Die Verbindung zwischen Bern und Zürich ist eine der meistfrequentierten Linien im Schweizer Schienennetz. Wer hier regelmässig pendelt weiss: Freie Plätze sind schwer zu finden – zu den Stosszeiten sogar in der 1. Klasse. Dementsprechend ungeeignet ist eine Zugreise im Intercity mit Abfahrt 18:02 Uhr ab Bern für ein Telefongespräch mit vertraulichem Inhalt. Zumindest, wenn man dieses in voller Lautstärke mitten im Waggon führt.
Zunächst beginnt die Szene wie eine alltägliche Begegnung im Zug. Ein Mann – weisses Hemd, dunkle Hose, Lederschuhe – erkundigt sich höflich, ob noch ein Platz frei sei. Dann setzt er sich zu zwei anderen Fahrgästen in ein Viererabteil. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht weiss: Sein Sitznachbar ist Journalist. Der Mann klappt seinen Laptop auf und beginnt zu arbeiten. Soweit normaler Pendleralltag. Kurz nach Abfahrt des Zuges klingelt sein Handy, und der Mann beginnt mit lauter Stimme zu sprechen – so laut, dass er auch in den Abteilen davor, dahinter und auf der anderen Gangseite zu verstehen ist.
Auch das kommt öfters vor. Seltenheitswert hat das Gespräch im April wegen des Inhalts – und der beteiligten Personen. Denn der Pendler ist Offizier und in leitender Funktion im Armeestab tätig. Das verrät der Bildschirmschoner seines vollständig aufgeklappten Laptops, der sich unterdessen in den Energiesparmodus geschaltet hat. Der Mann am anderen Ende der Leitung ist mit dem Offizier persönlich bekannt, sie sind per Du und unterhalten sich in freundschaftlichem Ton.
Das Gespräch der beiden dreht sich zunächst um die möglichen Beweggründe des russischen Präsidenten Wladimir Putin in Bezug auf den Angriffskrieg in der Ukraine. Der Mitarbeitende des Armeestabs erklärt, dass Putin «aus unserer Sicht» – und hier meint er wohl die Schweizer Armee – kein irrational handelnder Akteur sei.
Mit der gescheiterten «decapitation strategy» (Köpfungsstrategie) zum schnellen, gewaltsam herbeigeführten Sturz des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski sei Putin ein kalkuliertes Risiko eingegangen. Dieses habe sich nicht ausgezahlt. Doch gemäss «unserer Einschätzung», so der Offizier, sei Putin durchaus in der Lage, auf Berater zu hören und seine Strategie den veränderten Bedingungen anzupassen.
Kritischer beurteilt er offenbar die Schweizer Landesregierung, wie der Offizier seinen Gesprächspartner daraufhin wissen lässt. Sowohl Verteidigungsministerin Viola Amherd (Mitte) als auch Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) bezeichnet er als «schwache Figuren», die sich in der Krise «in eine Schneekugel verkriechen würden» und nur ein «Küchenkabinett» um sich scharen und ausschliesslich auf dessen Mitglieder hören würden.
Nach dieser wenig respektvollen Äusserung über die eigene Departementsvorsteherin und den amtierenden Bundespräsidenten kommt der Mann am anderen Ende der Leitung auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen. Er will vom Armeemitarbeiter Ratschläge bezüglich einer Offerte, die er an den Nachrichtendienst des Bundes (NDB) herantragen will.
Der Offizier gibt ihm Tipps allgemeiner Art bezüglich Aufbau, Sprache und Fokus der Offerte: «Du musst kurz und präzise sagen, weshalb es genau euch braucht», rät er seinem Bekannten. Und erinnert ihn daran, dass die Person beim NDB, an welche die Offerte gehen soll, derzeit «mit Arbeit eingedeckt ist».
Daraufhin fragt der Anrufer nach der Mailadresse der Kontaktperson beim NDB. Er will wissen, ob er beim Einreichen der Offerte darauf hinweisen dürfe, dass er die Kontaktdaten von seinem Bekannten beim Armeestab erhalten habe. Der Offizier antwortet, dass ihm das unangenehm wäre. An dieser Stelle des Gesprächs trifft er zwar einige Vorkehrungen, um den Inhalt des Gesprächs für fremde Ohren unkenntlich zu machen – beispielsweise buchstabiert er die Mailadresse nicht vollständig aus, sondern spricht nur von «Vorname Punkt Nachname».
