandte Urinal, hat eine Frau erfunden. Die Idee, ein Readymade, einen bestehenden Gegenstand, als Kunstwerk zu erklären, hatte die deutsche Dada-Baronesse Elsa von Freytag-Loringhoven (1874-1927).

Die Dada-Künstlerin Elsa von Freytag-Loringhoven (1874–1927) gilt als Urheberin des gemeinhin Marcel Duchamp zugeschriebenen «Fountain».
Bild: Association Marcel Duchamp/Pro Litteris

Seit zwanzig Jahren ungefähr teilt sich die Kunstwelt in der Frage der Urheberschaft auf in Elsa-Gläubige und in Duchamp-Verehrer. Wer recht haben könnte, ist jetzt klar. Im Kunsthaus ­Zürich liegt die Antwort in der filmischen Installation von Barbara Visser, «Alreadymade».

So präsentierte sich die Dada-Baronesse in ihren Briefen.
So präsentierte sich die Dada-Baronesse in ihren Briefen.Bild: Association Marcel Duchamp/Pro Litteris, Library of Congress

Wieso bekennt sich Duchamp erst so spät zu «seinem» Werk?

Bisher hielten die Duchamp-Jünger ihren Guru unfähig des würdelosen Diebstahls. Tatsache aber ist: Er hat die Autorenschaft erst 18 Jahre nach Entstehung des Werks für sich reklamiert; damals, als er begann, Editionen herzustellen und seine Kunst zu Geld zu machen. Naheliegend, den «Fountain», der als verschollen galt, seinem Sortiment zuzuschlagen, niemand erhob Anspruch darauf.

Die Verzögerung, mit der er ihn für sich beanspruchte, spielt seiner Gegenpartei in die Hände. Es sind die Elsa-Anhänger und ihre feministische Per­spektive: Im Schatten eines jeden berühmten Mannes, so könnte man sich denken, steht oft eine ungleich talentiertere Frau. Eine Künstlerin wie Elsa von Freytag-Loringhoven, die verrückte Dada-Baronesse. Schriftstellerin, Malerin, Bildhauerin und Performance-Künstlerin, bevor es den Begriff überhaupt gab, gebürtig im bürgerlichen Ostseebad Swinemünde als Elsa Hildegard Plötz.

«Halb Jesus, halb Shakespeare», die Performancekünstlerin Elsa von Freytag-Loringhoven.
«Halb Jesus, halb Shakespeare», die Performancekünstlerin Elsa von Freytag-Loringhoven.Bild: Library of Congress

James Joyce, mit dem sie freundschaftlich verbunden war, hat sie für ihre experimentelle Lyrik bewundert. Die Autorin Dunja Barnes verehrte sie, obwohl sie an ihrer Biografie scheiterte. Ein Zeitgenosse beschrieb ihre Wirkung als «Kombination von Jesus Christus und Shakespeare». Aus kunsthistorischer Sicht ist es heute berechtigt, ihr Werk in einem Zug mit Francis Picabia, Duchamp, Ezra Pound zu nennen.

Was macht die Torte auf dem Kopf einer Baronin?

Wem gehört nun der Nachruhm des «Fountain»? Des Rätsels Lösung ist da. Die niederländische Regisseurin und Konzeptkünstlerin Barbara Visser zeigt in der Dada-Stadt Zürich ihre aufschlussreich-mystifizierende Filmin­stallation «Alreadymade» zusammen mit den einzigen bekannten Stummfilmaufnahmen der Loringhoven. ­Visser hat sie gefunden und für die Nachwelt vor dem Vergessen bewahrt.

Vergessen kann sie damals keiner, der sie im New York der Jahre 1913-1924 trifft. Elsa von Freytag-Loringhoven ist eine zügellos-kreative Person. In der Öffentlichkeit trägt sie auf dem Kopf eine Torte, vor der Brust einen ­Vogelkäfig mit Insassen; ihr Tanz gleicht einem Orgasmus. Ihre zur Schau getragene Sinnlichkeit löst in Greenwich Village eine Debatte über weibliche Sexualität und männliche Kontrolle aus. Und ruft die Polizei auf den Plan. Als sie sich auf ihrem Hinterteil auf einem Spaziergang ein Fahrradlicht montiert, wird sie verhaftet.

Die Dada-Baronin scheint eine Gefahr für den Verkehr in jeder Hinsicht. Die amerikanische Publizistin Jane Heap, die 1918 deren erste Gedichte veröffentlichte - zeitgleich mit James Joyce «Ulysses» - urteilte: «Die Baroness ist die Einzige auf der Welt, die sich Dada kleidet, Dada liebt, Dada lebt.» Und doch: Am Ende ihres schillernden Lebens war die Künstlerin einsam, depressiv und körperlich am Ende. Elsa von Freytag-Loringhoven starb 53-jährig am 14. Dezember 1927 in ihrer Wohnung in Paris. Todesursache: ausströmendes Gas.

Weshalb erwähnt sie «ihre» Kloschüssel nie?

Nun also Barbara Visser. Was sie in Zürich erzählt, kann die feministische Lesart eines Werkdiebstahls nicht bestätigen. Nach ausgedehnter Archivarbeit und Gesprächen mit Nachfahren ist für sie klar. «Ja, der Geschichte von Dada ist ein Kapitel hinzuzufügen.» Die Leistungen von Loringhoven - und anderer Dadaistinnen - wurden bisher zu wenig wertgeschätzt. Dennoch: «Nein, ich denke nicht, dass der «Fountain» von Elsa von Freytag-Loringhoven stammt.» Visser schreibt ihn einer Gruppe von Künstlern zu, Duchamp mag dabei gewesen sein, oder auch nicht. Hätte ihn Loringhoven erfunden, hätte sie darüber gesprochen, geschrieben und sich das Werk, bildlich, an die Brust geheftet. Doch erwähnt hat sie den «Fountain» nie.

Macht das einen Unterschied? Die Legenden um die berühmteste Kloschüssel der Welt bringen eine verdiente Künstlerin in die Debatte. Das Urinal soll männliche Fantasien beflügeln. Elsa von Freitag-Loringhoven ist wieder lebendig, sie braucht diese Anschubhilfe nicht. (aargauerzeitung.ch)

«Alreadymade», Kunsthaus Zürich, bis 12. Mai. Der Film wird am 24.3. auf SRF ausgestrahlt.

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