Schweiz
Analyse

Nemo und Shaqiri fordern den Schweizer Nationalstolz

Nemo und Xherdan Shaqiri stehen für eine Schweiz jenseits traditioneller Klischees.
Nemo und Xherdan Shaqiri stehen für eine Schweiz jenseits traditioneller Klischees.Bild: Watson/keystone
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Nemo und die Multikulti-Nati: Wie «woke» kann Nationalstolz sein?

Eine nichtbinäre Person gewinnt für die Schweiz den Eurovision Song Contest, die Secondo-Nati begeistert an der Fussball-EM. Sie verkörpern ein buntes, vielfältiges Land, was nicht alle freut.
01.08.2024, 05:05
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Die Schweiz hat in diesem Jahr mehrfach international ein Ausrufezeichen gesetzt. Der Bundesrat veranstaltete Mitte Juni eine Ukraine-Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock mit hochrangiger Beteiligung. Inhaltlich war das Ergebnis dürftig, auch weil die Ukrainer die Latte (zu) hoch gelegt hatten. Organisatorisch aber überzeugte die Schweiz.

Im Vormonat hatte die Schweiz bereits für Furore gesorgt in der Populärkultur – sonst nicht gerade eine Domäne, in der unser Land zu brillieren vermag. Am Eurovision Song Contest (ESC) im schwedischen Malmö siegte Nemo mit dem Song «The Code». Es war der erste Erfolg für die Schweiz in diesem weltweit beachteten Wettsingen seit 36 Jahren.

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Stolze Gastgeberin: Bundespräsidentin Viola Amherd mit Kamala Harris und Wolodymyr Selenskyj auf dem Bürgenstock.Bild: keystone

Und schliesslich war da die Fussball-Nationalmannschaft, die mit wenig Kredit an die Europameisterschaft in Deutschland gereist war und mit ihren erfrischenden Auftritten für Begeisterung sorgte. Zwar scheiterte sie im Viertelfinal wieder einmal im Penaltyschiessen, doch ihre mutige Spielweise brachte ihr auch global viel Respekt und Sympathie ein.

Der Wandel der Zeit

Die ganze Schweiz freute sich und war stolz. Die ganze? Nicht wirklich. Gerade jener Teil von Bevölkerung und Politik, der oft und mit Inbrunst behauptet, Patriotismus und Nationalstolz für sich gepachtet zu haben, tat und tut sich schwer mit allen drei Ereignissen.

Dabei reflektieren sie den Wandel der Zeit. Der Bundesrat hat erkannt, dass er die Neutralität einer komplexeren und instabileren Welt anpassen muss. Die bisherigen Geschlechter- und Rollenmodelle werden in verschiedenen Bereichen herausgefordert. Und ein Drittel der Schweizer Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund.

Die heile SVP-Welt

Das überfordert viele, die der «guten alten Zeit» nachtrauern. Sie erkennen, dass die Schweiz «woker» und vielfältiger wird, und reagieren darauf ablehnend. Es ist einer der Gründe für den hohen Wähleranteil der SVP. Sie beschwört bei jeder Gelegenheit die heile Älpler- und Bauernwelt, so letztes Jahr beim Wahlfest im Zürcher Hockeytempel.

Alt-Bundesrat Christoph Blocher, Mitte, und Nationalraetin Magdalena Martullo-Blocher, rechts, sprechen mit Moderator Roman Kilchsberger, links, am Wahlauftakt Anlass der SVP Schweiz in der Swiss Life ...
So liebt die SVP die Schweiz: Christoph Blocher und Tochter Magdalena am Wahlfest 2023 in der Swiss Life Arena. Bild: keystone

Der Kontrast zu Nemo und zur Multikulti-Nati könnte kaum grösser sein. Ihre Erfolge sind eine Herausforderung für den Nationalstolz. Allerdings hat sich die Schweiz damit noch nie leichtgetan. Er ist kein «natürlicher» Zustand in einer Willensnation ohne einheitliche Sprache und Kultur. Ein weiteres Hindernis war der politische Kulturkampf.

