Schweiz
Abstimmungen 2023

Was der Abstimmungssonntag für die Schweizer Klimapolitik konkret bedeutet

Was der Abstimmungssonntag für die Schweizer Klimapolitik konkret bedeutet

Erleichterung da, Enttäuschung dort: Die SVP verliert den Nimbus als Klima-Vetomacht. SP und Grüne frohlocken. Und am Horizont dräut eine Debatte um neue AKW: Der Abstimmungssonntag entwickelt sich zur Prognose für die Klimapolitik.
19.06.2023, 05:4319.06.2023, 05:43
Benjamin Rosch, Chiara Stäheli / ch media
Mehr «Schweiz»

Um 12.30 Uhr brandet Jubel auf in der Dampfzentrale Bern. Dort haben sich all jene versammelt, die auf ein Ja zum Klimaschutzgesetz gehofft hatten: Unterstützerinnen und Unterstützer aus der SP und den Grünen, der Mitte, der GLP und der FDP, aber auch Klimajugendliche, Mitglieder von Umweltverbänden und die Initianten der Gletscherinitiative. Noch während Stunden lösen sie ihre Anspannung in einem schier endlosen Schwall Umarmungen. Parteiübergreifend fallen sich die Politikerinnen und Politiker in die Arme.

Befuerworterinnen der Vorlage zum Klimaschutz-Gesetz, welche an diesem Sonntag zur Eidgenoessischen Abstimmung kam, am Sonntag, 18. Juni 2023 in Bern. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)
Die zweijährige Anspannung löst sich: Das Ja zum Klimagesetz wird bejubelt.Bild: KEYSTONE

Es ist augenscheinlich: Es geht hier nicht nur um den Erfolg einer Abstimmungsvorlage, deren Ja letztlich immer vorausgesagt wurde. Was da von Hunderten Schultern fällt, ist eine zwei Jahre währende Enttäuschung nach dem Nein zum CO2-Gesetz. An ihre Stelle tritt Zuversicht und die Erkenntnis, dass Klimaschutz in der Schweiz mehrheitsfähig ist.

Am 13. Juni 2021 hatten fast 52 Prozent der Stimmbevölkerung Nein gesagt zu höheren Benzinpreisen; die Schweiz war gespalten in Stadt und Land, schwarz und weiss. Das Klimaschutzgesetz weicht die Grenzen von damals wieder auf: Oberlunkhofen im Aargau etwa, Malters im Kanton Luzern oder das Bündner Bergün leuchten am Sonntag grün auf – alle diese Dörfer hatten das CO2-Gesetz versenkt.

«Mit dem heutigen Ja löst sich eine Blockade», ist sich SP-Fraktionspräsident Roger Nordmann sicher, und Grünen-Nationalrat Bastien Girod pflichtet ihm bei: «Das wird einiges bewirken, nun kann die Arbeit beginnen.» Besonders unterstreicht er, dass auch die Wirtschaft sich zum Klimaziel Netto-Null bis 2050 bekannt hatte: «Mit dem Klimaschutzgesetz ist eine Allianz entstanden, die für die Zukunft hält.»

Für FDP-Ständerat Ruedi Noser hat der Sieg noch eine ganz andere Komponente: «Ich bin sehr froh, dass die Lügenkampagne der Gegner nicht funktioniert hat. Das war für die Schweiz ein Trump-Test.» Die Bevölkerung habe gemerkt, dass die Gegner in der Kampagne übertrieben hätten. Es seien zu viele Dinge gesagt worden, die gar nicht im Gesetz stehen.

Grabers Stimmung: Tristesse bei der Protestpartei

Zur selben Zeit blickt ein Kilometer weiter nördlich SVP-Kampagnenleiter Michael Graber unverwandt auf den Bildschirm mit den Abstimmungsresultaten. Als die ersten Trends eintreffen, ist es still im Saal; nur wenige Mitstreiter haben sich eingefunden. Aus der Fraktion sind es Mike Egger und Monika Rüegger, Parteipräsident Marco Chiesa liess sich aufgrund eines familiären Zwischenfalls entschuldigen.

Die Niederlage so deutlich zu sehen, sei schon nochmals «schlimmer», entfährt es Graber, später wird er sich zu «finaler» korrigieren. Zu diesem Zeitpunkt rechnen die Experten noch mit einem Ja-Anteil von vielleicht 55 Prozent. Aber jede ausgezählte Gemeinde schärft die Konturen eines SVP-Fiaskos. Gleichen die ersten Voten aus der SVP noch Durchhalteparolen, gibt es kurz vor 13 Uhr für Graber schliesslich nichts mehr zu beschönigen.

«Ich hatte mir mehr erhofft», sagt er freimütig, «offenbar haben unsere Argumente zu wenig überzeugt». Das gelte es zu akzeptieren.

«Grosse Fehler haben wir zwar keine gemacht, aber wir waren halt alleine.»

Rüegger und Egger stossen in das gleiche Horn. Zu abstrakt sei die Botschaft des Klimaschutzgesetzes gewesen, zu fern dessen Ziele, als dass man einen breiten Widerstand dagegen habe befeuern können. Unisono nehmen sie jene Kreise in die Pflicht, die sie nicht haben überzeugen können: Jetzt müssten FDP und Mitte zeigen, wie sie den Ausbau der benötigten Energie bewerkstelligen wollen. «Für uns steht fest: Es wird neue Kernkraftwerke brauchen», sagt Graber.

