Die Schweiz: Sie ist im Krisenmodus. Einerseits wegen Omikron. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) teilte gestern mit, dass die Virusmutation in drei Fällen nachgewiesen worden ist. In Basel ist ein 19-jähriger Doppeltgeimpfter betroffen. Da der Gymnasiast Teil einer Choraufführung war, mussten rund 100 Kontaktpersonen in die Quarantäne geschickt werden. Je ein Omikron-Fall wurde zudem in den Kantonen Baselland und Genf nachgewiesen.
Andererseits steigen die Infektionszahlen in rasantem Tempo. Gestern meldete das BAG 10'466 Neuansteckungen mit dem Coronavirus. Zum Vergleich: Am gleichen Tag in der Vorwoche waren es 8585 positive Fälle. 140 Menschen mussten hospitalisiert werden, in der Vorwoche lagt der Wert bei 103. Es verstarben 22 Personen.
Die Pandemie bringt die Spitäler in bestimmten Kantonen wieder an ihre Grenzen. «Ein Albtraum»: So bezeichnete Stephan Jakob, Chefarzt der Berner Universitätsklinik für Intensivmedizin, die Situation auf den Intensivstationen. Er sagte am Dienstag im Schweizer Fernsehen: «Die Triage wird sicher kommen.» Bei einer erneuten Welle könne es vorkommen, dass man zehn Personen, aber nur zwei Betten habe. Hinzu komme der personelle Engpass. Bei der ersten Welle zu Beginn der Pandemie habe man noch viel Goodwill gehabt von Freiwilligen und Pflegenden, die zum Beispiel auf ihre Ferien verzichtet hätten, oder Pensionierten, die für Einsätze zurückkehrten, so Jakob. Das sei aber nicht mehr der Fall.
Ein Blick auf die Zahlen zeigt: In den meisten Kantonen stehen nur noch wenige freie Intensivbetten zur Verfügung. Im ganzen Kanton St. Gallen sind es noch deren zwei, ebenso im Wallis und in Solothurn. Schweizweit sind über 80 Prozent der Intensivstationen ausgelastet. Im Kanton Zürich sind mittlerweile alle Spitäler voll belegt – das Universitätsspital zu 98 Prozent. Das sagte Peter Steiger, Stellvertretender Direktor des Instituts für Intensivmedizin am Zürcher Universitätsspital, am Mittwoch gegenüber dem Schweizer Radio. Wegen der vollen Belegung des Universitätsspitals habe man die Patienten auch nicht in ein anderes Spital verlegen können, so Steiger.
Weil sich die Lage derart zuspitzt, müssen Spitäler Triage-Vorbereitungen treffen. In den beiden Kantonsspitälern Münsterlingen und Frauenfeld im Thurgau bringt man sich in Stellung. «Wir haben ein Triage-Konzept bereit, basierend auf dem Grundlagenpapier der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW).» Das heisst: Es werden Teams gebildet, welche über die nötigen Kompetenzen verfügen, um Triage-Entscheidungen zu treffen. Für die beiden Kantonsspitäler im Thurgau ist es ein Team aus «vier hoch qualifizierten Experten, welche auch noch weitere Fachdisziplinen beiziehen könnten, falls nötig», sagt Marc Kohler, CEO der Thurgauer Spitäler.
Beim Stadtspital Zürich (Waid und Triemli) betont man, dass derzeit keine Triagen vorgenommen werden und auch nicht zur Diskussion stehen. Allerdings wurden Vorbereitungen getroffen, um die SAMW-Kriterien umsetzen zu können, sollte es zu einer medizinischen Triage kommen. Das Spital würde in einen Krisenmodus schalten, die Prozesse dafür sind klar festgehalten. Während das Stadtspital Zürich festhält, dass ein Übergang zu einer «Medizin der Triage» ein Spital nie im Alleingang beschliessen könne, sondern vom Kanton oder Bund angeordnet werden müsste, heisst es bei der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich: «Ein Entscheid, ob und in welchem Umfang wer nach welchen Prioritäten medizinisch behandelt wird, ist in der Verantwortung der Expertinnen und Experten der einzelnen Spitäler.»
Die SAMW-Richtlinien geben vor, bei einer völligen Überlastung der Intensivkapazitäten so zu entscheiden, «dass die grösstmögliche Anzahl von Menschenleben gerettet wird». Seit der letzten Überarbeitung vom September wird explizit erwähnt, dass dabei auch der Aufwand berücksichtigt werden soll, der mit einer intensivmedizinischen Behandlung verbunden ist. Interventionen haben bei gleicher Überlebensprognose, die schon nach kurzer Zeit den gewünschten Erfolg erwarten lassen, Vorrang vor Interventionen, deren Effekt sich erst nach langer Therapiedauer einstellt.
Das ist insofern bemerkenswert, weil Covid-Patienten auf den Intensivstationen in der Regel mehrere Wochen betreut werden müssen. Das bestätigt Philipp Lutz vom Kantonsspital St.Gallen: «Coronapatienten benötigen in der Regel über einen viel längeren Zeitraum einen Intensivplatz mit Beatmungsmöglichkeit als ‹übrige› Intensivpatienten.» Derzeit seien 45 Covid-Patienten im Kantonsspital St.Gallen, davon seien 33 auf Bettenstationen isoliert und 12 beatmet auf den Intensivstationen.
Gemäss Lutz seien derzeit die Hälfte aller aktuell verfügbaren Behandlungsplätze auf den Intensivstationen mit Beatmungsmöglichkeit von Covid-Patienten besetzt. «Wegen Kapazitätsengpässen auf den Intensivstationen müssen vereinzelt Eingriffe verschoben werden, allerdings (noch) nicht systematisch», so Lutz. Das könne sich aber sehr schnell ändern. «Nimmt die Anzahl an Covid-Patienten weiter zu, werden wir nicht darum herum kommen, selektive Eingriffe zu reduzieren und geplante Termine zu verschieben. Darauf bereiten wir uns vor.» Rund 90 Prozent aller Covid-Patienten auf den St. Galler Intensivstationen sind ungeimpft.
Die Medizinethikerin Tanja Krones, die an den SAMW-Richtlinien mitgearbeitet hat, brachte kürzlich die sogenannten «stille Triage» ins Spiel. Sie sagte in der NZZ, dass es letztes Jahr ein solches Vorgehen in den Spitälern bereits gegeben habe. «Doch die stille Triage ist eben still. Die Mehrheit hat nicht gemerkt, dass es sie gab», so Krones. Auf Nachfrage sagt sie: «Natürlich sagt kein Spital konkret ‹wir machen stille Triage›, weil es ein Tabuthema ist.»
Die stille Triage ergebe sich für die Spitäler notwendig aus der Unterversorgung, die immer dann passiere, wenn ein Spital Bettennot auf der Intensivstation habe, die Verlegung an andere Spitäler nicht richtig funktioniere – und zu viele Patienten versorgt werden müssten. «Dann werden Patienten zum Beispiel auf Normalstationen versorgt, die sonst auf die Intensivstation müssten», sagt Krones. Oder sie werden gar nicht mehr ins Spital eingeliefert. So wie letztes Jahr, als der Kanton Zürich die Weisung gab, Patientinnen und Patienten nur noch unter bestimmten Bedingungen von den Heimen zu verlegen.