Eine trügerische Idylle

Er entzweite liberale und überwiegend katholische Konservative in den ersten Jahrzehnten des Bundesstaats. Noch im Ersten Weltkrieg war die Schweiz tief gespalten. Mit der «geistigen Landesverteidigung» im Zweiten Weltkrieg entstand so etwas wie ein einigendes Nationalgefühl, doch der 1. August ist erst seit 30 Jahren ein landesweiter Feiertag.

Die «Idylle» war stets trügerisch, nun aber sind die Risse unübersehbar. Der historische Schweizer ESC-Triumph wurde aus der SVP von Anfang an skeptisch bis ablehnend kommentiert. Das lag nicht nur am paneuropäischen Charakter der Veranstaltung, sondern auch an der siegreichen Person Nemo, die ihre nichtbinäre Identität offensiv zelebriert.

Evangelikale Polemik

Das triggert alle, die sich an das klassische Mann-Frau-Schema klammern. Zum Beispiel die Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU). Sie polemisiert gegen die Finanzierung des ESC in der Schweiz mit Steuergeldern. Allzu ernst darf man das nicht nehmen. Für die evangelikale Kleinpartei ist der ESC eine Chance, sich aus dem riesigen Schatten der SVP zu lösen.

Nemo performt den Siegersong des Eurovision Songcontests anlaesslich des Pride Festival auf der Landiwiese am Freitag, den 14. Juni 2024, in Zuerich. (KEYSTONE/Christian Merz)
Nemo beim Kurzauftritt an der Zurich Pride. Für manche ist dies eine doppelte Provokation.Bild: keystone

Bei der SRG als Veranstalterin aber sorgt der politische Gegenwind für Nervenflattern. Sie hat Bern/Biel und Zürich, wo die Opposition von rechts lautstark ist, ausgebootet und sich auf Basel oder Genf als Host City festgelegt. In den beiden urban geprägten Kantonen ist die EDU irrelevant und auch sonst kein nennenswerter Widerstand erkennbar.

Eine Blamage für die Schweiz

Die SRG hat gegenüber den favorisierten Zürchern offenbar eingeräumt, dass die angedrohten Referenden ein Faktor bei ihrer Entscheidung waren. Man kann es teilweise nachvollziehen. Es wäre eine Blamage ohnegleichen, wenn die reiche Schweiz den ESC nicht durchführen könnte. Und auch die SRG spürt den Druck von rechts, mit der Halbierungs-Initiative.

Einen Quotenhit landete sie dafür mit dem Exploit der Fussball-Nati, trotz aller Querelen um Sascha «Schreihals» Ruefer. Doch auch diese Begeisterung erfasste nicht das ganze Volk. Es gibt Politiker, die auf dem rechten Flügel agieren und sich in den sozialen Medien als grosse Fans der Nati outeten, etwa den Berner FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen.

Der ewige Doppeladler

Die SVP aber verhält sich defensiv. Der Berner Lars Guggisberg, Captain des FC Nationalrat, sagte gegenüber CH Media zum Migrationshintergrund vieler Nationalspieler: «Es geht darum, dass die Spieler mit Stolz das Schweizerkreuz auf der Brust tragen und auf dem Platz das Beste geben für ihr Land. Die Herkunft ist dabei sekundär.»

Switzerland's Xherdan Shaqiri, right, celebrates with teammate Granit Xhaka after scoring to 0:1 during the international friendly soccer match between Ireland and Switzerland at the Aviva Stadiu ...
Bessere Fussballer als Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri hat die Schweiz wohl nie gehabt.Bild: keystone

Der albanische Doppeladler hingegen gehe «gar nicht», meinte Guggisberg. In dieser Hinsicht hatten sich in der Vergangenheit Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri exponiert, beide mit familiärem Background im Kosovo. Gleichzeitig haben sie mehr Länderspiele absolviert als sonst jemand. Sie sind die vermutlich besten Schweizer Fussballer der Geschichte.

