Die Volksrechte sind in der Schweiz eine Art säkulares Heiligtum. Wie aber soll die direkte Demokratie ins digitale Zeitalter überführt und der «Generation Z» zugänglich gemacht werden? Über diese Frage wird lebhaft gestritten. Nun schaltet sich die wirtschaftsnahe Denkfabrik Avenir Suisse mit ihrer Publikation «Digitale Direkte Demokratie» in die Debatte ein.
«Sie ist unser Geschenk an die Schweiz zum 1. August», sagte Direktor Peter Grünenfelder am Dienstag vor den Medien. Zur Wesensart der direkten Demokratie gehöre «ihre stetige Weiterentwicklung», betonte er und verwies auf das Frauenstimmrecht und die briefliche Stimmabgabe. In beiden Fällen habe es bis zur Einführung mehrere Anläufe gebraucht.
Bei der «E-Demokratie» sieht es ähnlich aus. So hat der Bundesrat Ende Juni beschlossen, die Einführung des E-Voting auf Eis zu legen. Zuvor war ein von der Post entwickeltes System bei einem öffentlichen Hacker-Test durchgefallen. Für zusätzlichen Druck sorgt eine von ganz links bis ganz rechts unterstützte Volksinitiative für ein E-Voting-Moratorium von mindestens fünf Jahren.
Für Ärger sorgt auch die Einführung einer für das digitale Abstimmen unerlässlichen E-ID. Der Bundesrat will, dass private Firmen den «digitalen Pass» herausgeben. Der Ständerat unterstützte ihn dabei in der Sommersession. Eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung – inklusive die «Generation Smartphone» – hingegen verlangt gemäss einer Umfrage eine staatliche Lösung.
Für Peter Grünenfelder sind solche Phänomene Ausdruck einer «Technologie-Aversion» in einem eigentlich für seine Innovationskraft bekannten Land. Ein weiteres Beispiel sei die Blockade beim Bau der 5G-Infrastruktur. Der Avenir-Suisse-Direktor befürchtet einen weiteren Reformstau, dabei könne die Schweiz «ein Vorreiter der Demokratie-Entwicklung im digitalen Zeitalter sein».
Andere Länder sehen in den digitalen Tools eine Chance, um die Teilnahme der Bevölkerung am politischen Prozess zu erleichtern. Das sei in der Schweiz «nicht unbedingt nötig», räumte Fabian Schnell ein, Co-Autor der neuen Publikation. Durch das Milizsystem, den Föderalismus und die regelmässigen Abstimmungen über Sachvorlagen sei die Beteiligung schon heute hoch.
Dennoch müsse man sich Gedanken machen über die Weiterentwicklung des Systems. Das neue Papier von Avenir Suisse konzentriert sich auf drei zentrale Punkte:
Es ist längst Usus, Unterschriftenbögen für Initiativen und Referenden aus dem Internet herunterzuladen. Der Sammelprozess sei aber nach wie vor ressourcenintensiv, sagte Matthias Ammann, der die Studie mitverfasst hat. Durch ein «echtes» E-Collecting mit der E-ID werde er einfacher, effizienter und kostengünstiger: «Dies stärkt die Volksrechte.»
Im Gegenzug erwarten die Autoren eine Zunahme der Initiativen und Referenden. Diese liesse sich bewältigen, sind sie überzeugt, dennoch wollen sie das nötige Quorum von zwei auf sechs Prozent der Stimmberechtigten erhöhen. Damit stechen sie in ein Wespennest. Seit den 1970er Jahren wurde die Unterschriftenzahl nicht mehr erhöht, obwohl die Bevölkerung stark gewachsen ist.
Die Studie schlägt vor, dass die Initianten vor der Sammelphase entscheiden müssen, ob sie die Unterschriften handschriftlich oder elektronisch beschaffen wollen. Im ersten Fall würde das heutige Quorum (rund 100'000 Unterschriften) gelten, im zweiten die Erhöhung auf rund 300'000. Als Alternative ist eine Verkürzung der Sammelfrist bei gleicher Unterschriftenzahl angedacht.
Die Meinungsbildung im digitalen Raum ist längst Tatsache. Die Zahl der Informationsquellen hat sich erhöht, mit den sozialen Medien als «Verstärker». Damit steigen aber auch die Risiken, etwa durch die Bildung von Filterblasen. Der Missbrauch von Facebook-Nutzerdaten durch die Firma Cambridge Analytica hat die Möglichkeiten der Manipulation des Stimmvolks aufgezeigt.
Für die Schweiz orten die Autoren von Avenir Suisse dennoch kein grosses Problem. Nach wie vor würden unterschiedliche Medien zur Informationsbeschaffung genutzt. «Der physische Raum dient als Korrektiv zur digitalen Sphäre», sagte Matthias Ammann. Studien hätten gezeigt, dass die Bevölkerung den digitalen Medien weniger vertraue als den klassischen.
Am Ende überwögen auch bei der E-Discussion die Chancen. Digitale Hilfsmittel wie Smartvote erzeugten Transparenz, sie ermöglichten eine Überprüfung des Stimmverhaltens der Politikerinnen und Politiker. Diese müssten Abweichungen von früheren Positionen begründen. Es gebe keinen Grund, in diesem Bereich regulierend einzugreifen, meinte Ammann.
Dieser Aspekt ist besonders umstritten. Dabei fänden in der Schweiz seit 15 Jahren Versuche mit der elektronischen Stimmabgabe statt, ohne dass es zu grösseren Problemen gekommen sei, sagte Fabian Schnell. Die Mehrheit der Kantone habe damit Erfahrungen gesammelt. «In der Debatte über die Risiken geht das demokratiepolitische Potenzial vergessen», so der Autor.
Das Wahlrecht in der Schweiz sei schon heute nicht vollkommen. So ist die geheime Abstimmung an Landsgemeinden und Gemeindeversammlungen nicht gewährleistet. Das Ausfüllen des Zettels zu Hause statt im Wahllokal und die briefliche Stimmabgabe erhöhten das Missbrauchspotenzial. Nur so aber könne das System regelmässiger Volksabstimmungen effizient gehalten werden.
Das E-Voting erleichtere den Zugang für Auslandschweizer und die «Generation Z». Eine ungültige Stimmabgabe etwa durch fehlerhaft ausgefüllte Wahlzettel lasse das System gar nicht erst zu. Es eröffne zudem neue Möglichkeiten für die Partizipation der nicht stimmberechtigen Bevölkerung, zum Beispiel Minderjährige oder Ausländer, bei geringen Kosten.
Für Avenir Suisse muss die Schweiz das E-Voting weiterverfolgen, statt es zu verhindern. «Sicherheit vor Tempo ist richtig, aber daraus darf kein Stillstand entstehen», sagte Fabian Schnell. Die Denkfabrik dürfte mit ihrer neuen Publikation die kontroverse Debatte weiter beleben. Ihr Fazit: «Die Demokratie kann und muss nicht vor der Digitalisierung geschützt werden.»