Danach skizziert der Mitarbeitende des Armeestabs für seinen Bekannten in groben Zügen das Weltbild und die Laufbahn der Person, an welche die Offerte gehen soll. Auch hier nennt er keinen Namen und spricht nur von «letzter» und «vorletzter Station» im Lebenslauf. Doch aus dem Kontext lässt sich ableiten, dass mit grosser Wahrscheinlichkeit von Christian Dussey die Rede ist. Dussey ist seit Anfang April neuer Direktor des Nachrichtendienstes. Kurz darauf ist das Gespräch zu Ende.
Nach einigen Minuten klingelt das Telefon des Offiziers erneut. Auch beim zweiten Anrufer schlägt er einen freundschaftlichen Ton an, begrüsst ihn mit Vornamen. Aus diesem Telefonat lässt sich nicht schliessen, ob der Anrufer ebenfalls für die Armee tätig ist oder nicht.
Während der Offizier beim ersten Anruf noch darauf bedacht war, keine Namen zu nennen, lässt er diese Vorsichtsmassnahme nun bleiben. Freimütig berichtet er am Telefon von seinem Gespräch mit Christian Lanz, dem Schweizer Verteidigungsattaché in Stockholm. Er habe sich mit Lanz über den Stand der Diskussionen in Finnland und Schweden über einen Nato-Beitritt unterhalten, erzählt der Offizier.
Auf Rückfrage erläutert er, dass er daraus «einen Bericht für Pälvi» [Pulli, die oberste sicherheitspolitische Beraterin des Bundes, Anmerkung der Redaktion] erstellen werde. Zum Schluss des zweiten Gesprächs schwärmt der Stabsmitarbeitende bemerkenswerterweise noch von den Vorteilen des Arbeitens im Zug.
Zum Vorfall befragt erklärt Armeesprecher Daniel Reist gegenüber CH Media, dass Mitarbeitende der Bundesverwaltung geltende Vorschriften einzuhalten haben:
Unmittelbar nachdem die Armee durch die Anfrage von CH Media Kenntnis über den Vorfall erhalten hat, sei eine formelle Befragung der genannten Person eingeleitet worden, erklärt Reist. Nach Auswertung dieser Befragung werde entweder eine Disziplinaruntersuchung beauftragt oder personalrechtliche Massnahmen ergriffen, deren Bandbreite von einer Verwarnung bis hin zur fristlosen Kündigung reiche. «Die Armee kann sich daher derzeit noch nicht dazu äussern, welche Massnahme im geschilderten Fall ergriffen werden» schreibt Armeesprecher Reist. Und ergänzt: «Der guten Ordnung halber weisen wir bis zum Abschluss der Untersuchung darauf hin, dass die Unschuldsvermutung gilt».
Noch habe nicht abschliessend geklärt werden können, ob der Mitarbeitende des Armeestabs klassifizierte Informationen preisgegeben habe, erläutert Armeesprecher Reist. Die Bundespersonalverordnung verpflichte jedoch alle Bundesangestellten zur Verschwiegenheit «über berufliche und geschäftliche Angelegenheiten, die nach ihrer Natur oder auf Grund von Rechtsvorschriften oder Weisungen geheim zu halten sind».
Der Armeestab ist Teil der Gruppe Verteidigung, also der dem VBS unterstellten professionellen Armeeverwaltung. Deren Mitarbeitende würden regelmässig bezüglich Informations- und Datenschutz sensibilisiert, erklärt Armeesprecher Reist. Dazu gehöre die Weisung, dass bei der mündlichen Weitergabe von klassifizierten Informationen «geeignete Massnahmen gegen das Abhören» zu treffen seien.
Nach den vom Offizier erteilten Ratschlägen zum Einreichen einer Offerte gefragt, verweist Reist auf die Verhaltensregeln der Gruppe Verteidigung im Bereich Compliance. Die Weisungen zur Korruptionsprävention verpflichten die Mitarbeitenden des VBS beispielsweise dazu, «ihre Aufgaben zu erfüllen, ohne ihre berufliche Stellung zu missbrauchen, um sich oder einem Dritten einen Vorteil zu verschaffen».