Kaum jemand kannte sich mit der schweizerischen Neutralität besser aus als der Basler Historiker Edgar Bonjour. Er verfasste eine mehrbändige Geschichte über den «nationalen Mythos von fast religiöser Weihe», wie er sie nicht ohne spöttischen Unterton bezeichnete. Das machte Bonjour vorab für Konservative zum Gralshüter der Neutralität.
Dabei beurteilte er sie im Alter differenzierter. Im Februar 1991, kurz vor seinem Tod, gab der 92-Jährige der «Basler Zeitung» ein Interview. Die Schweiz hatte die UNO-Sanktionen gegen Irak übernommen, die vom Sicherheitsrat wegen des von Diktator Saddam Hussein angeordneten Überfalles auf das Nachbarland Kuwait verhängt worden waren.
Dabei war die Schweiz (noch) nicht Mitglied der Vereinten Nationen. Sie hatte den Beitritt fünf Jahre zuvor in einer Volksabstimmung überaus deutlich abgelehnt, vor allem wegen der Neutralität. Trotzdem verteidigte Edgar Bonjour den Beschluss des Bundesrats. Den Kern der Neutralität bilde die militärische, «die wirtschaftliche verändert sich».
Eine Aussage wirkt aus heutiger Sicht visionär: «Da die Weltgeschichte in der Richtung einer sich intensivierenden Zusammenarbeit zu verlaufen scheint und ein allgemeines Sicherheitssystem anstrebt, können wir uns nicht mehr wie zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in absoluter Immobilität isolieren und in Igelstellung verharren», postulierte Bonjour.
Wirklich erfüllt hat sich die Vision nicht oder nur teilweise. Aber nachdem erneut ein grosses Land den Nachbarn überfallen hat, ist zumindest in Europa ein Bestreben zur intensiveren Zusammenarbeit auch und gerade im Sicherheitsbereich vorhanden. Und erneut hat sich die Schweiz bei den Wirtschaftssanktionen einer Allianz angeschlossen, der sie nicht angehört.
Edgar Bonjours «Kern» der militärischen Neutralität ist für die Schweiz auch im Fall des Ukraine-Kriegs eine Herausforderung, mit der sie mehr schlecht als recht klarkommt. Doch darum soll es nicht (schon wieder) gehen. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Sondern um die Diagnose des Historikers von «absoluter Immobilität» und «Igelstellung».
Sie beschränkt sich nicht auf den Zweiten Weltkrieg, sondern hat sich zu einer Art Dogma entwickelt. In der diesjährigen Ausgabe der Sicherheitsstudie der ETH-Militärakademie wird die Neutralität kritischer beurteilt als auch schon. Aber immer noch glauben mehr als 50 Prozent, sie schütze die Schweiz davor, in internationale Konflikte hineingezogen zu werden.
Die Neutralität als perfekter Schutzschild vor den Übeln dieser Welt. Diese Vorstellung lässt sich nicht so leicht aus den Köpfen vertreiben. Sie hat jedoch eine Kehrseite. In der Schweiz hat sich eine Sorglos-Mentalität nach dem Motto «S'chunnt scho guet» breitgemacht. In einer zunehmend vernetzten Welt aber wird sie zu einem Problem.
Die Zahl der Ransomware-Angriffe mit dem Ziel, durch Diebstahl oder Verschlüsselung von Daten Lösegeld zu erpressen, hat stark zugenommen. Im Frühjahr «erwischte» es unseren Mutterkonzern CH Media im Verbund mit der NZZ. Die Gründe dafür sind vielfältig, doch ein mangelndes Sensorium für die Gefahren im Internet spielt oft eine Rolle.
Florian Schütz, der Delegierte des Bundes für Cybersicherheit und künftige Direktor des neu geschaffenen Bundesamts, verortete die Schweiz in einem Interview mit dem Magazin «Computerworld» vom letzten Dezember im internationalen Vergleich «etwa im Mittelfeld». Sie sei «nicht zwingend schlechter als andere, aber auch nicht das leuchtende Vorbild».
Das gilt auch für den Staat, wie sich bald zeigte. Durch einen Angriff auf das Interlakener Unternehmen Xplain, das Aufträge für den Bund ausführt, gelangten hochsensible Daten ins Darknet. Was schiefgelaufen ist, muss abgeklärt werden. Vor Schuldzuweisungen sollte man sich hüten. Aber der Vorfall wirft ein schlechtes Licht auf die Cybersicherheit in der Schweiz.
