Endlich ein Bier trinken, das am Tisch serviert wird. Oder ein Glas Wein, man ist ja flexibel. Das ist seit Montag möglich – in Grossbritannien. Nach monatelanger Schliessung durften die Pubs und Restaurants ihre Aussenbereiche öffnen. Und die Briten liessen sich nicht zweimal bitten. Selbst die Staatstrauer für Prinz Philip hielt sie nicht vom Feiern ab.
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Nun dürfen auch wir uns auf der Terrasse oder in der Gartenbeiz bedienen lassen. Und noch viel mehr: Der Bundesrat setzt ab nächstem Montag das Öffnungspaket in Kraft, das er im März präsentiert hat. Kinos, Theater, die Tribünen der Sportstadien, Fitnesscenter – alles darf den Betrieb aufnehmen, wenn auch mit erheblichen Einschränkungen.
«Der Bundesrat ist bereit, etwas mehr Risiken einzugehen», sagte Gesundheitsminister Alain Berset vor den Medien. Er räumte ein, dass vier der fünf Richtwerte für Öffnungen nicht erfüllt seien. Gleichzeitig ist die Hälfte der hospitalisierten Personen unter 65 Jahre alt. Die Impfung der Alten und der Risikogruppen bietet folglich keine echte Sicherheit.
Es bestehe die Gefahr, dass die Öffnungen wieder rückgängig gemacht werden müssen, hält der Bundesrat fest. Umso mehr fragt man sich, was das soll. Deutschland hat eine tiefere Inzidenz als die Schweiz und will die «Notbremse» ziehen. Frankreich ist im dritten Lockdown. Die Briten lockern sehr vorsichtig, wir aber reissen die Türen auf.
Cui bono? Wem nützt das? Manche Betriebe, auch Restaurants mit Terrasse, werden nicht öffnen, weil Aufwand und Ertrag angesichts der verordneten Schutzmassnahmen in keinem Verhältnis stehen. Für bürgerliche Politiker und Wirtschaftsverbände werden die Öffnungen zu wenig weit gehen, für die Befürworter harter Massnahmen viel zu weit.
Für den Bundesrat handelt es sich in erster Linie um eine Konzession an die wachsende Corona-Müdigkeit in der Bevölkerung. Explizit erwähnte Berset die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die erheblich leiden und ihren Frust vereinzelt mit gewaltsamen Mitteln auslebten. Solche Gründe sind nachvollziehbar und trotzdem kurzsichtig.
Das zeigt der Vergleich mit Grossbritannien. Das Königreich erwacht gerade aus einem harten Lockdown mit Ausgangssperren. Es war die Folge des miserablen Pandemie-Managements im letzten Jahr mit den meisten Todesopfern in Europa und dem Entstehen der Mutante B.1.1.7, die nun auch auf dem Kontinent dominiert.
Gleichzeitig gehören die Briten beim Impfen zur Weltspitze. Deutlich mehr als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung hat eine erste Dosis erhalten. Britannien setzt auf möglichst viele Erstimpfungen, die bereits eine hohe Schutzwirkung entfalten, wie bisherige Befunde ergeben. Damit haben sie nicht nur die Hospitalisierungen in den Griff bekommen.
Die Kombination aus Lockdown und Impftempo hat die 7-Tage-Inzidenz auf 17 Fälle pro 100’000 Einwohner gedrückt. Damit lassen sich Öffnungen rechtfertigen. In der Schweiz ist sie zehnmal so hoch. Denn einen «richtigen» Lockdown gab es nie, und bei den Erstimpfungen hinken wir nicht nur den Briten, sondern den meisten EU-Ländern hinterher.
Bund und Impfkommission beschlossen am Mittwoch einige Anpassungen, die das Tempo beschleunigen sollen. Die britische Strategie aber wollen sie nicht kopieren. Rudolf Hauri, der «oberste» Kantonsarzt, warnte am Dienstag, dass die Impfwilligen die letzte Dosis vielleicht im Spätherbst erhalten werden.
Hauri stellte auch fest, dass die Fallzahlen zu hoch seien. Noch verläuft der Anstieg moderat, und der Bundesrat klammert sich bei seinem Entscheid an die geringe Auslastung der Intensivstationen. Das könnte sich ändern. Auf Twitter trendeten am Mittwoch die Abwasserdaten der Zürcher Kläranlage Werdhölzli. Sie lassen Schlimmes befürchten.
Brandneue Abwasser Messdaten aus Zürich. Ich denke ein Kommentar erübrigt sich. pic.twitter.com/bvnih2x5kA
— Roger Eichenberger (@rpeichenberger) April 14, 2021
Wir könnten ab Montag unser Bier in der Gartenbeiz mit freier Sicht auf die dritte Welle geniessen. Und erleben, wie sie sich auftürmt und uns überrollt, samt folgendem Jojo-Effekt. Wenn das nicht passiert, hat der Bundesrat mehr Glück als Verstand. Sonst aber darf niemand behaupten, man hätte das nicht voraussehen können. Man konnte und kann.