Fussball ist Multikulti

Einst waren Eingebürgerte wie Umberto Barberis und Raimondo Ponte «Exoten» in der Nati. Heute ist sie geprägt durch Secondos wie Xhaka und Shaqiri, Akanji und Embolo. Und von einem Trainer namens Murat Yakin. Im Fussball kommt die Multikulti-Realität so sichtbar und offensichtlich zum Ausdruck wie in kaum einem anderen gesellschaftlichen Bereich.

Man erinnert sich daran, wie die SVP gegen Menschen kosovarischer Herkunft polemisierte. Für das Inserat «Kosovaren schlitzen Schweizer auf» von 2011 wurden zwei Mitglieder der Geschäftsleitung wegen Rassendiskriminierung verurteilt. Nicht nur deswegen wäre eine solche Kampagne heute kaum noch vorstellbar.

Albanische Landsleute

Albanischstämmige Menschen sind nicht nur im Fussball zu Landsleuten geworden. Letztes Jahr wurde Ylfete Fanaj (SP) als erstes «kosovarisches» Mitglied in eine Kantonsregierung gewählt. Und das nicht im «linksversifften» Basel-Stadt oder Genf, sondern im bürgerlichen Luzern, in dem die Linke zuvor acht Jahre lang nicht mehr in der Regierung vertreten war.

Bei den nationalen Wahlen im Herbst schaffte es in Zürich Islam Alijaj (ebenfalls SP) in den Nationalrat, auch er mit Wurzeln im Kosovo. Die Akzeptanz von Secondos in der Politik mag im linken Milieu am grössten sein, aber der Wandel wird sich fortsetzen. Gleiches gilt für das dritte Geschlecht, das viele als Beispiel für «Woke-Wahnsinn» verdammen.

Die Schweiz mag häufig langsam sein, und bei der Offenheit gegenüber Menschen ausländischer Herkunft gibt es trotz Nati-Jubel Luft nach oben. Aber die Erfolge in diesem Jahr können für Leute mit wenig Sinn für Patriotismus Grund sein, etwas Nationalstolz zu empfinden. Und sei es nur, weil ausgerechnet die SVP mit so viel Wokeness Mühe hat.

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267 Kommentare
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Katerchen
01.08.2024 06:38registriert März 2023
Die Menschen in der Schweiz ächzen unter den massiv steigenden Krankenkassenprämien, Mieten und Hypothekarzinsen und die Inflation die ales verteuern. Viele Menschen finden diese Probleme wichtiger als zu debattieren ob man in öffentlichen Gebäuden eine dritte Toilette für eine kleine Minderheit einbauen soll.
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Philboe
01.08.2024 06:51registriert Juli 2015
Das Problem liegt nicht in einer Identitätskrise sondern darin das diejenigen welche am lautesten schreien auch den Fokus erhalten obwohl sie nur eine Bruchteil der Gesellschaft repräsentieren. Es liegt darin das man in die rechte Ecke gedrückt wird wenn man Tradition pflegt und Schweizer Kultur lebt. Daran das die Gesellschaft auseinander driftet und man für eine andere Meinung kritisch betrachtet wird statt den Dialog zu suchen für ein miteinander. Bestes Beispiel dieser Artikel. Wenn wir eine moderne Schweiz wollen ist ein miteinander statt gegeneinander wichtig.
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Fklroo
01.08.2024 08:26registriert November 2019
Die nichtbinär-Thematik ist langsam einfach sehr ermüdend.
Man hats doch eigentlich weit gebracht. Von der Gesellschaft innerhalb kürzester Zeit wahrgenommen und grösstenteils akzeptiert. Ich hätte mir das vor 10 Jahren noch nicht vorstellen können.
Aber für einige Gruppierungen, und damit meine ich die, die das Ganze politisch ins Unendliche instrumentalisieren wollen, gehört die Opferrolle zur Identität. Man will diskriminiert sein, sonst verliert die Bewegung seinen Sinn.
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