Die Tat schockiert das Land. Wenige Wochen nachdem ein Einzeltäter in Las Vegas 58 Menschen erschossen hat, kam es auch in der Schweiz zu einem brutalen Gewaltdelikt ohne erkennbares Motiv. Am Sonntagabend kurz nach 20 Uhr griff ein 17-jähriger Jugendlicher in Flums SG acht Personen mit einem Beil an und verletzte sie teilweise schwer. Auf dem Flumser Postplatz attackierte er ein Elternpaar, das mit einem Kinderwagen unterwegs war. Beim Angriff fiel das Kleinkind aus dem Kinderwagen, blieb jedoch unverletzt.
Der Täter floh mit einem gestohlenen Auto, verunfallte und setzte die Flucht zu Fuss fort. Bei einer Tankstelle ging er auf weitere Personen los. Die Anweisungen der eingetroffenen Polizisten missachtete er. Auch das von den Polizisten eingesetzte Elektroschockgerät konnte ihn nicht stoppen, weshalb die Beamten mehrmals auf den 17-Jährigen schossen. Rund eine Stunde nach der ersten Attacke war der Angreifer gestellt.
«Der Täter ist schwer verletzt, aber vernehmungsfähig», bestätigte Sigi Rüegg, Einsatzleiter der Kantonspolizei St. Gallen, an der gestrigen Pressekonferenz. Der junge Lette, der erst im Juni 2013 im Rahmen eines Familiennachzuges in die Schweiz kam, wurde gestern Nachmittag verhört und in Untersuchungshaft gesetzt. Er hat mutmasslich alleine gehandelt.
Welches Motiv der Lette für seine Gewalttat hatte, bleibt unklar. «Bis jetzt sehen wir keine Verbindung zu einer terroristischen Gruppierung», sagte Stephan Ramseyer, leitender Jugendanwalt der Staatsanwaltschaft St. Gallen, am Rande der Pressekonferenz. «Es kann sein, dass das Motiv in den Gewaltfantasien des Täters zu finden ist.»
Dass der Teenager solche Fantasien hatte, das war den Behörden bekannt. Bereits im Juni dieses Jahres meldete sich ein Jugendarbeiter bei der Kantonspolizei und wies auf entsprechende Äusserungen des späteren Täters hin.
Die Polizei schaltete die Kriseninterventionsgruppe (KIG) des Schulpsychologischen Dienstes des Kantons St. Gallen ein. Konkrete Drohungen äusserte der Täter aber keine, weshalb vorerst keine Massnahmen ergriffen worden sind.
Im September 2017 erhielten die KIG-Psychologen einen weiteren Hinweis darauf, dass sich der Lette in der Berufsschule auffällig verhalten habe, und entschieden sich für eine Bedrohungseinschätzung. Ralph Wettach, Direktor des Schulpsychologischen Dienstes des Kantons St. Gallen, erklärt: «Die Psychologische Bedrohungseinschätzung ist ein standardisiertes Verfahren, bei dem das Bedrohungspotenzial einer Person erhoben wird. Wir haben den Jugendlichen und dessen Umfeld mehrfach befragt.»
Im Zentrum standen die Fragen, welche Gewaltfantasien er hatte, ob er sich von diesen distanzieren könne, in welcher psychologischen Verfassung er war und ob er Zugang zu Waffen hatte. «Daneben wollten wir in Erfahrung bringen, welche Zukunftsperspektiven er hat und wie gut er in sein soziales Umfeld integriert ist», erklärt Wettach.
Die Ergebnisse der Einschätzung hat die KIG mit der Polizei besprochen. «Dass der junge Mann Gewaltfantasien äusserte, war zwar auffällig.» Eine substanzielle Bedrohung sei von ihm aber keine ausgegangen. Anders hätte Wettachs Team geurteilt, wenn der Jugendliche eine gewalttätige Vorgeschichte gehabt oder wenn er sich nicht kooperativ gezeigt hätte. «Der Täter hat bei unseren Abklärungen aber keine dieser roten Linien überschritten», erklärt Wettach. Zwangsmassnahmen habe man Mitte September nach Abschluss der Gewalteinschätzung daher bewusst keine eingeleitet.
Ein fataler Fehlentscheid? Nein, sagt Wettach. «Wir haben keinen Fehler begangen. Vom Täter ging zum Zeitpunkt unserer Abklärung keine konkrete Bedrohung aus. Was in der Zwischenzeit passiert ist, das wissen wir allerdings nicht.» Die KIG-Psychologen standen auch nach der Einschätzung regelmässig mit dem späteren Täter in Kontakt und gleisten eine jugendpsychiatrische Abklärung auf.
Dennoch hat keiner der Psychologen die Tat kommen sehen. «Trotz aller Vorsicht, Erfahrung und Zusammenarbeit können nicht alle späteren Täter erkannt werden, wie wir jetzt auf schreckliche Weise erfahren mussten», sagt Wettach.
Eine Spur, die Wettachs Team beim Flumser Täter nicht verfolgte, war dessen Auftritt auf der Social-Media-Plattform vk.com, dem russischen Pendant zu Facebook. Dort gab der Lette einen Einblick in sein verstörendes Innenleben, wie der Blick publik machte. Der Täter gab an, er arbeite bei der al-Kaida und betreibe die Firma «Kinderschlachterei AG». Seine Tätigkeit umschreibt er mit «Tötung von Kleinkindern». Daneben sei er «Anal-Fisting-Trainer» und «Mein Kampf»-Fan.
Von dieser Selbstdarstellung wussten die St. Galler Psychologen bis gestern nichts. Zwar habe man die üblichen Plattformen durchleuchtet. «Vom Profil des Täters auf einer russischen Social-Media-Plattform hatte unsere Kriseninterventionsgruppe zum damaligen Zeitpunkt keine Kenntnis», erklärt Ralph Wettach. Ob der KIG dadurch ein entscheidender Hinweis auf die Gefährlichkeit des Täters entging, wird die laufende Analyse zeigen.