Diese Grafik zeigt, warum der Bundesrat Trumps Zollhammer hätte erwarten können
Heute Morgen landete der Bundesratsjet mit Karin Keller-Sutter und Guy Parmelin an Bord in Bern-Belp. Die Bundespräsidentin und der Wirtschaftsminister sind retour aus Washington – mit leeren Koffern. Man fühlt sich erinnert an die Rückkehr des Bundespräsidenten 2009, Hans-Rudolf Merz, aus Libyen. Er war nach Tripolis gereist, um zwei Schweizer Geiseln heimzuholen. Und kam nur mit deren Gepäck zurück.
Diesmal wollte der Bundesrat die Schweiz aus der Geiselhaft von Donald Trump befreien. Doch die Bundespräsidentin bekam keinen Termin bei ihm, genauso wenig wie Merz damals ein Treffen mit Gaddafi. Deshalb ist gut eine Stunde vor der Landung des Bundesratsjets, um Punkt 6 Uhr, der Albtraum für die Schweizer Exportindustrie wahr geworden: Der 39-Prozent-Zoll trat in Kraft.
War die Reise in die USA ein Fehlschlag? Nein. Das Problem ist nicht, dass es am Mittwoch keinen Termin bei Trump gab. Das Problem ist ebenso wenig das Telefonat von Karin Keller-Sutter mit dem US-Präsidenten vom 31. Juli. Die in gewissen Medien gestreute These, die Schweizer Finanzministerin hätte in dem Gespräch alles verbockt und deshalb habe Trump 39-Prozent-Hammer ausgepackt, lässt sich nicht stützen.
Zwei fundamentale Fehleinschätzungen
Die Fehler sind viel früher passiert. Vor Wochen, Monaten – seit der Wahl Donald Trumps im November 2024. Verantwortlich dafür ist der Bundesrat ebenso wie die Schweizer Wirtschaftselite.
Sie haben die Gefahr unterschätzt, die von Trumps Handelspolitik ausgeht. Und deshalb den Zeitpunkt verpasst, proaktiv zu handeln und den faktischen Export-Stopp für die Schweiz abzuwenden. Und das, obwohl es um den grössten Absatzmarkt geht: Fast jeden fünften Exportfranken verdient die Schweiz in den USA.
Bundesrat und Wirtschaft unterlief eine doppelte Fehleinschätzung. Erstens: Man glaubte lange, Trump sei es mit den Zöllen gar nicht so ernst, sie seien nur ein Druckmittel für andere Ziele. Am Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar war diese These aus dem Umfeld des Bundesrats und wichtiger Wirtschaftsführer überall zu hören.
Das erwies sich als Irrtum, der vorhersehbar war. Im Wahlkampf 2024 hatte Trump klargemacht, dass er Strafzölle nicht nur als Druckmittel, sondern als politisches Ziel versteht. Er nannte «Tariffs» das schönste Wort überhaupt – auf einer Ebene mit «Love».
Zweitens: Man erkannte nicht, worum es Trump bei seiner Zoll-Obsession wirklich geht. Nämlich in allererster Linie um die Reduktion des Handelsbilanzdefizits. Ein solches ist für den US-Präsidenten eine Art «Diebstahl» an der amerikanischen Wirtschaft. Ein ökonomischer Irrwitz, aber im Kopf von Trump eine unverrückbare Tatsache.
Und was dieses Defizit betrifft, ist die kleine Schweiz eine ganz grosse Nummer. Das «Wall Street Journal» – eine Zeitung, auf die Trump etwas gibt – publizierte jüngst diese Grafik:
Sie zeigt, dass in den Monaten Januar bis Mai 2025 beim Warenhandel (also ohne Dienstleistungen) das Defizit auf astronomische 50 Milliarden US-Dollar angeschwollen ist. Das ist halb so viel wie das Defizit der USA gegenüber der Supermacht China. Nebst China weisen nur Mexiko, Irland und Vietnam noch grössere Exportüberschüsse gegenüber Amerika aus als die Schweiz.
