Martha und Sepp Thalmann waren 66 Jahre lang verheiratet. Sie verbrachten die vielen Jahre besonders eng zusammen. Er war der Hauswart der Kunstgewerbeschule Luzern. Das war ein Amt, bei dem die Ehefrau immer mitgemeint war. Arbeits- und Wohnort waren derselbe. Bis zur Pensionierung lebten sie in der Hauswartwohnung, in der sie sieben Kinder grossgezogen hatten.
Im hohen Alter ergänzten sich ihre Stärken. Sie war körperlich fit, er geistig. Sie kochte auch noch mit ihren 88 Jahren schmackhafte Menüs; er füllte die Steuererklärung auch noch mit seinen 93 Jahren selber aus. Doch sie hatte eine leichte Demenz und er hatte Probleme mit Lunge, Herz und Schulter. Vor einem Jahr entschieden sie deshalb, ins Altersheim zu ziehen.
Der Aufenthalt im Betagtenzentrum Eichhof in Luzern war vom ersten Tag an von Corona geprägt. In der ersten Lockdown-Woche im März bezogen sie eine 2½-Zimmerwohnung. Kaum angekommen waren sie eingesperrt. So überstanden sie aber die erste Welle.
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In der zweiten Welle breitete sich das Virus im Eichhof aus. An vielen Türen klebte ein Zettel: «Isolation». Die Thalmanns erkrankten gleichzeitig. Am 10. Dezember erhielten beide das positive Testresultat. Sie lagen nur noch im Bett, konnten kaum mehr sprechen und nicht mehr essen und trinken. Ins Spital wurden sie nicht verlegt, weil sie Patientenverfügungen hatten. Darin stand folgender Satz: «Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.»
Kurz vor dem Tod wurde das Paar getrennt. Weil er nachts aus dem Bett fiel, wurde er in die Pflegeabteilung verlegt. Sie verabschiedeten sich voneinander. Danach kam ein Pfarrer für die letzte Ölung.
Sepp Thalmann starb alleine. Als eine Pflegerin am 17. Dezember um 22.15 Uhr ins Zimmer kam, um ihm eine neue Morphium-Ampulle zu bringen, stellte sie den Tod fest.
Am nächsten Morgen um 8.30 Uhr starb Martha Thalmann.
Sepp Thalmann hatte seine Bestattung schon vor Jahren finanziert und geplant. Er wollte zum Beispiel, dass sein Sohn Bruno «Ave Maria» auf der Trompete spielt. Sepp Thalmann war ein bekannter Blasmusiker, Komponist und Dirigent. Die Feier hatte er schon organisiert, weil er seiner Frau die Arbeit abnehmen wollte. Er ging immer davon aus, dass er vor ihr sterben würde, auch wenn er mit einem grösseren Zeitraum gerechnet hatte. Nun fand die Feier gleich für beide statt.
In der Todesanzeige würdigte die Familie das Paar mit einem Bild, auf dem sie ihren Arm um ihn legt. Sie lächeln in die Kamera. Die Angehörigen schrieben dazu: «Machtlos mussten wir zusehen, wie dieses Virus euer Leben raubt.» Das löste eine grosse Anteilnahme aus. Mehr als 200 Beileidsschreiben gingen bei der Familie ein.
Die Hinterbliebenen wollten mit der Annonce ein Zeichen setzen. Sohn Bruno Thalmann erklärt: «Man kann jetzt sagen, 93 und 88 seien ein gutes Alter. Das ist tatsächlich so, jedoch tröstet dies uns nicht über diesen Verlust, der eigentlich hätte vermieden werden können.»
Er kritisiert den Entscheid der Luzerner Regierung, mit dem sie die Besuchsbestimmungen in Alters- und Pflegeheimen im Oktober gelockert hat. Besuche waren wieder direkt im Wohnbereich erlaubt und nicht mehr nur im Besucherraum hinter Plexiglas. Zudem habe das Schutzkonzept des Heims nicht funktioniert. Er sagt: «Das Altersheim wurde so zu einer Todesfalle für meine Eltern.»
