Die Schweiz hat in diesem Jahr mehrfach international ein Ausrufezeichen gesetzt. Der Bundesrat veranstaltete Mitte Juni eine Ukraine-Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock mit hochrangiger Beteiligung. Inhaltlich war das Ergebnis dürftig, auch weil die Ukrainer die Latte (zu) hoch gelegt hatten. Organisatorisch aber überzeugte die Schweiz.
Im Vormonat hatte die Schweiz bereits für Furore gesorgt in der Populärkultur – sonst nicht gerade eine Domäne, in der unser Land zu brillieren vermag. Am Eurovision Song Contest (ESC) im schwedischen Malmö siegte Nemo mit dem Song «The Code». Es war der erste Erfolg für die Schweiz in diesem weltweit beachteten Wettsingen seit 36 Jahren.
Und schliesslich war da die Fussball-Nationalmannschaft, die mit wenig Kredit an die Europameisterschaft in Deutschland gereist war und mit ihren erfrischenden Auftritten für Begeisterung sorgte. Zwar scheiterte sie im Viertelfinal wieder einmal im Penaltyschiessen, doch ihre mutige Spielweise brachte ihr auch global viel Respekt und Sympathie ein.
Die ganze Schweiz freute sich und war stolz. Die ganze? Nicht wirklich. Gerade jener Teil von Bevölkerung und Politik, der oft und mit Inbrunst behauptet, Patriotismus und Nationalstolz für sich gepachtet zu haben, tat und tut sich schwer mit allen drei Ereignissen.
Dabei reflektieren sie den Wandel der Zeit. Der Bundesrat hat erkannt, dass er die Neutralität einer komplexeren und instabileren Welt anpassen muss. Die bisherigen Geschlechter- und Rollenmodelle werden in verschiedenen Bereichen herausgefordert. Und ein Drittel der Schweizer Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund.
Das überfordert viele, die der «guten alten Zeit» nachtrauern. Sie erkennen, dass die Schweiz «woker» und vielfältiger wird, und reagieren darauf ablehnend. Es ist einer der Gründe für den hohen Wähleranteil der SVP. Sie beschwört bei jeder Gelegenheit die heile Älpler- und Bauernwelt, so letztes Jahr beim Wahlfest im Zürcher Hockeytempel.
Der Kontrast zu Nemo und zur Multikulti-Nati könnte kaum grösser sein. Ihre Erfolge sind eine Herausforderung für den Nationalstolz. Allerdings hat sich die Schweiz damit noch nie leichtgetan. Er ist kein «natürlicher» Zustand in einer Willensnation ohne einheitliche Sprache und Kultur. Ein weiteres Hindernis war der politische Kulturkampf.
Er entzweite liberale und überwiegend katholische Konservative in den ersten Jahrzehnten des Bundesstaats. Noch im Ersten Weltkrieg war die Schweiz tief gespalten. Mit der «geistigen Landesverteidigung» im Zweiten Weltkrieg entstand so etwas wie ein einigendes Nationalgefühl, doch der 1. August ist erst seit 30 Jahren ein landesweiter Feiertag.
Die «Idylle» war stets trügerisch, nun aber sind die Risse unübersehbar. Der historische Schweizer ESC-Triumph wurde aus der SVP von Anfang an skeptisch bis ablehnend kommentiert. Das lag nicht nur am paneuropäischen Charakter der Veranstaltung, sondern auch an der siegreichen Person Nemo, die ihre nichtbinäre Identität offensiv zelebriert.
Das triggert alle, die sich an das klassische Mann-Frau-Schema klammern. Zum Beispiel die Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU). Sie polemisiert gegen die Finanzierung des ESC in der Schweiz mit Steuergeldern. Allzu ernst darf man das nicht nehmen. Für die evangelikale Kleinpartei ist der ESC eine Chance, sich aus dem riesigen Schatten der SVP zu lösen.
Bei der SRG als Veranstalterin aber sorgt der politische Gegenwind für Nervenflattern. Sie hat Bern/Biel und Zürich, wo die Opposition von rechts lautstark ist, ausgebootet und sich auf Basel oder Genf als Host City festgelegt. In den beiden urban geprägten Kantonen ist die EDU irrelevant und auch sonst kein nennenswerter Widerstand erkennbar.
