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Die Tragödie hinter Argentiniens Netflix-Meisterwerk «Eternauta»

Eternauta 2025
Schnee, der auf Gartenpartys fällt. Mit tödlichen Folgen. Szene aus «Eternauta».Bild: netflix
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Die Familien-Tragödie hinter dem Netflix-Meisterwerk «El Eternauta»

Argentinien hat seine erste Alien-Serie. Sie beruht auf einem Comic mit grosser politischer Vergangenheit.
07.05.2025, 20:0108.05.2025, 12:46
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Als Héctor Oesterheld irgendwann im Jahr 1978 verschwindet, ist er 59 Jahre alt. Sein letzter Aufenthaltsort ist das sogenannte «Sheraton», eins von sechzig geheimen Haft-, Folter- und Vernichtungslagern in und um Buenos Aires, die zwischen 1975 und 1984 in Betrieb waren. Oesterhelds Leichnam wird nie gefunden. Die Überreste von drei seiner vier Töchter, die alle in anderen Lagern inhaftiert sind, ebenfalls nicht. Seine vierte Tochter wird erschossen. Die Oesterhelds gehören zu den gut 30'000 «Desaparecidos», den «Verschwundenen», die dem Staatsterror der argentinischen Militärdiktatur zum Opfer fielen.

Und doch hat Héctor Oesterheld überlebt. Als Comicautor. Von «Vida del Che» (1969), der Geschichte von Che Guevara. Und ganz besonders von «El Eternauta» (ab 1957), den es jetzt als sehr erfolgreiche Netflix-Serie zu sehen gibt. Der Start am 30. April war beinahe klandestin, kaum Werbung, kein Presseversand, nur wenige Fotos, rare Screening- und Interview-Möglichkeiten für US-amerikanische Journalisten – und bei diesen gab es derart viele Auflagen, dass es etwa dem Kritiker der «New York Times» fast unmöglich war, überhaupt darüber zu schreiben. Hatte dieser so unauffällig lancierte Start etwa seine politischen Gründe?

Denn «El Eternauta» gilt auch heute noch als ikonisches Werk für die linke Widerstandsbewegung in Argentinien. Während Corona liessen sich Menschen das Erkennungszeichen des Comics – ein Mann mit Taucherbrille schaut uns an – auf ihre Gesichtsmasken drucken.

Der Trailer zu «El Eternauta»

Der Mann auf den argentinischen Corona-Masken ist der Eternaut, ein Held ohne Superkräfte, ein ganz normaler Familienvater namens Juan Salvo. Geboren haben ihn Oesterheld und sein Illustrator Francisco Solano Lopez 1957, zwei Jahre, nachdem Oesterhelds Lieblingspräsident Péron ins Exil verbannt worden war. Bis 1959 veröffentlichten die beiden die «Eternauta»-Folgen in einem Wochenmagazin.

Die Geschichte spielt Ende der 50er-Jahre in Buenos Aires, wo im Sommer plötzlich tödlicher Schnee auf die Stadt fällt. Und Juan Salvo hat eine Mission: Er muss seine Familie und seine Freunde irgendwie lebend durch die Katastrophe bringen. In abenteuerlichen, selbstgebastelten Schutzanzügen nehmen sie den Kampf gegen den Schnee und alles andere, was vom Himmel fällt (es wird zunehmend abscheulich), auf. Und realisieren, dass Überlebende und die Regierung von einer nicht human(oid)en Macht vereinnahmt werden. Stabilität gibt es nur in der widerständigen Gemeinschaft. Und im Vertrauen aufeinander. Der Einzelne hat keine Chance.

Oesterheld
Héctor Oesterheld.Bild: wikipedia

Osterheld kam 1919 zur Welt, er war der Sohn eines Deutschen und einer Baskin, er studierte Geologie, begann eine Karriere als Kulturjournalist und wurde Kinderbuchautor, bevor er sich seiner eigentlichen Kunst, dem Erfinden erfolgreicher Fortsetzungs-Comics, widmete. Er, seine Frau und ihre vier Töchter gehörten zur Mittelklasse von Buenos Aires. Gefährlich wurde ihr Leben erst Ende der 60er-Jahre, da veröffentlichte Oesterheld seine Che-Guevara-Biografie. Die Kritiken waren vernichtend, es handle sich um «überholte revolutionäre Positionen», hiess es, der Nachrichtendienst der Armee stürmte den Verlag und vernichtete die Druckplatten.

In den 70er-Jahren engagierten sich Oesterhelds Töchter bei der linken Guerillaorganisation Montoneros, die für mehrere Anschläge, Entführungen und Morde verantwortlich war. Oesterheld, ganz hingebungsvoller Familienmensch, arbeitete für das Propagandablatt von Montoneros an einer Geschichte Argentiniens aus linker Perspektive. Die Redaktion wurde von der Geheimpolizei verwüstet, den Anwesenden wurde mit Hinrichtung gedroht. Daneben publizierte er in einem Comic-Magazin «El Eternauta II». Jetzt noch fantastischer, paranoider und politisch radikaler als früher.

