Richtig sparen: Am ängstlichsten sind jene, die es am nötigsten hätten
Viele Menschen in der Schweiz sind Aktienmuffel. Die keineswegs neue Erkenntnis wird von einer aktuellen Untersuchung der Hochschule Luzern einmal mehr eindrücklich bestätigt. Eine repräsentative Umfrage von 2005 Personen im Alter zwischen 18 und 79 Jahren zeigt: Nur jede zweite Person investiert freies Sparkapital in eigener Verantwortung (ausserhalb von Pensionskasse und Säule 3a) in Wertschriften wie Aktien, Anlagefonds oder Obligationen. Am wenigsten tun es junge Leute ohne Hochschulbildung (42 Prozent) mit wenig Vermögen und niedrigem Einkommen. Am meisten investieren Rentnerinnen und Rentner.
Gesellschaftliches Problem
Was logisch klingt und selten hinterfragt wird, ist tatsächlich ein grosses gesellschaftliches Problem, das weit über die Schweizer Grenzen hinausgeht. Die demografische Entwicklung in den meisten (noch) wohlhabenden Industrieländern verläuft so, dass sie die Rentensysteme destabilisiert und die finanziellen Lasten für die jüngeren Generationen wachsen. Die hohe Verschuldung vieler Staaten lässt eine effiziente Selbstvorsorge jüngerer Generationen umso dringlicher erscheinen.
Im Prinzip gäbe es einen einfachen Weg, das Problem wenigstens zu entschärfen: Würde die breite Bevölkerung über eine angemessene Finanzbildung verfügen, hätten sie eine konkrete Vorstellung davon, wie sich ein investiertes Vermögen im Vergleich zu einem nicht investierten Vermögen im Zeitablauf entwickelt. Und die Leute wüssten auch, was es beim Investieren und beim Nicht-Investieren mit den Chancen und Risiken auf sich hat.
Doch die Finanzbildung in der breiten Bevölkerung ist erbärmlich. Die OECD, der Pariser Club der alten Industrieländer, dem auch die Schweiz angehört, konstatierte vor zwei Jahren in einer Bestandesaufnahme über das Finanzwissen in ihren Mitgliedsländern: Nur ein Drittel besitzt ein minimales Standardwissen. 84 Prozent kennen zwar die Definition von Geldentwertung bzw. von Inflation. Aber ein Drittel kann das Wissen nicht auf die eigene finanzielle Situation anwenden.
Mag sein, dass das Finanzwissen in der Schweiz im Durchschnitt etwas höher liegt. Aber sicher ist das nicht, und vor allem ist es auch hierzulande so ungleich verteilt wie anderswo. Die Untersuchung der Hochschule Luzern lässt erkennen, wie stark das Wissen zwischen Personen mit und ohne eigene Anlageerfahrung auseinanderklafft.
Unwissen führt zu Angst
Von den Befragten mit eigener Anlageerfahrung antworteten mehr als doppelt so viele, dass sie bereit seien, mit ihren Anlagen ein Risiko einzugehen – eigentlich eine Selbstverständlichkeit, wenn man das Ziel einer Rendite vor Augen hat. Doch mehr als doppelt so viele Nicht-Anleger als Anleger sagten, sie würden schon bei kleinen Verlusten nervös.
«Angst ist die Folge von fehlendem Wissen», sagt der Wirtschaftsprofessor Erwin Heri von der Universität Basel, der in früheren Jahren unter anderem die Anlage des Kapitals der Winterthur Versicherungen verantwortet hatte und seit elf Jahren das Portal Fintool betreibt, das autodidaktischen Anlegern einen niederschwelligen Eintritt in die Welt der Finanzmärkte ermöglicht.
Heri sagt: «Die Sache mit dem Geld anlegen auf den Finanzmärkten ist nicht ganz trivial, aber auch nicht so kompliziert, wie sie oft erscheinen mag.» Manche Fragen seien «schlicht irrelevant», sagt er, und meint zum Beispiel solche nach dem Renditeziel über ein oder zwei Jahre. Denn kurzfristig seien die Bewegungen der Finanzmärkte nicht vorhersehbar. Heri denkt in Zeiträumen von zehn Jahren und länger. Werden Aktienanlagen dann zum sicheren Gewinn? Das suggeriert mindestens die Historie der vergangenen Jahrzehnte.
Sicher ist, dass Aktienkurse stark schwanken können. Die Mehrrendite, die solche Anlagen im Vergleich zu sogenannt risikofreien Staatsanleihen bringen, sei nichts weiter als eine Risikoprämie, erklärt Heri. Historisch betrage sie vier bis sechs Prozent. Weil die Rendite zehnjähriger Bundesobligationen in der Schweiz nun nahe bei null liegt und dort noch länger verharren dürfte, wie Heri glaubt, müsse ein Aktienportefeuille langfristig eine Rendite von vier bis sechs Prozent abwerfen.
«Das ist sehr viel und vielleicht mehr als das, was ein Anleger selber erwirtschaften kann, wenn er im Blick auf die Pensionierung das Geld in der Pensionskasse zu beziehen gedenkt», mahnt Heri. Immerhin belaufen sich die Zinssätze, mit denen Pensionskassen das Vorsorgekapital in Renten umwandeln, in vielen Fällen immer noch auf um die fünf Prozent.
Fast die Hälfte will das Ersparte aus der Pensionskasse holen
Trotzdem wollen 44 Prozent der angehenden Rentner bei der Pensionierung das Ersparte teilweise oder ganz aus der Pensionskasse holen, um es selbst anzulegen, wie die Untersuchung der Hochschule Luzern zeigt. Viele dürften ihre eigenen Fähigkeiten überschätzen, was auch ein Ausdruck von Unwissen ist. Doch Selbstüberschätzung ist ein Phänomen, das bei finanziell gutsituierten Anlegern überdurchschnittlich stark verbreitet ist. Das hält immerhin den Schaden für die Gesellschaft in Grenzen.
Hingegen leiden die meisten Geringverdiener und wenig vermögenden Menschen unter dem gegenteiligen Problem: Sie trauen sich das Anlegen überhaupt nicht zu und unterlassen es deshalb auch mit kleineren Beträgen, mit denen sie es sich leisten könnten und in der Vergangenheit auch hätten leisten sollen. So ist die Schere zwischen Reich und Arm in den zurückliegenden Jahrzehnten immer stärker auseinandergegangen. Die ungleiche Verteilung des Finanzwissens hat einen erheblichen Beitrag dazu geleistet. (aargauerzeitung.ch)