Die SVP auf Partnersuche in der Klimapolitik

Die Rückkehr der Atomkraft: Es scheint, als habe sich die SVP ihr nächstes Ziel in der Energiepolitik abgesteckt. Eine entsprechende Initiative aus rechtsfreisinnigen Kreisen dräut dazu bereits am Horizont: «Blackout stoppen» heisst sie. Für die SVP bedeutet die Debatte um Atomkraft die Chance, nicht mehr alleine für ihre Positionen kämpfen zu müssen. Erst kürzlich hatte schliesslich auch FDP-Präsident Thierry Burkart neue AKW für die Schweiz gefordert.

Überhaupt ist es der Ausbau der Energiequellen, über welche die nächsten Hader in der Klimapolitik führen dürften. Mit dem Mantelerlass Strom will das Parlament voraussichtlich in der Herbstsession ein umfassendes Paket zum Ausbau der Erneuerbaren verabschieden. Bereits beschlossen ist zudem der sogenannte Windexpress, ein Gesetz für den Zubau von Windrädern. Zu beiden Geschäften hat die SVP erst vor etwa drei Wochen eine geharnischte Medienmitteilung verfasst.

Die Natur werde zugepflastert, die Kraftwerke seien ineffizient, die Mitsprache der Bevölkerung werde beschnitten – es klang wie die Vorboten eines Referendums. Am Abstimmungssonntag ist davon aber nicht mehr viel zu spüren. Ein Referendum zum Windexpress komme für die SVP nicht infrage, war in der «Sonntags-Zeitung» zu lesen.

Und zum Ausbau der Erneuerbaren sagt Graber: «Der Mantelerlass Strom ist ein gutes Gesetz.» Zwar stösst er sich noch an einer Solarpflicht für grosse Parkflächen, aber noch liege die bereinigte Vorlage ja nicht vor. Fundamentaler Widerstand klingt anders – übt sich die Partei von Energieminister Albert Rösti plötzlich in Milde in der Klimapolitik?

Kaum. Stellvertretend für die Parteileitung lässt in der Elefantenrunde von SRF Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher keinen Zweifel daran, dass die SVP ihren eingeschlagenen Pfad weiterverfolgen wird. Man werde sehr genau hinschauen, sobald von Verboten die Rede sein wird, sagte die SVP-Vize.

Spannend wird auch zu beobachten sein, wie die Debatte um das revidierte CO2-Gesetz Fahrt aufnimmt. Einige der ursprünglichen Ziele des Bundesrats sind mit der Annahme des Klimaschutzgesetzes hinfällig geworden. Die Diskussion darüber ist im Moment im Ständerat aufgrund der umfassenden Stromdebatte blockiert.

Linke wittern Morgenluft

Und auf der Gegenseite? Speziell Linke und Grüne schöpfen Hoffnung aus dem klaren Ja zum Klimaschutzgesetz. Auch sie stehen mit einer eigenen Initiative am Start: Die Klimafondsinitiative verlangt, dass der Bund jährlich 0.5 bis 1 Prozent des Bruttoinlandprodukts zur Bewältigung der Klimakrise bereitstellt – also zwischen 3.5 und 7 Milliarden Franken.

Für Nordmann bedeutet das Ja zum Klimaschutzgesetz sogar so etwas wie die Wende. «Wir sehen, dass die Hilfe zur Investition der richtige Ansatz ist», sagt er. Die Logik des Verursacherprinzips, welche auch das gescheiterte CO2-Gesetz stark geprägt hat, wähnt er dagegen am Ende:

«Im Grundsatz würde es sowieso bedeuten, dass, wer Geld hat, weiterhin die Umwelt verschmutzen kann.»

Die grossen finanziellen Herausforderungen in der Klimapolitik müsse die Schweiz hingegen als Kollektiv meistern, ist Nordmann überzeugt.

Zwei Jahre nach der Schlappe an der Urne schliesst sich der Kreis: Im Herbst startet die Schweiz unter geänderten Vorzeichen der Klimapolitik in eine neue Legislatur.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
18 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
18
    Die Schweizer auf der letzten Reise der Empress of Ireland
    Am 29. Mai 1914 fand die RMS Empress of Ireland im eisigen Wasser des kanadischen Sankt-Lorenz-Stroms ein tragisches Ende. Dichter Nebel verschleierte die Sicht und führte zum fatalen Zusammenstoss mit dem norwegischen Kohlefrachter Storstad. Das Unglück forderte 1012 Leben. An Bord waren auch vier Schweizer, die sich auf dem Weg von Québec nach Liverpool befanden.

    Zwischen 1901 und 1921 wanderten drei Millionen Menschen in den Dominion of Canada aus. Die meisten von ihnen kamen aus Grossbritannien, den Vereinigten Staaten und Kontinentaleuropa. Die Zuwanderung führte zu einer drastischen Veränderung der kanadischen Städte: Die Bevölkerung von Toronto stieg um 150 Prozent und jene von Vancouver um 454 Prozent, während sich die Bevölkerung von Montreal verdoppelte und die Stadt Québec um über einen Drittel wuchs.

    Zur Story