Trumps simple Logik – und die komplexe Realität
Wie Trump, der Mann der grossen Zahlen, auf solche Informationen reagiert, kann niemanden überraschen. Ihn interessieren die dahinter liegenden Details nicht. Er ignoriert, dass ein grosser Teil des Defizits sich durch den Goldhandel erklärt, der über die Schweiz läuft, aber mit der Industrie wenig zu tun hat.
Beim Gold-Anteil des Defizits hat die Schweiz auch noch Pech: In einem normalen Jahr exportiert die Schweiz rund 4,5 Milliarden Dollar an Gold in die USA. 2024 waren es fast drei Mal so viel (!), und dieser Trend ging seit Trumps Wahl weiter. Die Schweiz ist einer der weltweit grössten Goldveredler: Sie importiert grosse Mengen des Edelmetalls, verarbeitet es und exportiert es weiter. Dadurch erscheinen die Handelsströme überproportional gross.
In einem kurzen Telefonat lassen sich Trump solche Fakten unmöglich vermitteln. Er unterscheidet nicht zwischen Goldbarren, Schokolade oder Maschinen. Aber hat die Schweizer Diplomatie in den letzten Monaten versucht, das Goldproblem in Washington zu adressieren und Lösungen zu suchen?
Himmelschreiende Ungerechtigkeiten
Es ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass Trump den Dienstleistungshandel ausblendet. Hier hat die Schweiz ein massives Defizit: Wir zahlen jährlich Abermilliarden an Lizenzgebühren an Google, Apple & Co. Berücksichtigt man diese, halbiert sich das gesamte Exportdefizit der Schweiz gegenüber den USA.
Doch das interessiert Trump nicht. Die Big-Tech-Konzerne sind ihm suspekt, sie stehen den Demokraten nahe. Seine Basis hingegen – viele Arbeiter in ehemaligen Industriestaaten, die ihm zur Wahl verhalfen – erwartet, dass Trump «ihre» Jobs schützt beziehungsweise zurückholt. Deshalb zielt er auf die Industrie.
Auch das war alles bekannt, aber weder Bundesrat noch Wirtschaftselite haben frühzeitig die Warnsignale erkannt. Man wähnte sich in falscher Sicherheit: Trump mag uns doch irgendwie. Und die Industriezölle haben wir ja unsererseits schon abgeschafft. Da wird schon nichts anbrennen!
In falscher Sicherheit gewähnt
Dieses Gefühl verdichtete sich nach dem Treffen von Keller-Sutter mit US-Finanzminister Scott Bessent Anfang Mai in Genf zur Gewissheit. Es verlief derart gut, dass sich die Schweizer Bundespräsidentin zur Aussage verstieg, ein 10-Prozent-Deal wäre nicht optimal: «Das Ziel muss sein, die Zölle ganz wegzubringen.» Im Nachhinein klingt das ziemlich hochmütig.
Warum haben Bundesrat, Diplomatie und Wirtschaftsverbände – im Wissen um Trumps Fixierung – nicht schon nach seiner Wiederwahl im November 2024 Vorschläge zur Reduktion des Handelsbilanzdefizites entworfen? Warum wurde keine Arbeitsgruppe eingesetzt, kein runder Tisch mit der Wirtschaft organisiert? Solche gabs schon bei geringeren Herausforderungen.
Beim Goldhandel wäre es mit genügend zeitlichem Vorlauf ziemlich sicher möglich gewesen, eine Lösung zu finden. Ebenso bei der Pharma, wo seit langem klar war, dass sie ins Visier von Trump geraten würde.
Die Kontakte zu Trump und seinem Umfeld waren aus seiner ersten Amtszeit vorhanden. Daran fehlte es nicht. Sondern am Blick für die politische Logik der Gegenseite. Und am Willen, Trump wirklich ernstzunehmen. (bzbasel.ch)