Wie die Schweizer Armee den Grossteil ihrer gefährdeten IT-Projekte auf Kurs brachte
Der Wechsel im Vorgehen war radikal. Keine 5-Jahres-Projekte mehr. Keine Hierarchien. Keine Abteilungschefs. Keine Sektionschefs. Keine Teamchefs. Keine Projektteams.
Sondern flache Hierarchien und ein agiles, schrittweises Vorgehen. Die Entwicklungsteams absolvieren fünf «Sprints» zu je zwei Wochen. Nach zehn Wochen kommt es zum sogenannten Big-Room-Planning mit sämtlichen Beteiligten – mit Mitarbeitern des Kommando Cyber, mit Anwendern aus der Armee, mit Lieferanten wie Swisscom und Ruag. Drei Fragen stehen dabei im Zentrum: Was haben wir in den letzten Wochen erreicht? Wo stehen wir? Wie fahren wir weiter? Auf das Meeting folgen wieder fünf Sprints.
«Wir haben beim Aufbau der Neuen Digitalisierungsplattform einen maximalen Paradigmawechsel vollzogen», sagt Luca Antoniolli, Programmleiter der Neuen Digitalisierungsplattform und Chef Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnologien IKT. Er ist direkt Divisionär Simon Müller unterstellt, dem Chef des Kommando Cyber der Schweizer Armee.
Beide sitzen am Tisch, unterschiedlich gekleidet: Müller im militärischen Kampfanzug, Antoniolli im zivilen Businessanzug. «Wir denken nicht mehr in langwierigen Projektzyklen», sagt Antoniolli. «Denn mit Projekten schafft man sich eine Parallelwelt.» Was Antoniolli mit der Parallelwelt sagen will: «Ein Lieferant erhält einen Auftrag, arbeitet fünf Jahre daran – und stellt schlimmstenfalls ein Produkt hin, das nicht passt.»
Das neue Zauberwort im Kommando Cyber
SAFe (Scaled Agile Framework) heisst das neue Zauberwort im Kommando Cyber der Armee. Der Begriff aus der IT-Welt umschreibt ein Modell mit agilen Praktiken für Firmen, die sich von bürokratischen Prozessen befreien wollen. Das internationale Interesse an SAFe ist gross: Es verbindet die Prinzipien schlank und agil und schafft für Kunden schnell einen Mehrwert.
Das Kommando Cyber begann die Methode SAFe einzusetzen, weil die alte Projekt-Parallelwelt, wie Antoniolli sie nennt, die Armee in eine veritable Krise geführt hatte. Gleich sieben Top- und Schlüsselprojekte befanden sich Mitte 2024 im roten – also kritischen – Bereich. Die Finanzdelegation des Parlaments schlug am 18. Dezember 2024 in einem Brief an die damalige Bundesrätin Viola Amherd Alarm. Sie warnte vor einem Milliardenschaden.
Drei Rechenzentren bilden die Basis der neuen Struktur
Im Fokus der Kritik der Finanzdelegation stand auch die Neue Digitalisierungsplattform NDP. Sie ist zentral für die Verteidigungsfähigkeit der Armee. Die Plattform soll das neue Herzstück der gesamten einsatzkritischen digitalen Verteidigungsstruktur der Armee sein – als sichere und robuste Betriebsplattform. Bei ihr setzt das Kommando Cyber die neue Methode SAFe primär ein.
Die neue digitale Verteidigungsstruktur ist als Gesamtsystem geplant. Sie funktioniert nur im Zusammenspiel. Physisch bilden drei Rechenzentren die Basis.
- Ein voll gegen Raketen und Cyberangriffe geschütztes Rechenzentrum mit dem Namen «Fundament» besteht bereits.
- Das zweite Rechenzentrum namens «Kastro II» soll bis 2034 ebenfalls voll geschützt für 510 Millionen Franken tief in einem Berg gebaut werden.
- Das dritte Rechenzentrum «Campus» ist teilgeschützt. Sein Standort ist nicht geheim – es liegt in Frauenfeld.
Ergänzt werden die drei Rechenzentren von dezentral gelegenen Regional- und Lokalknoten. Sie liefern jene Daten, die es vor Ort für den Einsatz braucht. Im Ernstfall stellen sie sicher, dass die Daten für die Truppenverbände verfügbar sind, falls die drei grossen Rechenzentren ausfallen oder nicht erreichbar sein sollten.
Die Neue Digitalisierungsplattform NDP sorgt dafür, dass einsatzkritische Anwendungen an die Armee und Partner des Sicherheitsverbundes Schweiz gelangen. Es geht dabei beispielsweise um die Anwendung Sita Ware, welche die Lagedarstellung für die Armee sicherstellt. Oder um Skyview, die neue Anwendung zur Luftüberwachung.