Die SRG hat gegenüber den favorisierten Zürchern offenbar eingeräumt, dass die angedrohten Referenden ein Faktor bei ihrer Entscheidung waren. Man kann es teilweise nachvollziehen. Es wäre eine Blamage ohnegleichen, wenn die reiche Schweiz den ESC nicht durchführen könnte. Und auch die SRG spürt den Druck von rechts, mit der Halbierungs-Initiative.
Einen Quotenhit landete sie dafür mit dem Exploit der Fussball-Nati, trotz aller Querelen um Sascha «Schreihals» Ruefer. Doch auch diese Begeisterung erfasste nicht das ganze Volk. Es gibt Politiker, die auf dem rechten Flügel agieren und sich in den sozialen Medien als grosse Fans der Nati outeten, etwa den Berner FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen.
Die SVP aber verhält sich defensiv. Der Berner Lars Guggisberg, Captain des FC Nationalrat, sagte gegenüber CH Media zum Migrationshintergrund vieler Nationalspieler: «Es geht darum, dass die Spieler mit Stolz das Schweizerkreuz auf der Brust tragen und auf dem Platz das Beste geben für ihr Land. Die Herkunft ist dabei sekundär.»
Der albanische Doppeladler hingegen gehe «gar nicht», meinte Guggisberg. In dieser Hinsicht hatten sich in der Vergangenheit Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri exponiert, beide mit familiärem Background im Kosovo. Gleichzeitig haben sie mehr Länderspiele absolviert als sonst jemand. Sie sind die vermutlich besten Schweizer Fussballer der Geschichte.
Einst waren Eingebürgerte wie Umberto Barberis und Raimondo Ponte «Exoten» in der Nati. Heute ist sie geprägt durch Secondos wie Xhaka und Shaqiri, Akanji und Embolo. Und von einem Trainer namens Murat Yakin. Im Fussball kommt die Multikulti-Realität so sichtbar und offensichtlich zum Ausdruck wie in kaum einem anderen gesellschaftlichen Bereich.
Man erinnert sich daran, wie die SVP gegen Menschen kosovarischer Herkunft polemisierte. Für das Inserat «Kosovaren schlitzen Schweizer auf» von 2011 wurden zwei Mitglieder der Geschäftsleitung wegen Rassendiskriminierung verurteilt. Nicht nur deswegen wäre eine solche Kampagne heute kaum noch vorstellbar.
Albanischstämmige Menschen sind nicht nur im Fussball zu Landsleuten geworden. Letztes Jahr wurde Ylfete Fanaj (SP) als erstes «kosovarisches» Mitglied in eine Kantonsregierung gewählt. Und das nicht im «linksversifften» Basel-Stadt oder Genf, sondern im bürgerlichen Luzern, in dem die Linke zuvor acht Jahre lang nicht mehr in der Regierung vertreten war.
Bei den nationalen Wahlen im Herbst schaffte es in Zürich Islam Alijaj (ebenfalls SP) in den Nationalrat, auch er mit Wurzeln im Kosovo. Die Akzeptanz von Secondos in der Politik mag im linken Milieu am grössten sein, aber der Wandel wird sich fortsetzen. Gleiches gilt für das dritte Geschlecht, das viele als Beispiel für «Woke-Wahnsinn» verdammen.
Die Schweiz mag häufig langsam sein, und bei der Offenheit gegenüber Menschen ausländischer Herkunft gibt es trotz Nati-Jubel Luft nach oben. Aber die Erfolge in diesem Jahr können für Leute mit wenig Sinn für Patriotismus Grund sein, etwas Nationalstolz zu empfinden. Und sei es nur, weil ausgerechnet die SVP mit so viel Wokeness Mühe hat.
Man hats doch eigentlich weit gebracht. Von der Gesellschaft innerhalb kürzester Zeit wahrgenommen und grösstenteils akzeptiert. Ich hätte mir das vor 10 Jahren noch nicht vorstellen können.
Aber für einige Gruppierungen, und damit meine ich die, die das Ganze politisch ins Unendliche instrumentalisieren wollen, gehört die Opferrolle zur Identität. Man will diskriminiert sein, sonst verliert die Bewegung seinen Sinn.