Das Betagtenzentrum Eichhof wird von der Viva Luzern AG betrieben. Die Firma gibt die Zahl der Infektionen und Todesfälle in ihren fünf Heimen nicht bekannt und weist die Kritik zurück. Mit ihren Schutzmassnahmen halte sie das Risiko von Erkrankungen so tief wie möglich, schreibt sie auf Anfrage.
Tragödien wie in Luzern spielen sich derzeit in der ganzen Schweiz ab. Die Mehrheit der über 7500 Todesfälle in der Schweiz sind Bewohnerinnen und Bewohner von Altersheimen.
Eine statistische Besonderheit der Schweiz ist der Anteil der über 80-Jährigen, die in Alters- und Pflegeheimen leben. Es sind 16 Prozent. In einer Erhebung des Länderbündnisses OECD belegt die Schweiz damit den ersten Platz. Allerdings hatte die Organisation nicht aus allen Ländern verlässliche Zahlen erhalten. Bei früheren Erhebungen, bei denen Daten aus mehr Ländern vorlagen, wiesen aber nur noch zwei andere Staaten ähnlich hohe Werte aus: Island und Belgien.
In der Schweiz haben Altersheime eine lange Tradition. Schon im 18. Jahrhundert haben sich die Gemeinden um alte und arme Menschen gekümmert und Bürgerheime gegründet. Bis heute sind die Alters- und Pflegeheime eine Aufgabe der Gemeinden. Damit verbunden ist die Finanzierungsform: Das Geld fliesst in die Institutionen.
In den Nachbarländern unterscheidet sich die Tradition und auch die Finanzierungsform. In Italien wird erwartet, dass sich die Töchter und Söhne im Alter um ihre Eltern kümmern. Vor allem in Familien mit wenig Nachkommen führt dies zu Stress und Konflikten. Auch in Deutschland sind Angehörige stärker eingebunden. Sie werden für diese Arbeit durch die Pflegeversicherung entschädigt. Die ambulante Versorgung hat ebenfalls einen höheren Stellenwert.
In der Schweiz gehen die meisten Menschen erst kurz vor dem Tod ins Altersheim. Die durchschnittliche Aufenthaltszeit beträgt nur zweieinhalb Jahre. Die Pandemie hat diese Zeit nun in tausenden Fällen verkürzt. Denn in der verdichteten Wohnform ist Social Distancing nur begrenzt möglich.
François Höpflinger ist Altersforscher und emeritierter Professor der Universität Zürich. Er sagt: «Die hohe Todesquote der Schweiz hat zum Teil damit zu tun, dass wir eine Gesellschaft sind, die Langlebigkeit bisher sehr gut bewältigt hat.» Dank des Gesundheits- und Pflegesystems könne man auch mit Diabetes oder starkem Übergewicht bis ins hohe Alter ein gutes Leben führen. Diese Gruppe sei nun durch das Virus besonders gefährdet.
Höpflinger meint: «Die gemässigte Lockdown-Strategie der Schweiz hat den Nachteil, dass sie zu vielen Todesfällen bei der älteren Generation führt. Dafür hat sie den Vorteil, dass die jüngere Generation weniger von wirtschaftlichen und psychischen Schäden betroffen ist.»
Bruno Thalmann findet diese Abwägung falsch. Trotz allem sieht er etwas Positives in der Tragödie seiner Eltern: «Dass sie gemeinsam sozusagen den Expresslift nach oben genommen haben, hat auch etwas Beruhigendes.»
achwiegut
Toerpe Zwerg
Der Tod von 90-jährigen lässt sich nicht "verhindern". Diese Menschen hatten offenbar ein sehr langes und privilegiertes Leben. Nun sind sie gestorben. Traurig für die Angehörigen. Normal für das Leben.
90 Jahre. "leichte Demenz". Irgendwann ist gut. Irgendwann darf auch eine neue Generation leben. Will ich "leicht dement" wenige Jahre weiterleben unter der Bedingung, dass meine Enkel und Urenkel Fernunterricht haben und keine Feste feiern können?
Hans12