Die Flugbranche ist am Anschlag: überfüllte Flughäfen und annullierte Flüge dominieren die News. Eigentlich hat man sich gefreut, wieder in die Ferien zu können – beim Anblick der aktuellen Bilder aus Amsterdam, London und Co. aber vergeht einem die Lust aufs Reisen. Luftfahrt-Experte Andreas Wittmer ordnet die Lage im Interview mit watson ein und gibt einige Tipps, wie du das Chaos möglichst gut umgehst.
Herr Wittmer, was glauben Sie hat die Flugbranche falsch gemacht?
Andreas Wittmer: Grundsätzlich gibt es im Sommer immer ein Flugchaos in Europa, auch in den Jahren 2018 und 2019. Das liegt daran, dass es immer mehr Luftverkehr gibt, der Markt wächst und wächst. Die Infrastruktur und der Luftraum werden zu knapp. Dazu kommt, dass wir keine neuen Flughäfen und -pisten bauen und somit unsere Effizienz nicht steigern. Die logische Konsequenz davon ist, dass wir an die Grenzen unseres Systems stossen. Und dabei ist das Passagieraufkommen noch nicht wieder auf dem Vorkrisenniveau.
Woran liegt das?
Wegen der Coronakrise arbeiteten viele Angestellte der Flugbranche mit Kurzarbeitsverträgen. Ein Teil der Belegschaft hat gekündigt. Das hatte zur Folge, dass die übrig gebliebenen Mitarbeiter unter mehr Druck geraten – es gibt mehr zu tun und sie haben weniger Freizeit. Das führt wiederum zu weiteren Kündigungen, was die Situation weiter verschärft. So sieht die aktuelle Situation aus, bei der Luftfahrt, in der Gastronomie, aber auch in der Medizin.
Wie lange dauert es noch, bis wir wieder normal fliegen können?
Es handelt sich hier um ein globales Problem, welches nicht nur Europa betrifft. Die Luftfahrt weltweit hat Startschwierigkeiten – dies war jedoch voraussehbar. Die «International Air Transport Associacion» (IATA) ging immer davon aus, dass es etwa zwei Jahre dauern wird, das System wieder hochzufahren. Eine Studie der Universität St.Gallen kommt auf die gleiche Schätzung.
Zwei Jahre ab wann?
Wir haben jetzt das erste Jahr, nächstes Jahr wird es auch noch schwierig. Wir können uns darauf einstellen, dass sich die Lage bis 2024 wieder beruhigt – vorausgesetzt, Corona macht uns keinen Strich durch die Rechnung. Es braucht Zeit, ein globales Netzwerk wieder in Schuss zu bringen, weil es eben so komplex ist.
Wenn die Probleme vorhersehbar waren, was hätte man anders machen müssen?
Das ist schwierig zu beurteilen. Ich denke, im Januar konnte man das Ausmass des Problems noch nicht erkennen. Im März hingegen schon. Ein persönliches Beispiel: Wir wollten verreisen und beschlossen, den Januar und Februar noch abzuwarten, bevor wir buchen. Im März dachten wir dann: Doch, das klappt! Dann haben wir gebucht – die Preise hatten sich inzwischen verdoppelt.
Was hätte den Reiseveranstaltern auffallen müssen?
In einem Gespräch mit einem Reisebüro vor einigen Monaten erfuhr ich, dass sie regelrecht mit Buchungen überflutet werden. Auffällig ist zudem, dass die Reisedauer sich ändert: Statt wie sonst immer eine bis drei Wochen, wurden öfters Ferien für zwei bis fünf Wochen gebucht. Dies ist vielleicht damit zu erklären, dass man remote arbeiten kann.
Wie meinen Sie das?
