Ende der 90er-Jahre leitete der Journalist des «Landboten» seinen Artikel zu einem Breakdance-Workshop folgendermassen ein: «Hip-Hop wird in der Öffentlichkeit mit Gewalt und Drogen in Verbindung gebracht. Machogehabe und sexistische Frauenbilder in den meist amerikanischen Musikvideos sowie rassistische und brutale Songtexte tragen nicht eben zum positiven Bild des Hip-Hop bei.»
In nur zwei Sätzen werden gleich vier tiefgreifende gesellschaftliche Probleme mit einem Musik-Genre in Verbindung gebracht: Gewalt, Drogen, Sexismus und Rassismus. Auf diese vier Themen fokussiert sich auch die Sonderausgabe des Schweizer Hip-Hop-Magazins «LYRICS» vom Dezember.
Im Verlaufe dieser Woche werden auf watson ausgewählte Beiträge aus der Sonderausgabe publiziert. Hier sollen vorab schon einmal die Probleme, mit der sich die Gesellschaft in Verbindung mit Hip-Hop konfrontiert sieht, beleuchtet werden.
Die Frage nach der Gewalt, besonders nach der Jugendgewalt, und dem Einfluss des Hip-Hops darauf ist ähnlich wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei – was war zuerst da? Die Periode 1995 bis 2005 ist im Schweizer Gedächtnis stark von Jugendgewalt geprägt. So beschrieb Rudolf Woodtli, damaliger Sprecher der Aargauer Kantonspolizei, die Zunahme von Jugendgewalt als «markant».
Laut der Statistik gab es aber zwei «Wellen» der Jugendgewalt in der Schweiz. Eine zwischen 1994 und 1999, die Zweite in der ersten Hälfte der 00er-Jahre. Und tatsächlich eroberten Anfang der 90er die ersten Hip-Hop-Songs aus den USA die Schweizer Hitparade. Doch lässt sich daraus wirklich eine Kausalität ableiten?
«Nein, dabei handelt es sich um eine Scheinkausalität», meint Allan Guggenbühl, Psychologe und Experte für Jugendgewalt. Über Musik würden Jugendliche dabei stets nur delinquentes Verhalten kanalisieren. Die Energie oder die Motivation zur Delinquenz ist aber bereits vorher vorhanden. «Damit ist Hip-Hop für mich keine Ursache für Gewalt», sagt Guggenbühl.
Zwar wurden von den Ghettos und Sozialwohnungs-Siedlungen aus den USA Modeerscheinungen wie das «Ausnehmen», das Ausrauben von anderen Jugendlichen, importiert, dies habe aber bereits in den 2000er-Jahren wieder stark abgenommen. «Dabei handelt es sich aber stets um eine Verkleidung von Provokation», so Guggenbühl. Gerichtet ist die Provokation an die Eltern-Generation.
Und warum werden die Rap-Texte immer gewaltverherrlichender und expliziter? «Weil es in der heutigen Zeit immer schwieriger wird, zu provozieren», sagt Guggenbühl. Die Gesellschaft öffnet sich und nimmt gewisse Elemente aus der Provokationserscheinung in sich auf.
Deshalb ist es auch kaum erstaunlich, dass sich Provokateure wie Kollegah den Kampf für Gleichberechtigung vornehmen und Kapital daraus schlagen, auf diesem Thema zu provozieren. Damit kapitalisieren sie den Provokationsdrang der Jugend.
Erst kürzlich wieder stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt sind rassistische, im Besonderen antisemitische, Rap-Texte. Im Zentrum steht hier besonders der Deutsch-Rap mit Protagonisten wie Haftbefehl, Kollegah, Farid Bang und anderen. Kann man hier von einem allgemeinen Antisemitismus-Problem in diesem Musik-Genre sprechen?
Erik Petry, Stellvertretender Leiter des Zentrums für Jüdische Studien in Basel, meint «Nein»: «Das Problem verallgemeinernd auf das ganze Genre anzuwenden, wird den wenigen sehr heiklen Problemfällen nicht gerecht.» Ausserdem stehe Musik stets in Wechselwirkung mit der Gesellschaft.
«Antisemitismus war nie etwas, dass aus Europa verschwunden ist», sagt Petry. Er kehre wellenartig wieder. «Zur Zeit befinden wir uns wieder in einer Phase des Aufschwungs von antisemitischen Ressentiments, die zunehmend auch mit dem Nahost-Konflikt und Israel verbunden sind.»
Die Musik und die Texte der Rapper halten der Gesellschaft damit einen Spiegel vor. Der Effekt ist, dass in der Gesellschaft eine Problemwahrnehmung und eine Diskussion stattfindet, was auch positive Effekte haben kann.
Problematisch bleibt jedoch die Verwischung der Grenzen zwischen Israelkritik und Antisemitismus, die nicht immer ganz klar sind. «So kann man grundsätzlich nur im Einzelfall entscheiden, ob ein Text antisemitische Vorurteile transportiert», sagt Petry.
Drogen und Musik waren schon vor der Hip-Hop-Kultur eng miteinander verflochten. Rock'n'Roll wird mit Heroin assoziiert, Techno-Musik mit Ecstasy und Hip-Hop eben mit Cannabis. Dabei stehen die beiden Bereiche in Wechselwirkung, die Musik beeinflusst den Konsum und der Konsum beeinflusst die Musik.
