Das Coronavirus verbreitet sich weltweit rasend schnell – auch in der Schweiz. Die Anzahl der Fälle steigt sprunghaft an. Und weltweit versuchen alle Länder mit verschiedensten Massnahmen, die Fallzahlen so tief wie möglich zu halten und die Ausbreitung so stark wie möglich zu verzögern. Weshalb das so wichtig ist zeigt ein Blick auf unser Gesundheitssystem.
Denn eine grosse Frage ist: Wie lange kann unser Gesundheitssystem diese Belastung stemmen? Ab wann sind unsere Spitäler ausgelastet?
Wir haben zusammen mit Richard Neher, Professor für Virologie an der Universität Basel, das Szenario durchgerechnet und zeigen in 6 Grafiken, weshalb wir uns dringend an die Massnahmen des Bundes halten sollten.
Wir beginnen mit einer Bestandesaufnahme:
In der Schweiz stehen aus der Zentrums- und Grundversorgung etwas mehr als 24'000 Betten zur Verfügung, wie Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen. Im Normalfall sind davon im Schnitt etwa 83 Prozent permanent belegt. Es bleiben also insgesamt etwa 4000 Betten frei, die mit allfälligen Corona-Patienten belegt werden könnten.
>> Aktuelle News zum Coronavirus im Liveticker
Zusätzlich könnten noch einige gesundheitliche Institutionen umfunktioniert werden, um ebenfalls Patienten mit dem Coronavirus aufzunehmen. Dazu gehören zum Beispiel psychiatrische Kliniken und Rehabilitationskliniken. Solche Spezialkliniken könnten nochmals etwa 2500 Betten zur Verfügung stellen.
Die Frage bleibt allerdings offen, in welchem Zeitraum die 2500 zusätzlichen Betten umfunktioniert werden können und ob das Personal überhaupt Corona-Patienten betreuen könnte. Wir gehen bei unserer Rechnung vom besten Fall aus. Insgesamt hat die Schweiz in diesem Fall also etwa 6500 Betten für Coronavirus-Patienten zur Verfügung.
Wie lange also würde es dauern, bis diese rund 6500 Betten belegt wären? Dafür müssen wir berechnen, wie sich die Fallzahlen in der Schweiz entwickeln.
«Die Zahlen aus China zeigen, dass sich die Anzahl bestätigter Fälle bei unkontrollierter Ausbreitung alle fünf bis sieben Tage verdoppeln», sagt Richard Neher, Professor für Virologie an der Universität Basel. Unkontrolliert bedeutet, dass keine Massnahmen gegen die weitere Verbreitung des Virus getroffen werden.
Würde ein solches Worst-Case-Szenario eintreffen, würden laut Neher rund 60 Prozent der Schweizer Bevölkerung am Coronavirus erkranken. Die Fallzahlen würden sich wie folgt entwickeln:
Erfahrungen aus anderen Ländern haben aber gezeigt: Werden einige griffige Massnahmen gegen die Ausbreitung getroffen, könnte sich die Anzahl Erkrankter nur noch alle zehn Tage verdoppeln. Damit würde sich nicht nur der Peak verkleinern, sondern er würde sich auch über eine längere Zeit ausdehnen. Dem Gesundheitssystem bleibt so mehr Zeit, sich auf die veränderte Situation einzustellen.
If you only learn one thing about #COVID19 today make it this: everyone's job is to help FLATTEN THE CURVE. With thanks to @XTOTL & @TheSpinoffTV for the awesome GIF. Please share far & wide. pic.twitter.com/O7xlBGAiZY
— Dr Siouxsie Wiles (@SiouxsieW) March 8, 2020
Doch es wäre sogar noch mehr möglich: «Die chinesische Regierung hat die Verbreitung des Virus nun mit drastischen Massnahmen tatsächlich stoppen können. Die Massnahmen, die der Bund bislang verhängt hat, dürften dafür kaum reichen», sagt Virologe Neher.
Doch welche Massnahmen führen tatsächlich zu einer Eindämmung? In China scheint die Abschottung der betroffenen Gebiete zu einem gewissen Erfolg zu führen. Die Fallzahlen sind auf dem chinesischen Festland seit einigen Tagen stark rückläufig.
>> Die Empfehlungen des Bundes findest du hier
Wie schnell aber sind unsere Spitäler voll? Für die Berechnung muss berücksichtigt werden, dass längst nicht alle am Coronavirus erkrankten Personen zwangsläufig in den Spital müssen. Zahlen aus China und dem Rest der Welt zum Virus zeigen, dass etwa 5 Prozent der Erkrankungen kritisch verläuft. Ein solch schwerer Verlauf bedingt eine Betreuung im Spital. Die meisten anderen Fälle überstehen die Krankheit ohne Spitalaufenthalt.
Wenn man nun also damit rechnet, dass etwa 5 Prozent der Patienten im Spital behandelt werden müssen, wäre das Schweizer Gesundheitssystem im Szenario mit der ungehinderten Ausbreitung Ende April am Anschlag.
Am 21. April wären die 4000 Betten, die uns unter normalen Umständen zur Verfügung stünden, alle mit Corona-Patienten mit kritischem Krankheitsverlauf belegt. Am 24. April wären auch die umfunktionierten Spezialkliniken voll.
«Erreichen wir den Peak bereits im April, wird es eng», sagt Neher. Denn dann bleibt den Verantwortlichen nur sehr wenig Zeit, um zusätzliche Massnahmen zu ergreifen und Vorkehrungen zu treffen.
Kann die Ausbreitung abgeschwächt werden, so dass sich die Fallzahlen nur alle 10 Tage verdoppelt, dann wären die Spitäler der Zentrums- und Grundversorgung erst am 12. Juni voll. Hätte man bis dann sogar die Betten aus den Spezialkliniken zur Verfügung, verzögert sich der Stichtag noch um eine zusätzliche Woche auf den 19. Juni.
«Wenn sich die Zahl der Neuerkrankungen nur noch alle zehn Tage verdoppelt und nicht mehr alle fünf, würden wir erst Ende Juni an die Kapazitätsgrenzen stossen. Bis dahin bleibt dem Bund und den Ärzten mehr Zeit, um auf die Lage zu reagieren», sagt Neher. So könnten zum Beispiel von der Armee neue Behandlungszentren errichtet werden. «Die Kapazitäten des Gesundheitssystems werden so nicht so sehr belastet wie bei einer ungehinderten Ausbreitung», so der Virologe.
Mit den richtigen Massnahmen kann also nicht nur die Ausbreitung des Coronavirus in der Schweiz gestoppt, sondern auch die Stabilität des Schweizer Gesundheitssystems in näherer Zukunft gewährleistet werden.
>> So schützt du dich vor dem Coronavirus