Man kann eine Woche Ferien machen und anschliessend aus dem Ausland noch zwei Wochen im ‹Homeoffice› arbeiten. Dies haben viele Experten anders prognostiziert. Es hiess lange, es gäbe weniger Geschäftsreisen als noch vor Corona. Man ging davon aus, dass Zoom-Calls kurze Reisen mit dem Flugzeug überflüssig machen würden, was im reinen Geschäftsreiseverkehr auch so ist. Wir stellen aber jetzt auch fest: Es gibt sogar noch mehr Flugnachfrage! Es gibt ein neues Segment von Kunden, die fort fliegen, um von der Ferne aus remote zu arbeiten. Das hat man wohl unterschätzt. Als im März die Buchungswelle kam, hätte man realisieren müssen, dass man handeln muss. Hier sehe ich den Fehler.
Und dann, wie hätte man konkret handeln müssen?
Einerseits hätte die Branche sicherstellen müssen, dass man nicht noch mehr Personal verliert. Andererseits hätte man den Verkauf bremsen müssen. Man war zu optimistisch bei der Einschätzung seiner eigenen Kapazitäten und war froh, konnte man überhaupt etwas verkaufen.
Wie konnte es dazu kommen?
Stellen sie sich mal vor: Man war zwei Jahre lang am Boden zerstört und dann gehen auf einmal die Verkaufszahlen in die Höhe – da jubelt man! Dann freut man sich natürlich ausserordentlich und vergisst vielleicht: Können wir überhaupt mit so vielen Passagieren umgehen? Man hat mehr abgebissen als man herunterschlucken konnte.
Haben Sie ein Beispiel?
In meinem Flieger zurück von Singapur flogen sieben Personen nicht mit, weil es schlicht und einfach keinen Platz mehr hatte. Der Flug wurde überbucht. Jetzt hat die Swiss realisiert, dass sie zu viele Tickets verkauft hat und jetzt handeln muss. Sie sprechen, glaube ich, von zwei Prozent der Flüge des gesamten Sommerprogramms. Wenn man die Zahlen vergleicht, kommt die Schweiz im Gegensatz zu anderen Ländern aber noch glimpflich davon.
Betrifft die Krise demnach nicht nur Europa?
Nein, es ist ein globales Problem. Die Luftfahrt ist ein weltweites Netzwerk. Wenn die Swiss nach New York fliegt, will nur ein Teil der Passagiere an Board auch wirklich nach New York. Die anderen wollen nach New Orleans, Chicago, Boston oder sonst wo hin. Es braucht also eine Airline, welche die Passagiere weiter bis an ihr Ziel bringt. Das ist ein System von Abhängigkeiten, das macht die Situation so komplex.
Worin liegt die Schwierigkeit im Wiederaufbau?
Europa baut ihren Flugverkehr eher schnell wieder auf, ebenso die USA – da wir relativ lockere bis gar keine Reisebeschränkungen mehr haben. Anders sieht es jedoch in Japan aus. Ich hätte für eine Konferenz einreisen sollen, doch es geht nicht – ich musste absagen. Ich bin dreimal geimpft und hätte einen Test vorgelegt. Chinas Grenzen sind komplett geschlossen. Auch Singapur ist erst seit einigen Monaten richtig offen und Bali lässt auch erst seit Kurzem wieder Touristen einreisen.
Was heisst das konkret?
Es gibt viele Länder, in welchen der Luftverkehr stillsteht – damit sind die Anschlüsse nicht gewährleistet. Die Zusammenarbeit zwischen Japan und den USA funktioniert beispielsweise noch nicht reibungslos: Es kommen weniger japanische Touristen in die USA, das bedeutet, die USA kann auch nicht voll hochfahren, weil es noch zu wenige ankommende Passagiere gibt, die die Flugzeuge füllen. Damit wir in unter zwei Jahren wieder zur Normalität finden, müssten die Corona-Policies aneinander angeglichen werden.
Wie viel fehlt noch, bis es am Flughafen in Zürich aussieht wie in Amsterdam?
Ich denke, wir haben im Vergleich zu anderen europäischen Flughäfen ein kleines Problem und ich glaube nicht, dass wir Szenen in diesem Ausmass in Zürich erleben werden.
Wieso?
