Sicher ist: Für Ignazio Cassis läuft bisher alles wie am Schnürchen. Schon seit Jahren werden dem 56-jährigen Bundesrats-Ambitionen nachgesagt – mit dem Rücktritt von Didier Burkhalter schlug seine Stunde. Unüberhörbar sind die Stimmen, die nach fast 20 Jahren endlich wieder eine Tessiner Vertretung in der Landesregierung wollen.
Dass die Tessiner FDP-Spitze nun beschlossen hat, alles auf eine Karte zu setzen und keine weiteren Kandidaten ins Rennen zu schicken, dürfte Cassis' Chancen weiter erhöhen. Der Entscheid ist allerdings noch nicht in Stein gemeisselt: Die Delegierten der Kantonalpartei entscheiden erst am 1. August über das definitive Tessiner Ticket. Auch alle anderen Kantonalparteien können ihre Nominationsvorschläge einbringen. Die Bundeshaus-Fraktion der FDP legt erst im September fest, wen sie ins Rennen schickt.
Am virulentesten ist die Frauenfrage: In den letzten Tagen wurden die Stimmen lauter, die eine weibliche Kandidatur verlangten. «Die FDP hat ein Gleichstellungsproblem erster Güte», sagte SP-Präsident Christian Levrat in der «NZZ am Sonntag» – und legte den Freisinnigen ein Ticket mit zwei Frauen nahe. Auch der designierte GLP-Chef Jürg Grossen lässt sich heute im «Blick» mit der Aussage zitieren, dass er lieber eine zusätzliche Frau als einen Tessiner im Bundesrat sähe. Bereits früh äusserte zudem Grünen-Chefin Regula Rytz ihren Wunsch nach einer weiblichen Nachfolgerin für den abtretenden Didier Burkhalter.
Viele der Kritiker denken schon einen Schritt weiter: Es wird erwartet, dass die amtsälteste Bundesrätin Doris Leuthard eine der nächsten ist, die ihren Sitz räumt. Sollte sie ebenfalls von einem Mann beerbt werden – geeignete Bundesratskandidatinnen sind in den Reihen der CVP eher dünn gesät –, sässe plötzlich nur noch eine Frau in der Landesregierung. Dies, nachdem die Politikerinnen 2010 mit Micheline Calmy-Rey (SP), Doris Leuthard (CVP), Eveline Widmer-Schlumpf (BDP) und Simonetta Sommaruga (SP) noch die Mehrheit stellten. Die Kritik richtet sich aber auch gegen die FDP selber, die bisher nur eine Bundesrätin hatte – und zwar vor drei Jahrzehnten mit Elisabeth Kopp.
Vieles spricht für Cassis: Er ist perfekt dreisprachig, gilt als kompetent, umgänglich und gut vernetzt. Letzteres ist allerdings auch seine Achillesferse: Seine zahlreichen Mandate, vor allem im Gesundheitsbereich, bringen dem Arzt immer wieder scharfe Kritik ein. Unter anderem präsidiert er den Krankenkassenverband Curafutura – und verdient allein für dieses Teilzeit-Mandat 180’000 Franken jährlich. Im Tessin hat er deshalb auch den Übernamen «Kranken-Cassis». Auch im Zuge der Debatte über die Rentenreform büsste der FDP-Fraktionschef einige Sympathiepunkte ein. Er rief seine Fraktion zu geschlossenem Widerstand auf – obwohl er gleichzeitig die zuständige Kommission für soziale Sicherheit präsidierte. SP-Chef Levrat drohte ihm daraufhin mit «personellen Konsequenzen».
Im Tessin hatte die Alt-Regierungsrätin Laura Sadis Bundesratsambitionen angemeldet. Sie hätte gern neben Cassis auf einem Zweierticket kandidiert. Ob ihr Name an der Delegiertenversammlung vom 1. August nochmals aufs Tapet kommt (siehe Frage 1), wird sich zeigen. Daneben muss Cassis vor allem Konkurrenz aus dem Westen fürchten: Denn der Sitz soll nach dem Willen des FDP-Schweiz-Präsidiums in lateinischer Hand bleiben. Als valable Kandidatinnen werden in der Romandie etwa die Waadtländerinnen Isabelle Moret oder Jacqueline de Quattro gehandelt. Auch dem Genfer Staatsrat Pierre Maudet werden Bundesratsqualitäten attestiert.