Um Punkt 12 Uhr geht die Frühlingssession zu Ende. Das gesamte Bundeshaus macht sich auf den Weg zum Bahnhof Bern. Auch der Mitte-Präsident Gerhard Pfister. Dort wartet ein Extrazug, der direkt nach Baar im Kanton Zug fährt. An die grosse Feierlichkeit zu Ehren des neu gewählten Baarer Bundesrats Martin Pfister.
Es hätte Gerhard Pfisters Sonderzug sein können. Seine Feier. Doch sie ist es nicht.
Gerhard Pfister darf zwar zusammen mit der abtretenden Bundesrätin Viola Amherd und ihrem Nachfolger Martin Pfister im Ehrenwaggon mitfahren. In Baar angekommen, steigt er jedoch als Letzter aus. Als alle Blicke längst woanders sind. Die Guggen spielen für den anderen Zuger. Die Menschenmenge klatscht für den anderen Pfister. Auf dem Bier und den Plakaten lächelt Martin entgegen, nicht Gerhard.
Wie ein König winkt der frisch gewählte Bundesrat Martin Pfister in einer Kutsche der Menge zu, die sich entlang der Strasse aufgereiht hat. Ein Mann, den das Schweizer Volk ausserhalb der Zuger Kantonsgrenzen noch vor wenigen Wochen nicht gekannt hat.
Gerhard Pfister hingegen nimmt zu Fuss an der Parade teil. Im Parlamentarierzug. Immerhin als Zuger zuvorderst. Direkt neben FDP-Ständerat Matthias Michel.
Doch Pfister wirkt nicht traurig, nicht bedauernd. Im Gegenteil. Er strahlt, winkt den Menschen zu, schüttelt da und dort Hände, macht Spässe, erkundigt sich bei Freunden, Bekannten und Wegbegleiterinnen nach den Kindern. Dazwischen muss er fast rennen, um mit den Parlamentarierinnen und Parlamentariern Schritt zu halten. Um zuvorderst bleiben zu können. Mit beschwingtem Schritt.
Es ist, als wäre Martin Pfisters Bundesratsfeierlichkeit auch Gerhard Pfisters Fest. Eine Art Abschiedsfeier nach neun prägenden Jahren.
Es war das Jahr 2016 als die CVP den Zuger Nationalrat Gerhard Pfister zu ihrem Parteipräsidenten wählte. Zu diesem Zeitpunkt galt er noch als rechtskonservativ. Und zu diesem Zeitpunkt befand sich die CVP auf ihrem Tiefpunkt.
Bei den eidgenössischen Wahlen 2015 hatte sie nur noch 11,5 Prozent der Stimmen geholt. Halb so viele, wie noch in den 70er- und 80er-Jahren. Vier Jahre später verlor die Partei abermals an Wählerstimmen. Allerdings nicht so drastisch, wie noch in den Jahren zuvor. Es war das erste Anzeichen dafür, dass der CVP das Comeback gelingen könnte.
Für Pfister stand dennoch fest, dass sich die Partei neu erfinden muss, um relevant zu bleiben. 2020 fusionierte er deshalb die CVP mit der BDP. Die Mitte wurde geboren. Und verlor ihr christliches «C». Damit wollte Pfister neue Wählerinnen und Wähler ansprechen. Ganz besonders in den Städten.
Den Verlust des identitätsstiftenden «C» steckten viele in der Partei nicht gut weg. Doch Pfister liess nicht von seiner Mission ab. Er forderte Einigkeit von seinen Parteimitgliedern. Zumindest gegen Aussen.
Manche sagen, er habe keinen Widerspruch geduldet. Und dulde ihn noch immer nicht. Andere finden, die Partei habe einen Mann wie Pfister gebraucht. Einer, der in dieser kritischen Zeit mit harter Hand führt.
Der Erfolg gab Letzteren recht: 2023 holte die Mitte mit 14,1 Prozent Wähleranteil fast zur FDP auf. Seither diskutiert die Schweiz nicht mehr über den Niedergang der Mitte, sondern über die Frage, ob ihr ein zweiter Bundesratssitz zustünde. Anstelle der FDP.
Hätte er sich selbst gerne zum Chef? Pfister stutzt. Dann lächelt er breit. «Das hat mich jetzt noch niemand gefragt.» Er überlegt lange, ehe er antwortet: «Ja, ich denke schon.» Es stimme zwar, dass er manchmal einen forschen Ton anschlage. Dass er dominant sei. Dass er gerne Macht ausübe. Dass er im Parlament nicht auf der Suche nach Freundschaften sei.