Am 27. April 1977 wurde er verhaftet. Alle seine Töchter waren da bereits tot oder «verschwunden». Sie waren zwischen 19 und 25 Jahre alt. Nur die Mutter überlebte – und schloss sich den vielen Müttern von Buenos Aires an, die nach ihren verschollenen Kindern suchten. Sie war sich sicher, dass ihr Mann in «El Eternauta» die Verfolgung ihrer Familie prophetisch vorweggenommen hatte.

El Eternauta. (L to R) Andrea Pietra, Carla Peterson, Marcelo Subiotto in El Eternauta. Cr. Marcos Ludevid / Netflix ©2024
Noch nie waren Autos so absolut überlebenswichtig wie in dieser Serie.Bild: Marcos Ludevid / Netflix

Der argentinische Regisseur und Drehbuchautor Bruno Stagnaro (Sohn des Regisseurs Juan Bautista Stagnaro) hat nun Oesterhelds 50er-Jahre-Comic in die Gegenwart versetzt. In keine spezifische, der amtierende Präsident trägt keinen Namen, und Juan Salvo ist nicht mehr 30 wie im Comic, sondern fast 70 wie sein Darsteller Ricardo Darín, was erlaubt, ihn mit einer anderen Ära der argentinischen Geschichte kurzzuschliessen: Traumatische Szenen aus Salvos Einsatz im Falkland-Krieg flackern ins Jetzt hinein.

Der Rest wirkt enorm originalgetreu, die gezeichneten Vorlagen sind liebevoll und grausig detailliert nachgebildet worden, Buenos Aires als Schauplatz unter Schnee und Zerstörung ist spektakulär und der argentinische Superstar Ricardo Darín möglicherweise noch charismatischer als Pedro Pascal in «The Last of Us».

epa12063935 Actor Ricardo Darin poses during the pre-screening of the Argentinian series 'El Eternauta', in Buenos Aires, Argentina, 29 April 2025. The iconic Argentinian graphic novel &#039 ...
Der grandiose Ricardo Darín.Bild: keystone

Überhaupt scheint «The Last of Us» in Sachen Stimmung und Sorgfalt Stagnaros grosse Inspiration gewesen zu sein: Die erhabene Menschenfeindlichkeit post-apokalyptischer Landschaften, das unheimliche graduelle Entgleiten einer Welt, die unsere sein könnte, in etwas immer Fremderes, Fantastischeres. Die riesengrosse Menschlichkeit der Protagonistinnen und Protagonisten, die es leicht machen, eine leidenschaftliche Beziehung zu ihnen aufzubauen. Spannung und Schockmomente. Und natürlich das Suchen von Gefährten in der Gefahr, das Bilden von Banden, die zunehmend unerbittlich aufeinandertreffen.

El Eternauta
Plakat für «El Eternauta».Bild: Netflix

Nach «Hundert Jahre Einsamkeit» (Kolumbien) und «Senna» (Brasilien) ist «El Eternauta» das dritte grosse lateinamerikanische Serienprojekt von Netflix. 52 Millionen Dollar soll die Verfilmung des Romans von Gabriel García Márquez der kolumbianischen Wirtschaft beschert haben, 34 Millionen Dollar der Dreh von «El Eternauta» der argentinischen. Und kaum war klar, wie gross der Erfolg der Serie sein würde, verbreiteten Fans von Javier Milei Szenenbilder, in die sie den Slogan «Milei 2027» als Hintergrund-Graffiti hineinmontiert hatten. Milei verbreitete die Fake News begeistert weiter.

«El Eternauta» ist ein Meisterwerk der dystopischen Unterhaltung, etwas langsam zu Beginn, wenn der Figurenzeichnung enorm viel Zeit und Raum gegeben wird, doch danach sitzt man Folge für Folge völlig benommen da und kann kaum glauben, gerade sowas phänomenal Gutes zu sehen. Und man versteht, wieso Oesterhelds Fortsetzungsgeschichte von vielen als bedeutendster Comic der spanischsprachigen Welt betrachtet wird. Ein Wahnsinn.

«Eternauta» läuft auf Netflix. 6 Folgen. Eine 2. Staffel ist sicher.

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18 Kommentare
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goschi
07.05.2025 22:02registriert Januar 2014
die Hintergrundgeschichte ist mal heftig ... :-o

Merci für das zusammentragen, Hintergründe beleuchten und in Erinnerung rufen!

Und danke für das Review zu dieses spannenden Serie.
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