Für den Datentransfer und die Kommunikation in der digitalen Verteidigungsstruktur ist einerseits das Führungsnetz Schweiz zuständig mit seinem krisenresistenten Kommunikationsnetz aus Glasfaserkabeln und Richtfunk für Armee und Partner im Sicherheitsverbund Schweiz. Andererseits aber auch die Telekommunikation der Armee (TKA); sie soll die Telekommunikation in der Mobilität und Teilmobilität mit neuen taktischen Funkgeräten auf über 1000 Trägerplattformen modernisieren. Keines der drei Elemente – NDP, Führungsnetz oder TKA – funktioniert alleine. Sie bauen aufeinander auf und sind eng verbunden.
Mit Ausnahme von Sita Ware gehörten all diese Systeme noch Ende 2024 zu den gefährdeten Projekten, welche die Finanzdelegation kritisierte. Gerade auch die Neue Digitalisierungsplattform.
Nur noch drei rote Projekte im Verteidigungsdepartement
Heute, knapp ein Jahr nach dem Alarmschreiben, sind fünf der sieben kritischen Projekte der Armee wieder auf Kurs. Das bestätigt das Verteidigungsdepartement: Im gesamten Departement stünden nur noch drei Projekte auf rot. Zwei betreffen die Armee: das israelische Drohnenaufklärungssystem ADS 15 und die Telekommunikation der Armee. In beiden Projekten spielt das israelische Rüstungsunternehmen Elbit eine zentrale Rolle. Rot ist auch das Programm Nepro, mit dem die Geodatenproduktion von Swisstopo erneuert werden soll.
Ob das Drohnenaufklärungssystem ADS 15 von der roten Liste genommen werden kann, nachdem Bundesrat Martin Pfister die Helvetisierungen im Projekt gestoppt hat, entscheidet sich demnächst. Departementssprecher Lorenz Frischknecht sagt: «Die Beurteilung ist aktuell am Laufen. Die Resultate werden voraussichtlich Mitte November publiziert.»
Wie hat es die Armee geschafft, in so kurzer Zeit fünf von sieben rote Digitalisierungsprojekte auf grün zu stellen? Das hängt unter anderem mit dem Kommando Cyber zusammen. Es nahm seine Arbeit am 1. Januar 2024 mit rund 700 Mitarbeitenden auf. Es ersetzte die ehemalige Führungsunterstützungsbasis FUB.
Und immer wieder die Frage: «Sind wir richtig unterwegs?»
«Zentral war, dass das Kommando Cyber die Chance erhielt, sich auf einsatzkritische Systeme und Anwendungen im Bereich Information und Kommunikationstechnologie zugunsten der Armee und unserer Partner im Sicherheitsverbund Schweiz zu fokussieren», sagt Divisionär Müller. Die Vorgängerorganisation FUB war noch für die gesamte Informatik der Armee zuständig.
Zudem habe das Kommando die Zusammenarbeit mit Nutzern und Lieferanten massiv verstärkt. Gerade Swisscom und Ruag als zentrale Leistungserbringer seien viel stärker einbezogen. «Für uns war es wichtig, die Gesamtlandschaft der Digitalisierungsvorhaben im Auge zu haben und sie in der ganzen Kette zu denken», betont Müller. «Funktioniert ein Glied nicht mehr, hat die ganze Kette ein Problem.»
Das zeigt sich exemplarisch beim Aufbau der Neuen Digitalisierungsplattform. «Priorisieren, statt in Schönheit zu sterben», sei sein zentrales Motto, sagt Programmleiter Luca Antoniolli. Damit habe man die Digitalisierungsplattform auf Kurs gebracht.
Die Digitalisierungsplattform geht bald live
Schon bald steht die Neue Digitalisierungsplattform vor dem ultimativen Bewährungstest. 2028 soll sie erstmals Teil eines Armeeeinsatzes in Echtzeit sein. Zuvor wird die Plattform Schritt für Schritt hochgefahren. Am 1. Juli 2026 soll sie ab den teil- und vollgeschützten Rechenzentren live gehen. Danach wird sie umfassend getestet. Am 2. Dezember 2025 wird der Stand der Plattform an einem Medientag vorgestellt.
Agiles Zusammenarbeiten statt hierarchisch organisierte Projektarbeit: Mit diesem markanten Wechsel im Vorgehen schaffte das Kommando Cyber den Befreiungsschlag bei der Neuen Digitalisierungsplattform.
Die neue Arbeitsmethodik wurde zumindest teilweise auch in anderen IT-Vorhaben angewandt. «Wir haben eine ganz neue Kultur implementiert», sagt Programmleiter Antoniolli. «Der Rhythmus ist viel höher als früher, alles wurde beschleunigt.»
Bleibt eine Frage. Weshalb setzt ausgerechnet die Armee ein derart unkonventionelles Vorgehen wie SAFe ein? Das würde man nicht von ihr erwarten. Luca Antoniolli lacht. Er kontert blitzschnell – und ohne zu zögern: «Agilität liegt sehr wohl in der DNA der Armee – insbesondere im Einsatz.»
(aargauerzeitung.ch)
