Am 30. November 1993 fand in Zürich eine denkwürdige Medienkonferenz statt: Sabine Geistlich vom Vorstand der «Arbeitsgemeinschaft für risikoarmen Umgang mit Drogen» (Arud) und Versuchsleiter André Seidenberg stellten die kontrollierte Abgabe von Diacetylmorphin, medizinischem Heroin, vor.
Das Bundesamt für Gesundheit hatte die ärztliche Verschreibung von medizinischem Heroin als Pilotprojekt endlich bewilligt. Das Drogenelend am Letten, dem «Schandfleck der Stadt», war da noch in vollem Gange. Die Stadt schloss die offene Drogenszene mit täglich bis zu tausend Süchtigen erst 1995.
In einer ersten Phase nahmen 200 Abhängige aus der Stadt Zürich an der kontrollierten Opioid-Abgabe teil. Danach folgten rund 1000 weitere Personen in anderen Schweizer Zentren. Die Arud, der Name ist bis heute geblieben, gab bei Projektstart Methadon und Morphin ab, im Januar 1994 folgte dann das Heroin.
Im Sommer 1994 gab es in der Stadt Zürich zudem einen Versuch mit Kokainzigaretten. Dieser wurde jedoch wieder beendet, weil Kokainzigaretten politisch nicht akzeptiert wurden. Kokain ist bis heute nicht Teil der kontrollierten Drogenabgabe. Den Stoff, auch in den Mischformen Crack und Freebase, gibt es nur illegal.
Die Abgabe von medizinischem Heroin entpuppte sich als Erfolg: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten sich deutlich stabilisieren, die Beschaffungskriminalität in der Stadt Zürich ging um 70 Prozent zurück. Bis heute gilt die Abgabe von so genannten Opioid-Agonisten als wichtiger Teil der «Vier-Säulen-Politik», die aus Prävention, Therapie, Repression und Schadensminderung besteht.
Aktuell beziehen rund 1600 Personen medizinisches Heroin über eines der 22 Abgabezentren in der Schweiz, davon entfallen 550 auf das Arud-Zentrum in Zürich. Viele von ihnen sind bereits älter und erlebten den Letten und zuvor den Platzspitz mit.
«Leider gibt es bis heute noch einige Kantone, die keine ärztlich kontrollierte Drogenabgabe haben», sagte Thilo Beck, Co-Chefarzt Psychiatrie der Arud, auf Anfrage von Keystone-SDA.
Die weissen Flecken auf der Landkarte sind unter anderem Tessin, Jura, Wallis, Thurgau sowie vier Kantone in der Zentralschweiz. «Das ist eine grosse Ungerechtigkeit im Versorgungssystem und widerspricht dem Menschenrecht auf adäquate ärztliche Behandlung», sagte Beck weiter. Wer im Tessin abhängig sei und an einem Programm mit medizinischem Heroin teilnehmen wolle, müsse zwangsläufig in einen anderen Kanton ziehen.
Dass die «weissen Flecken» doch noch nachziehen, glaubt Beck nicht unbedingt. «Der Problemdruck für Städte und Kantone ist nicht mehr vorhanden, weil es dank der Vier-Säulen-Politik keine offenen Szenen wie in den 1990er-Jahren mehr gibt.» Die Abhängigen seien aber immer noch da. «Sie stören nur nicht mehr.»
Nach wie vor beziehen nur 10 Prozent aller Programmteilnehmerinnen und -teilnehmer Heroin. Am meisten verschrieben werden die Opioide Methadon, Morphin und Buprenorphin. Heroin folgt erst auf Platz vier – in erster Linie, weil die gesetzlichen Hürden für die Teilnahme an der Heroin-Abgabe höher sind als bei den anderen Stoffen.