Aber er funktioniere diskursiv. Wäge gerne Argumente gegeneinander auf. Lasse sich auch gerne von besseren Argumenten überzeugen. Und er befolge eine einfache Philosophie, die es ihm ermöglichte, mit allen gut auszukommen: «Ich unterstelle allen Parlamentarierinnen und Parlamentariern, dass sie das Beste für unser Land wollen. Auch wenn sie darunter unterschiedliche Dinge verstehen.»
Das Abwägen seiner Antwort hat ihm sichtlich Spass bereitet. Nicht das Antworten. Beim Sprechen ist sein Lächeln nämlich wieder verschwunden. Pfister liebt das Sinnieren. Die Herausforderung. Die Diskussion. Manchmal auch den Streit. Das sagt er von sich selbst.
Gerhard Pfister, der Intellektuelle. Und Gerhard Pfister, der gewiefte Stratege. Es sind die einzigen beiden Rollen, auf die sich Medien bisher einigen konnten. Viele haben ihn schon porträtiert. Wollten aus ihm schlau werden. Und wurden es dann doch nicht.
Pfister ist im Kanton Zug in der oberen Mittelschicht aufgewachsen. Sein Vater und Grossvater leiteten eine Privatschule und sassen beide im Kantonsrat Zug. Natürlich für die CVP. Gerhard Pfister trat in ihre Fussstapfen. Beruflich wie politisch.
Geprägt hat Pfister der frühe Tod seiner Mutter. Gerade einmal acht Jahre alt war er, als sie mit 34 Jahren an Leukämie verstarb. Und geprägt hat ihn das Attentat im Zuger Kantonsrat 2001, das er wie durch ein Wunder unbeschadet überlebte, während sein Sitznachbar und guter Freund starb. Noch heute sucht er in geschlossenen Räumen den Notausgang. Noch heute holt er sich einen tiefen Schrecken, wenn irgendwo plötzlich ein lautes Geräusch ertönt.
All diese Dinge erzählt Pfister bereitwillig. Immer wieder. Und immer mit fast denselben Sätzen. Er versteht den Medienzirkus. Weiss, dass man als Politiker ein bisschen von sich preisgeben muss. Aber lieber nicht zu viel. Lieber immer das, was man sowieso schon von ihm weiss. Lieber keine Homestorys. Lieber mit abstrakten Worten ein Argument vorbringen, statt mit persönlichen Anekdoten. Ganz anders, als es die politischen Pole rechts und links von ihm gerne tun.
Warum? Wieder zeigt sich Pfister überrascht von der Frage. Und wirkt zugleich erfreut. Es sei ihm noch nie aufgefallen, dass er mit Anekdoten spare. «Wahrscheinlich, weil ich es nicht wichtig finde. In der Politik geht es um die Sache.»
In manchen Fragen jedoch ist der persönliche Hintergrund relevant. Zumindest für andere. Pfister weiss, dass er sich zu seinem Glauben äussern muss. Auch wenn er es lieber nicht tun würde. Es ist ihm zu privat. Doch das «C» verfolgt ihn, auch wenn es aus dem Parteinamen verschwunden ist.
Pfister glaubt an Gott. Aber realistisch. «Skeptisch-agnostisch», wie er sagt. So wie er auch an den Zufall glaube. Es sei beispielsweise reiner Zufall gewesen, dass er das Attentat 2001 überlebte. Davon ist Pfister überzeugt. Weil es für ihn keinen Sinn machen würde, wenn eine göttliche Macht gewollt hätte, dass er überlebt. Denn dann hätte dieselbe göttliche Macht auch wollen müssen, dass 15 andere, unschuldige Kantonsratsmitglieder starben. Eine solche Weltanschauung kann Pfister nicht mit sich vereinbaren. Andere Widersprüche hingegen schon.
Etwa, übermässigen Lobbyismus zu kritisieren, während seine eigene Partei die meisten Lobbymandate vereint. Ja, während er selbst eine ganze Reihe davon innehat, darunter als Präsident des Schweizer Casinoverbands und des Zementindustrieverbands Cemsuisse. «Lobbys sind legitim, solange alles transparent ist», findet Pfister. Für ihn sei klar, dass er die Interessen des Volks vor jene der Lobbys stelle.