Der Flughafen Zürich ist relativ modern und verfügt über gut organisierte Prozesse. Die Infrastruktur funktioniert gut und es hat auch noch genügend Platz, wenn viele Menschen gleichzeitig fliegen möchten. Ich habe kürzlich in einem Gespräch mit einem Flughafenvertreter vernommen, dass zu Spitzenzeiten rund 20 Minuten bei der Security angestanden wird. In Amsterdam sind es momentan bis zu zwei Stunden.
Also haben Sie gar keine Bedenken?
Klar, das Check-In kann länger dauern und auch die Security wird etwas Zeit in Anspruch nehmen. Aber die Prozesse an sich funktionieren. Und ich sage sowieso immer allen, sie sollen in den Sommerferien eine Stunde mehr einplanen am Flughafen.
Müssen wir mit einer weiteren Welle Flugannullationen rechnen?
Jein. Ich denke, die Airlines haben nun Massnahmen ergriffen und diese kommuniziert. Aber ich könnte mir vorstellen, dass Luftraumnavigationsbehörden, wie beispielsweise Eurocontrol, überlastet sein werden. Eurocontrol ist so etwas wie Skyguide für die Schweiz, nur für Europa. Hier könnte es zu wenig Personal haben, woraufhin Flüge gestrichen werden müssten.
Kommt es vielleicht also noch schlimmer für die Passagiere dieses Jahr?
Ich gehe davon aus, dass es im Sommer zum Peak kommt. Man weiss aus der Statistik, dass der Flugverkehr im November bis Februar eine Flaute hat mit tendenziell weniger Nachfrage.
Halten Sie einen totalen Kollaps der Luftfahrt für ein mögliches Szenario?
Ich hoffe nicht! Ich glaube, einen kompletten Kollaps wird es nicht geben. Die Maschinen müssten einfach am Boden bleiben und dürften erst am nächsten Tag wieder fliegen. Ausser man würde vielleicht die Nachtfliegbedingungen lockern, dann hätte man einen Puffer für Verspätungen.
Wie meinen Sie das?
Der Flughafen schliesst ja um halb zwölf und öffnet erst um sechs Uhr wieder. Das ist in ganz Europa ähnlich – nachts wird nicht gestartet oder gelandet. Bevor es also zu einem Kollaps käme, hoffe ich, würde man diesen Puffer nutzen.
Was raten Sie den Passagieren, die diesen Sommer verreisen?
Machen Sie alles, was man online machen kann, bereits im Voraus. Das Check-In, der Gepäck-Tag, alles. Schauen Sie, dass Sie alle zur Einreise nötigen Dokumente dabei haben. Wenn man etwas vergisst und deshalb ein Formular ausfüllen muss am Check-In, müssen alle länger anstehen. Man muss sich unbedingt im Voraus über die Corona-Einreisebestimmungen informieren.
Wie sieht es aus, wenn man jetzt noch Ferien buchen möchte?
Man sollte sich gut überlegen, welche Airline man wählt und zu welcher Zeit der Flughafen wie ausgelastet ist. Wenn die grossen Airlines fliegen, ist er für gewöhnlich voll. Morgens um halb sieben bis acht Uhr, von zehn bis zwölf und so weiter sind Spitzenzeiten, zu denen die Infrastruktur stark ausgelastet ist. Um drei Uhr Nachmittags gibt es nur wenige Flüge – dann würde ich diesen den anderen vorziehen. Ebenfalls ist das Buchen in einem Reisebüro empfehlenswert: Falls man die Reise nicht antreten kann, ist man betreffend Rückerstattung noch besser abgesichert.
Was empfehlen Sie grundsätzlich allen Reisenden?
Ich bin immer früher am Flughafen, momentan würde ich empfehlen, zweieinhalb bis drei Stunden einzuplanen. Man kann noch etwas zu Mittag essen oder einen Kaffee trinken. Lieber ist man zu früh und entspannt als zu spät und im Stress. Damit helfen Sie mit, das Chaos möglichst gering zu halten und Wartezeiten für alle zu verringern.
Nur für die, die fliegen...
Wahrscheinlich wurden Verbindungen geplant, mit der Absicht, ein paar von denen wieder zu streichen, wenn sie schlecht gebucht werden. Da nun aber alles gut gebucht ist, haben sie ein Problem!