Die meisten Heroin-Bezüger und -Bezügerinnen spritzen heute nicht mehr, sondern erhalten Tabletten. Viele von ihnen zerhacken die Tabletten aber gerne und schnupfen sie, was die Nase schädigt. Aktuell läuft deshalb eine Beobachtungsstudie mit flüssigem Heroin, das ohne Schäden zu hinterlassen in die Nase gesprüht werden kann.
Wie steht es um Fentanyl? Das Schmerzmittel, das etwa 50 Mal stärker als Heroin wirkt, hat sich in den USA zur häufigsten Todesursache für Menschen im Alter zwischen 18 und 49 Jahren entwickelt. Ein solches Elend werde es in der Schweiz aus verschiedenen Gründen kaum geben, sagte Thilo Beck, Co-Chefarzt Psychiatrie der suchtmedizinischen Institution Arud.
Bisher gibt es gemäss Beck keine Anzeichen für eine Fentanyl-Welle in der Schweiz. Die Voraussetzungen in der Schweiz seien verglichen mit den USA völlig anders. Hier habe es nie in dem Ausmass eine ärztliche Überverschreibung von opioidhaltigen Schmerzmitteln gegeben wie in den USA.
Abhängig gewordene Patientinnen und Patienten in den USA werden von ihren Ärzten nicht mehr weiter mit Schmerzmitteln versorgt, sodass die Betroffenen auf den Schwarzmarkt ausweichen müssen.
In der Schweiz gebe es zudem viel bessere Behandlungsangebote für Opioidabhängige als in den USA, sagte Beck weiter. Zu beobachten seien aktuell Jugendliche, die nicht über ärztliche Verschreibungen an starke Schmerzmittel gekommen seien, sondern über den Schwarzmarkt. Diese Betroffenen müsse man so schnell wie möglich in Behandlung nehmen, um Todesfälle zu vermeiden.
Eine Entzugsbehandlung sei dabei nicht immer das erste Ziel. «Sind die Jugendlichen noch in der Schule oder der Lehre, oder haben sie bereits eine Arbeitsstelle, könnte eine solche Massnahme ihre Entwicklung unterbrechen und gefährden», so Beck.
In diesen Fällen wird zunächst auf eine Behandlung mit Buprenorphin, Methadon oder Morphium «umgestellt», damit die Jugendlichen sich stabilisieren können, ohne ihre Anstellung oder Ausbildung zu gefährden.
Immer wieder kommen Delegationen aus den USA in die Schweiz, um sich über das «Schweizer Modell» zu informieren. Politisch hatten solch «pragmatische» Ansätze in den USA bisher aber wenig Chancen.
Die USA setzen seit jeher vor allem auf vollständige Drogenabstinenz. Entzüge bergen jedoch auch Risiken: Werden Fentanyl-Abhängige nach einem Entzug rückfällig, haben sie ein noch viel höheres Sterberisiko als vorher.
Auch wenn das System in der Schweiz gut funktioniert, gibt es noch Raum für Verbesserungen. Handlungsbedarf sieht Beck etwa bei der Häufigkeit, mit der Heroin-Bezüger ihr Medikament abholen müssen: Die Abgabestellen dürfen Heroin nur für maximal eine Woche mit nach Hause geben. Alle anderen Opioide gibt es hingegen für einen Monat «auf Vorrat».
«Wir wünschen uns, dass es auch Heroin für einen Monat gibt», sagte Beck – also eine Gleichstellung der Heroin-Bezügerinnen und -Bezüger. Die Leute hätten das grossmehrheitlich im Griff, zeigte er sich überzeugt. Nur ein sehr kleiner Teil verkaufe die Mitgaben auf dem Schwarzmarkt. Dann würden die Mitgaben sofort eingestellt.
Die meisten von ihnen seien Langzeitpatienten, die ein normales Leben mit Beruf, Familie und Hobbys führten oder sich sonst weitgehend stabilisiert hätten. «Aber zwei Wochen Ferien sind ihnen nicht möglich, weil das Heroin ausgeht.» (saw/sda)