Wenn Pfister Politik macht, hat er die Gesichter seiner Schülerinnen und Schüler im Hinterkopf. Für sie will er eine sichere Schweiz bewahren. Eine, in der jeder und jede die Chance auf ein gutes Leben hat. Darum stelle er sich oft die Frage, ob er heute noch gerne 20 oder 30 Jahre alt wäre. Die Antwort: «Körperlich wäre ich natürlich gerne nochmals 20. Aber sonst … Nein. Die Jungen leben in einer deutlich unsichereren Zeit, als ich es getan habe.»
Dies ist wohl der Grund, weshalb sich Pfister stets als wertkonservativ, nicht konservativ beschreibt. Er wolle an seinen Werten festhalten, nicht an Strukturen. Für manche wäre das ein Widerspruch. Für Pfister nicht. Aber selbst wenn es das wäre, wäre das kein Problem für ihn:
Es ist genau das, was ihn ausmacht. Was ihn zum richtigen Mann machte, um die CVP zur Mitte zu führen. Die Fähigkeit, zu vereinen, was für andere unvereinbar scheint.
Im Januar hat Pfister seinen Rücktritt als Parteipräsident angekündigt. Im Juni geht seine Ära zu Ende. Das Gerangel um die Nachfolge ist bereits in vollem Gange. Wer wäre aus seiner Sicht für den Posten geeignet? Was muss die Person mitbringen? Zu diesen Fragen will sich Pfister nicht äussern. «Es ist nicht mehr an mir, das zu kommentieren.»
Er für seinen Teil freue sich einfach darauf, wieder «nur» Politiker sein zu können. Darauf, wieder mehr Freiheit zu haben. Und mehr Zeit, um Teil der einen oder anderen Kommission zu werden. Welcher, das will Pfister nicht sagen.
Auch auf die Frage, ob er damit liebäugelt, in den Ständerat zu ziehen, antwortet er nicht direkt: «Ich kann mir das Ständeratsmandat durchaus vorstellen. Aber auch diese Frage entscheide ich dann, wenn sie sich konkret stellt.»
Pfister beherrscht es, zu reden, ohne etwas zu sagen. Und dabei staatsmännisch daherzukommen. Genau mit diesem Verhalten heizte er die Gerüchteküche an. Diese besagte: Wenn Pfister in den Spiegel schaue, sehe er einen Bundesrat.
Noch grösser wurden die Spekulationen, als er seinen Rücktritt bekannt gab, kurz bevor Viola Amherd ihren aus dem Bundesrat publik machte. In die beste Position für den Bundesratsposten habe Pfister sich so gebracht, hiess es seitens Medien. Natürlich musste er das so geplant haben. Er, der Meisterstratege.
Doch dann sagte Pfister überraschend für das Bundesratsrennen ab.
Pfister gibt zu, dass es ihn gefreut hat, dass man ihm den Bundesrat zugetraut hat. Aber: «Ich wollte nie Bundesrat werden. Das passt einfach nicht zu mir.» Er sei lieber in der Legislative. Im Bundesrat würde er sich zu eingeengt fühlen. Und der ganze Rummel um die eigene Person, das sei ihm zu viel.
Es könnten leere Worte sein. Worte von einem, der realistisch abgeschätzt hat, dass er schlechte Chancen gehabt hätte, gewählt zu werden. Weil er in den letzten Jahren zu vielen auf die Füsse getreten ist. In der eigenen Partei mit dem Verlust des «C» und seinem Führungsstil. Bei den Bürgerlichen mit seiner Haltung bei gewissen Themen. Etwa im Ukrainekrieg, zu dem er als einer der ersten klar Stellung bezog, indem er die Frage in den Raum warf: «Wann wird Neutralität unanständig?»
Vielleicht sind es aber auch keine leeren Worte. Pfister scheint das heutige Fest in vollen Zügen geniessen zu können. «Es ist sehr schön hier anzukommen. So viele Leute zu kennen», sagt er. Doch dann rutscht ihm der Satz heraus: «Natürlich wäre es für mich persönlich nochmals etwas anderes, wenn das Fest in Oberägeri wäre.» In Oberägeri, seinem Wohnort.
Bereut er es doch, nie versucht zu haben, Bundesrat zu werden? Pfister steht inmitten der Menge zu Füssen des Podests, auf dem bald Reden gehalten werden. Schaut hinauf, zum anderen Pfister. Dem Bundesrat Pfister. Genau wie alle anderen, Bürgerinnen und Parlamentarier. Und sagt: