Das Ziel ist klar: Bis 2050 will die Schweiz klimaneutral werden. Ob sie das schafft, hängt auch davon ab, womit wir unsere Wohnungen und Häuser heizen. Denn die Gebäude sind für ein Viertel der CO₂-Emissionen im Land verantwortlich – 39 Prozent der Haushalte heizen mit Öl und 17,5 Prozent mit Gas (Stand 2022).
Werden neue Häuser gebaut, müssten angesichts der Klimaziele ausschliesslich erneuerbare Energieträger wie Wärmepumpen oder Holz zum Einsatz kommen – könnte man meinen. Doch nun zeigt eine Studie, dass selbst in Neubauten fossile Heizungen eingebaut werden, wobei die Unterschiede je nach Gemeinde sehr gross sind. Gemäss einer Auswertung des auf Klimafragen spezialisierten Beratungsunternehmen Navitas Consilium, die CH Media exklusiv vorliegt, werden in 22 Prozent der Schweizer Gemeinden in Neubauten noch fossile Heizungen installiert.
Die Zahl bezieht sich auf jene Gemeinden, die zwischen September 2022 und September 2023 Neubauten im Gebäude- und Wohnungsregister des Bundes eingetragen haben. Meldeten sie ein nicht erneuerbares Heizungssystem, handelte es sich in drei Viertel der Fälle um eine Gasheizung, seltener um eine Öl- oder Elektroheizung.
«Dass trotz Klimanotstand in neuen Häusern fossile Heizungen zum Einsatz kommen, ist auf den ersten Blick schockierend», sagt Navitas-Direktor Gabriel Ruiz. Damit würden die Weichen langfristig falsch gestellt. Denn Öl- und Gasheizungen überdauern gut 20 Jahre.
Bei den Daten sei zu beachten, dass Neubauten zeitverzögert im Gebäuderegister erscheinen könnten, sagt Ruiz. Daher müsse man sich den Kontext der einzelnen Gemeinden genau anschauen.
Aussagekräftig sind grössere Gemeinden, da die Zahl der Neubauten bei kleinen Orten tief ist. Bei den Städten mit über 30'000 Einwohnenden brillieren Freiburg, Thun, Vernier, Chur, Emmen und Köniz: Hier kamen bei Neubauten im untersuchten Zeitraum zu 100 Prozent erneuerbare Heizungen zum Einsatz.
Auf dem Podest der Städte mit dem höchsten Anteil an nicht erneuerbar beheizten Neubauten landen Neuenburg (47 Prozent), Uster (34 Prozent) und La Chaux-de-Fonds (32 Prozent). Wie ist der fossile Backlash in den beiden Neuenburger und der Zürcher Gemeinde zu erklären?
Nachfrage beim Energiedelegierten der Stadt Neuenburg, Stefano Benagli. Er sagt, dass bis zu zwei Jahre vergehen zwischen dem Einreichen eines Baugesuches, der Bauphase und dem Eintrag im Gebäuderegister. Von Belang ist in Neuenburg daher das revidierte kantonale Energiegesetz, das im Mai 2021 in Kraft trat und die aktuellste Fassung der Mustervorschriften im Energiebereich umsetzt. Dabei handelt es sich um Leitlinien der Konferenz kantonaler Energiedirektoren (EnDK) aus dem Jahr 2014. Für Neubauten sehen sie vor, dass fossile Heizungen nur noch unter strengen Bedingungen installiert werden dürfen. So muss das Haus genügend gut isoliert sein. Zudem gilt wie bereits in den älteren Mustervorschriften, dass mindestens 20 Prozent der Energie erneuerbar sein muss. Das kann indes auch über die Warmwasseraufbereitung erreicht werden.
Kurz vor Inkrafttreten der Verschärfungen im Mai 2021 seien in Neuenburg die Baugesuche für Neubauten «stark angestiegen», sagt Benagli. Betroffene haben also schnell ein Baugesuch eingereicht, um noch mit tieferen Auflagen eine Öl- oder Gasheizung installieren zu können. Der Energiedelegierte betont, dass eine Auswertung nächstes Jahr andere Resultate hervorbrächte, weil Gesuche für Wärmepumpen seit der Gesetzesrevision stark zugenommen haben.
Für Uster gilt dieselbe Erklärung wie im Kanton Neuenburg: Die Stadt spricht von einem «Schlupfloch», das Bauherren ausgenutzt hätten. Es seien «sehr viele Baugesuche» vor dem 1. September 2022 eingereicht worden. An diesem Tag trat die Revision des Zürcher Energiegesetzes in Kraft.
Auch wenn die Studienresultate somit eine überholte Gesetzeslage widerspiegeln, sind sie relevant für die Zukunft. Denn in sieben Kantonen gelten die aktuellsten Mustervorschriften im Bereich der Neubauten, wie sie in Neuenburg und Zürich eingeführt wurden, noch nicht. Laut der Energiedirektorenkonferenz läuft in Solothurn, der Waadt und dem Aargau der parlamentarische Revisionsprozess. In Uri, Basel-Land, dem Tessin und dem Wallis sind die restriktiveren Regeln verabschiedet und stehen kurz vor dem Inkrafttreten.
In diesen Kantonen könnte es vor der Verschärfung ebenfalls zu einem kurzfristigen Boom bei den fossilen Heizungen kommen. Nach Einschätzung von Olivier Brenner, stellvertretender Generalsekretär der EnDK, dürfte dieser Fall vor allem hinsichtlich grösserer Wohnüberbauungen eintreten, aber eher Ausnahme denn Regel bleiben.
Dem Vertreter der Kantone bereiten die Neubauten weniger Sorgen als der Ersatz von Öl- und Gasheizungen in bestehenden Gebäuden. Brenner verweist auf eine Marktanalyse des Immobilienberaters WüestPartner. Sie zeigt, dass fossile Heizungen 2022 in der Schweiz bei neuen Einfamilienhäusern auf einen Marktanteil von 1 Prozent kamen. Im Fall eines Heizungsersatzes oder eines Umbaus wurde dagegen noch in 18 Prozent der Fälle auf nicht erneuerbare Systeme gesetzt, wobei die Zahlen rückläufig sind. Bei Mehrfamilienhäusern liegen die Werte mit 3 Prozent bzw. 34 Prozent höher.
Die Energiedirektorenkonferenz will darum die Mustervorschriften im Bereich des Heizungsersatzes verschärfen. Die überarbeiteten Leitlinien befinden sich in Konsultation und sollen im Frühling 2024 verabschiedet werden. Sie sehen vor, dass spätestens ab 2030 Öl- und Gasheizungen in bestehenden Häusern nur noch installiert werden dürfen, wenn es technisch nicht anders geht.
Faktisch handelt es sich um ein Verbot von neuen fossilen Heizungen, wie dies die Kantone Basel-Stadt, Zürich und Genf bereits kennen. Damit die restriktiveren Regeln bald andernorts greifen, müssten die jeweiligen Kantone ihre Energiegesetze revidieren. Auch hier wäre gemäss Olivier Brenner nicht zu vermeiden, dass manche Eigentümer vor der Verschärfung noch rasch ihre Heizung auswechseln – insbesondere bei nicht bewohnten Bauten. Der Weg zum Netto-Null-Ziel 2050 bleibt voller Hürden. (aargauerzeitung.ch)
ahaok
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