1987, am 70. Jahrestag der Revolution, erklärte der damalige Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, Josef Stalin habe «enorme Verbrechen begangen, die nicht zu verzeihen sind». «Heute wäre ein solches klares Statement undenkbar», schreibt Historiker Nikita Petrov in «Foreign Affairs». Er ist Direktor des Memorial Center for Research and Education in Moskau.
Als Gorbatschow seine Rede hielt, war Stalin in der russischen Bevölkerung unbeliebt. 1989 hielten ihn bloss zwölf Prozent der Russen und Russinnen für einen grossen Staatsmann. Heute tut dies fast die Hälfte. Von «enormen Verbrechen» ist nicht mehr die Rede. Im Gegenteil: Präsident Wladimir Putin sagt – wie Donald Trump nach den faschistischen Krawallen in Charlottesville –, es habe in der russischen Geschichte «tragische und brillante Ereignisse gegeben».
Heute wird Stalin geradezu gefeiert. «Jeden Frühling fahren Busse mit Stalin-Porträts durch die Strassen der russischen Städte», schreibt Petrov. «Sein Gesicht ersetzt Werbung für Smartphones, Softdrinks, Waschpulver und Katzenfutter.»
Zum Vergleich: Das ist etwa so, wie wenn in Deutschland Hitler-Festspiele organisiert würden. Stalin stand dem Führer in Sachen unsägliche Verbrechen in nichts nach: Rund zwölf Millionen Menschen liess er in Friedenszeiten ermorden, etwa fünf Millionen davon waren Bauern, die er mutwillig verhungern liess.
Wer war Josef Stalin? Stephen Kotin beschreibt ihn ebenfalls in «Foreign Affairs» als paranoiden Mann, der sich stets von Verrätern umgeben sah. «Triumph und Verrat waren bei ihm die Treiber der Revolution und seines Privatlebens», so Kotin.
Der Klassenkampf war für Stalin nie zu Ende, sondern ein permanenter Krieg. «Sozialismus brauchte deshalb die Gewalt der Massen und Täuschung», so Kotin. «Die schlimmsten Verbrechen wurden so zu moralisch notwendigen Taten, um das Paradies auf Erden zu verwirklichen.»
Die Bauern in der Ukraine waren die ersten Opfer dieser Maxime. Sie widersetzten sich der Kollektivierung der Landwirtschaft und wurden deswegen als Kulaken beschimpft, ein Ausdruck, der ursprünglich für Grossgrundbesitzer reserviert war.
Zudem war Stalin der aufkeimende ukrainische Nationalismus ein Dorn im Auge. In den Jahren 1932/33 setzte der Diktator zu seiner schrecklichen Rache an. Rund fünf Millionen Bauern – Männer, Frauen und Kinder –, liess er im so genannten Holodomor verhungern. Wie brutal seine Schergen dabei vorgingen, beschreibt die Historikerin Anne Applebaum in ihrem kürzlich erschienenen Buch «Red Famine».
«Weder Missernte noch schlechtes Wetter hat die Hungerkatastrophe in der Ukraine verursacht. (…) Das Verhungern war das Resultat einer gewaltsamen Verhinderung, dass diese Menschen Nahrung erhielten. (…) Stalin wollte den aktivsten und engagiertesten Teil der ukrainischen Bevölkerung eliminieren, auf dem Land und in den Städten», schreibt sie.
In den Jahren 1937/38 löschte Stalin im Rahmen des Grossen Terrors den grössten Teil der sowjetischen Intelligenz aus. «Alles in allem wurden innerhalb von 15 Monaten rund 700’000 Menschen erschossen», so Petrov.
Nach seinem Tod wurden Stalins Verbrechen zunächst von seinem Nachfolger Nikita Chruschtschow in einer geheimen Rede verurteilt. Später hielt Gorbatschow die erwähnte Rede. Heute jedoch werden seine Gräueltaten als Naturkatastrophen dargestellt. «Nur wenige Russen geben zu – und noch weniger sagen es auch öffentlich – dass die Massenunterdrückung von 1937/38 ein Verbrechen war, das von Stalin geplant war und gegen sein eigenes Volk ausgeführt wurde», so Petrov.
Der Stalin-Kult passt bestens ins moderne Russland. Wladimir Putin herrscht ebenfalls mit eiserner Faust im eigenen Land – ohne Grossen Terror allerdings. Aussenpolitisch schürt er Grossmachts-Träume, was bei der Bevölkerung sehr gut ankommt. Stalins schreckliche Vergangenheit wird unter den Tisch gewischt. Die Folgen beschreibt Petrov wie folgt: «Solange Russland seine dunkle Vergangenheit nicht anerkennt, wird es von Vorstellungen verfolgt werden, die längst hätten untergehen müssen.»