Wir befinden uns im Fieber der digitalen Rastlosigkeit. Wach, angespannt, manchmal gar panisch, etwas zu verpassen. Voller FOMO, voller «fear of missing out». Diejenigen, die's ganz schlimm erwischt hat, spüren sogar ein ständiges Phantomvibrieren, selbst wenn ihr Smartphone ganz ruhig in irgendeiner Tasche schläft.
Die ganze Welt ist Sender und Empfänger. Irgendjemand ist immer am richtigen Ort. Ist dabei, wenn die Holzbrücke von Olten brennt. Oder wenn ein Mensch stirbt. Wir befinden uns in einer radikal horizontalen Neuorganisation der News-Vermittlung. Im Zeitalter der totalen Indiskretion.
Mediale Indiskretion war früher das Privileg der Paparazzi. Heute ist sie die natürlichste Regung von allen, die glauben, etwas Wichtiges oder jemanden Bedeutenden zu sehen. Am liebsten im Zustand einer Verletzung, einer Grenzüberschreitung – sei es ein Unglücksfall oder der Autoritätsverlust einer öffentlichen Person. Etwa den Schwächeanfall von Hillary Clinton während ihres Wahlkampfs 2016.
Ihr, liebe Userinnen und User, seid längst ein unverzichtbarer Pfeiler jener «redaktionellen Gesellschaft», in der wir uns alle befinden. Ein Medium – wie watson – ist heute im Idealfall ein Gemeinschaftsprojekt von aussen und innen, von euch und uns. Die «vierte Gewalt» der Medien war gestern, willkommen im Zeitalter der «fünften Gewalt», die der deutsche Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in seinem neuen Buch «Die grosse Gereiztheit – Wege aus der kollektiven Erregung» so bezeichnet:
Es liegt in der Natur der nicht institutionalisierten Fünften Gewalt, dass sie in sogenannten «Konnektiven» auftritt. Also nicht in Kollektiven, die sich aufgrund einer Abmachung zu einem gemeinsamen (oft politisch motivierten) Ziel verpflichten. Sie sind zufällige Blasenbildungen von Menschen, die sich aufgrund einer partikulären Regung für eine kurze Zeit online zu einem flüchtigen Konnektiv, einem digitalen Flashmob verbinden. Sie sind das eine Ende einer Kultur des Rückzugs in die viel gescholtenen Filterblasen.
Am andern Ende liegen wir, die Medien. Damit beschäftigt, Tag und Nacht höchst unzulängliche Einordnungsversuche einer in Milliarden von Bildern, Gerüchten und Informationspartikeln explodierten Wirklichkeit zu liefern. Wenn wir dabei nur auf Geschwindigkeit und nicht auch auf Genauigkeit setzen, ist die Gefahr gross, selbst Fake News zu reproduzieren. Denn sobald sich etwas im Internet befindet, bleibt es dort sehr lange hartnäckig liegen, selbst wenn es falsch ist.
Kommt dazu, dass jeder Artikel, und sei er noch so seriös, nur eine Annäherung an eine «Wahrheit» sein kann. Es sei denn, wir waren dabei, direkt, unbestechlich, als unsere erste, existenziell verlässliche Informationsquelle. Aber selbst dann sind wir nicht umfassend, selbst dann sind wir tendenziös. Denn alles, was wir publizieren, ist arrangiert und komponiert, «und blendet», so Pörksen, «eine gigantische, als irrelevant klassifizierte Restwelt aus.» Stimmt. Leider. Jeder Artikel ist ebenfalls nichts als eine weitere Bubble.
Pörksen betrachtet die schon fast monarchische Autorität vor-digitaler Medien, die ihren Lesern in einem «sanften Paternalismus» klar machten, dass es auch noch Welten ausserhalb ihrer Interessen gibt: Auch wenn man einen Wirtschaftsteil oder ein Feuilleton einer Zeitung nicht lesen mag, sieht man, dass sie existieren, flackern ihre Themen an einem vorbei.
Aber wie bringt man nun die beiden Blasenwelten der vierten und fünften Gewalt zusammen? Die etablierte Öffentlichkeit der Medien und die aktionistische, zwischen Moral und Mobbing schwankende Gegenöffentlichkeit der «vernetzten Vielen»?
Beide Seiten müssen lernen. Journalismus muss dialogisch und transparent werden, schlägt Pörksen vor, muss etwa Organisation und Wege der Wahrheitsfindung offen legen, zum Teil einer Geschichte machen. Muss die spontane Erregung seiner User verantwortungsvoll bändigen. Rücksichtnahme üben. Überlegen, wer womit unnötig verletzt werden könnte. Also ungefähr das, was wir hier schon seit vier Jahren versuchen.
Es ist ein kleinteiliger, ein steiniger, oft schmerzhafter Weg, er verlangt Beschäftigung – etwa mit gewissen User-Kommentaren – denen man sich nur zu gern mit dem alten Gestus der unberührbaren Wahrheitsverkünder entziehen würde. Aber Eitelkeiten gehören nicht mehr in die Welt einer redaktionellen Demokratie.
Pörksens Buch tut beiden Seiten gut und not. Weil es eine umsichtige Übersicht und ein Schlaglicht auf die grössten Aufmerksamkeits-Exzesse des letzten Jahrzehnts liefert. Man geht danach wieder etwas besonnener ans fiebrige Tagwerk der Informationsverarbeitung, ignoriert den heissen Dampf der Gerüchteküchen – uns überlegt ein paar Sekunden länger, ob der Tweet, den man grad rausjagen wollte, tatsächlich von Belang ist.
Bernahrd Pörksen: «Die grosse Gereiztheit – Wege aus der kollektiven Erregung». Hanser 2018, 256 Seiten, ca. 34 Franken.