Dies bestätigt auch Urs Rohr, Bereichsleiter Familie & Freizeit bei der Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich: «Gewisse Subkulturen haben stets gewisse Drogen gepusht. Beim Hip-Hop sind das besonders Cannabis, Alkohol und Hustensaft.» Dabei stelle die Musik aber meist nur einen von vielen Faktoren dar. «Bestimmt hätten die Leute zum Beispiel auch ohne Bob Marley gekifft, nur vielleicht nicht ganz so viel», so Rohr.
Laut dem Präventionsexperten sei es zum Teil schon beängstigend, wie leichtfertig in Musikvideos Drogen verherrlicht werden. Neu wieder in Mode ist zum Beispiel opiathaltiger Hustensaft. «Doch auch die Annahme, man könne Cannabis oder Alkohol so leichtsinnig und exzessiv konsumieren, wie dies Hip-Hop-Interpreten in den Videos tun, ist gefährlich», sagt Rohr.
Die gute Nachricht ist jedoch: Der Drogenkonsum ist bei Schweizer Jugendlichen seit einigen Jahren rückläufig. «Den vorläufigen Peak haben wir Anfang der 2000er-Jahre erreicht, seitdem sind die Zahlen rückgängig», so Rohr. Und auch die Drogen selber haben sich verändert. Die 90er-Jahre wurden besonders von der offenen Heroin-Drogenszene am Letten in Zürich geprägt, heute stehen bei den Jugendlichen eher Cannabis und Party-Drogen im Vordergrund. Und natürlich, wie in den vergangenen Jahrhunderten schon, der Alkohol.
In den letzten zehn Jahren ist auch der Hustensaft besonders bei Jugendlichen wieder zur In-Droge geworden. Im Hustensaft sind die Opiate Codein und Dextromethorphan enthalten, die bei übermässigem Konsum zu einem Rauschzustand führen. In der Hip-Hop-Szene ist diese Droge unter «Lean» oder «Purple Drank» bekannt.
Doch auch hier hat sich die Gruppendynamik und besonders die Zugehörigkeit verändert: «Die unterschiedlichen Gruppen sind nicht mehr so scharf voneinander getrennt wie auch schon», sagt Rohr. Damit meint er, dass sich Jugendliche heute flexibler in mehreren Subkulturen gleichzeitig aufhalten. Sie nehmen dabei jene Elemente auf, die ihnen entsprechen und lassen andere aus. Dazu gehört vermehrt auch der Drogenkonsum.
Natürlich gäbe es immer noch die «Extremos», aber laut Rohr habe sich ihr Anteil verkleinert. Das Bild der Jugend werde verstärkt von ebenjenen «Normalos» geprägt.
Lasziv tanzende und leichtbekleidete Frauen sieht man in Hip-Hop-Musikvideos im Vergleich überdurchschnittlich oft. Auch was die erfolgreichen Interpreten angeht, kann man beim Hip-Hop von einer Männer-Domäne sprechen. Die Selbstinszenierung einer Nicki Minaj tut dann noch das Seinige dazu. Doch manche gehen auch andere Wege.
Die italo-deutschschweizer Rapperin KimBo befasst sich in ihren Texten häufig mit Selbstermächtigung und setzt sich auch proaktiv gegen Sexismus und Fremdenfeindlichkeit ein. So zum Beispiel beim Women's March im März in Zürich. Für sie ist Hip-Hop auch ein befreiendes Mittel: «Rap gibt Minderheiten und Unterdrückten eine Stimme. Mit unseren Lyrics können wir fremdbestimmte Stereotypen durchbrechen.»
Dass auch im Hip-Hop patriarchale Strukturen herrschen, lässt sich laut der Rapperin trotzdem nicht wegdiskutieren. «Das Problem ist aber gesamtgesellschaftlich», sagt KimBo zu watson. Deshalb ist es wichtig, die Männerdomäne Hip-Hop inklusiver zu gestalten. Denn sie beobachtet, dass die Sichtbarkeit von Vielfalt wiederum Vielfalt fördert. In ihrem Fall junge Mädchen, Frauen, queere Personen und Menschen mit multikulturellem Background.
Die traditionelle Rolle der «Ehrendame», die unter anderem von Nicki Minaj verbreitet wird, greift sie frontal an. Denn «Ehrendamen» geniessen den seltenen Königinnenstatus, während die anderen Frauen unwichtige Bitches bleiben. «Ich bin tief davon überzeugt, dass Frauen zusammenhalten und sich gegenseitig fördern sollen. Und bitte mit Spass, wie bei SXTN».
SXTN war ein Hip-Hop-Duo aus Berlin, bestehend aus den beiden Rapperinnen Juju und Nura. Diese machen immer wieder mit provokativen Tracks auf sich aufmerksam, gehen mittlerweile aber getrennte Wege. Mit Textzeilen wie «Realtalk von 'nem Mannsweib» oder «Du kannst gerne ma' bei mir abwaschen» gehen sie sexistische Stereotypen mit Witz an. So hat es auch KimBo am liebsten: «Im Studio mit meinen Ladies rumpöbeln macht Spass!» Dabei kommen dann Zeilen heraus wie bei ihrer Single «King Kong»: «Mini Eierstöck chillets».