Florian Schütz räumte in der «Schweiz am Wochenende» ein, der Vorfall habe das Vertrauen der Bevölkerung «sicherlich nicht gestärkt». Bei der Sicherheitskultur bestehe «noch Luft nach oben». Weniger nett formuliert, kann man dem Bund eine gewisse Blauäugigkeit vorwerfen. Und nicht nur ihm. Wir verhalten uns im Cyberspace oft sorglos und unbekümmert.
Unser Glaube an den Schutzschild, den uns die Neutralität verleiht, trieb immer wieder seltsame Blüten. Lange dachten wir, es gehe uns nichts an, wenn Regeln wie das Bankgeheimnis für kriminelle Machenschaften missbraucht werden. Hauptsache, unsere Gesetze werden eingehalten. Beschwerden aus dem Ausland nahmen wir zur Kenntnis.
Es ging bekanntlich nicht gut, denn besonders die USA dachten nicht daran, diesem Treiben zuzuschauen, weil wir «neutral» waren. Die Weigerung, die Weitergabe von Waffen an die Ukraine zu erlauben, erzürnt viele Länder. Wir werden verdächtigt, die Sanktionen gegen Russland ungenügend umzusetzen. Auch der Rohstoffhandel gerät zunehmend ins Visier.
Die (bürgerliche) Politik aber scheint nach wie vor zu glauben, wir könnten unser eigenes «Süppchen» kochen, wie unser löchriges Geldwäschereigesetz zeigt. Anwälte oder Treuhänder sind ihm nicht vollständig unterstellt, obwohl sogar Finanzminister Ueli Maurer (SVP) dies angemahnt hatte. Auch in diesem Fall irritiert die Sorglosigkeit.
Unser ungeklärtes Verhältnis zur Europäischen Union ist ein Kapitel für sich. Dabei geht es nicht nur darum, dass die Zahl der Bedenkenträger zunimmt, während immer mehr Bereiche auftauchen, in denen Handlungsbedarf besteht (Energie, Medikamente). Viele haben das Gefühl, wir könnten die Erosion der bilateralen Verträge mit anderen Ländern kompensieren.
Fragt sich nur, mit wem? Zu den wenigen Gemeinsamkeiten, die Demokraten und Republikaner in den USA noch besitzen, gehört die Skepsis gegenüber dem Freihandel. Der Lack beim einstigen Wunderland China blättert in mancher Hinsicht ab. Die Brexit-Briten könnten auch einiges über die Hindernisse beim Abschluss von Handelsverträgen erzählen.
Der Bundesrat aber spielt weiter auf Zeit und wird wohl erst Ende Jahr über ein neues Verhandlungsmandat entscheiden. Damit droht erneut eine lange Verzögerung, weil die heutige EU-Kommission nur noch bis Mitte nächsten Jahres im Amt ist. Die Neutralität spielt dabei keine zentrale Rolle, die damit verbundene Sorglosigkeit hingegen sehr wohl.
Man fragt sich immer wieder, ob die Schweiz ihre Lektion nur auf die harte Tour lernt. Wir sind nicht das kleine, harmlose Land, als das wir uns gerne sehen. In der heutigen Welt kommen wir mit «Immobilität» und «Igelstellung» nicht mehr einfach durch. Das hat «Neutralitätspapst» Edgar Bonjour schon vor mehr als 30 Jahren treffend erkannt.
Wir haben das viel zu wenig geschätzte Privileg, von Freunden «umzingelt» zu sein. Sonst würde sich der Mythos, die Neutralität schütze uns vor Bedrohungen, nicht so hartnäckig halten. Man muss nur Belgier, Luxemburger und Niederländer fragen, was ihnen die Neutralität in den beiden Weltkriegen genützt hat. Sie erlebten teilweise die Hölle auf Erden.
Danach war Schluss mit Naivität. Die Benelux-Länder zogen die Konsequenzen, sie wurden Gründungsmitglieder der NATO und der heutigen Europäischen Union. Uns blieb diese Erfahrung (zum Glück) erspart. Aber das sollte uns nicht daran hindern, klüger zu werden.
Sie (CH) sei «nicht zwingend schlechter als andere, aber auch nicht das leuchtende Vorbild».
Falsch.
Wir sind noch in der Steinzeit. Und das macht mir grosse Sorgen. Da war doch mal was, dass man wichtige Daten in eine chinesische Cloud auslagern wollte. Es sei das beste Angebot gewesen !
Das kann man getrost nur noch als dümmlich bezeichnen, ohne politisches Gespür und technisches Know How wursteln IT - Leute in Bern vor sich hin. Es ist schlicht gruselig, was momentan dort abgeht. Und jetzt also die Geschichte mit Xplain..
Das ist das einzige, was Blocher je interessiert hat, sein Einsatz für die Schweiz ist das Vorbild wie Trump es seit einigen Jahren auf amerikanisch den MAGA Jüngern erzählt.