Die Sonne scheint. Im Café direkt am Bahnhof Lenk sind alle Tische besetzt. Neben den Gästen stehen Snowboards und Ski. Wenige Meter weiter, im Dorfkern, ist es hingegen menschenleer. Die Hauptsaison vorbei.
Läuft ab und an doch ein Einheimischer vorbei, grüsst er Melina freundlich. Sie kennt das Dorf. Und das Dorf sie. Melina heisst eigentlich anders, möchte aber anonym bleiben. Dass manche der 2500 Einwohner ihres Dorfs trotzdem herausfinden könnten, dass sie mit watson spricht, muss sie in Kauf nehmen. Geredet werde schliesslich viel.
Ende Februar hat sich Melina bei watson gemeldet. Grund: Die Umgehung des Zweitwohnungsgesetzes an Tourismusorten – wie auch die Lenk im Simmental einer ist. Deshalb gibt sie eine zweistündige Tour durchs Dorf. Dass die Hauptsaison vorbei ist, sieht man auch an den heruntergelassenen Rollläden. Die Mehrheit der Häuser scheint unbelebt.
Seit eineinhalb Jahren sucht sie nach einer Wohnung an der Lenk. Besichtigt hat sie schon viele, auch neuere oder frisch renovierte Gebäude. Die Mietpreise seien mittlerweile auf einem städtischen Niveau. Derzeit bezahlt Melina für ihre 3,5-Zimmer-Wohnung mehr als 2000 Franken pro Monat. Sie ist auf der Suche nach etwas Günstigerem. Bisher erfolglos.
«Für Einheimische ist es viel schwerer, etwas Passendes zu finden, als für wohlhabende Externe», sagt sie. Sie fügt an, dass es in ihrem Fall lange nicht so schlimm sei, wie etwa im Oberengadin. Aber mühsam sei es: So habe der private Eigentümer bei einer Besichtigung gesagt, dass die Einheimischen nur jene Wohnungen auf der Nordseite des Gebäudes mieten dürfen. Den Touristen ist die Sonnenseite vorbehalten. Viele junge Einheimische würden deshalb aus der Gemeinde in die Nachbargemeinden ziehen, um eine bezahlbare Wohnung zu finden.
Dagegen, dass Bergdörfer aussterben, weil reiche Externe mit ihrem Wunsch nach einer Zweitwohnung die Preise in die Höhe treiben, hätte eigentlich das Zweitwohnungsgesetz vorgehen sollen. 2012 stimmte das Schweizer Stimmvolk klar für die Initiative. Doch nun, 12 Jahre später, ist sich Melina nicht sicher, ob das Gesetz überhaupt etwas bewirken konnte. «Trotz dieser Regulierungen habe ich Angst, dass die Lenk sukzessive zum Geisterdorf wird.»
Sie habe sich bei der Abstimmung für die Zweitwohnungsinitiative klar dafür ausgesprochen. Würde die Abstimmung heute nochmal stattfinden, würde sie nochmals Ja stimmen. Sie findet: «Jeder Quadratmeter Wiese, der noch verbaut wird, ist einer zu viel.» Lenk hätte aus Melinas Sicht eigentlich genug Wohnraum – aber dieser stehe entweder ganzjährig oder teilweise leer.
Das Parlament hat Anfang März gutgeheissen, dass Häuser, die vor 2012 gebaut worden sind, abgerissen, neu aufgebaut, saniert, in einem gewissen Grad erweitert und uneingeschränkt – auch als Zweitwohnungen – genutzt werden dürfen. Melina sagt dazu: «Aus Eigentümersicht ist das rentabel, so kann man den Wert der Wohnung steigern. Aber für uns Einheimische bedeutet das, dass das Angebot an bezahlbaren Wohnungen weiter schrumpft.»
Mitten im Dorf ragen auf einer Wiese die Baupfeiler für die «Kinostrasse Lenk» aus dem Boden. Im Verlauf der Baubewilligung habe es eine Projektänderung gegeben und nun soll die Hälfte der entstehenden sieben Wohnungen doch Touristen zur Verfügung stehen. «Die Probleme des Projekts sind Profitgier und Spekulation. Die Wohnungen, die als Erstwohnsitz angedacht waren, sind teuer und nur im Eigentum zu haben. Als Mieterin oder Normalverdienerin hat man keine Chance.»
Auf der Website bewirbt die Grato Immobilien AG das Bauprojekt wie folgt:
Melina macht das Inserat wütend: «Wir Einheimischen müssen uns in der Zwischensaison die leerstehenden Geisterhäuser anschauen und finden gleichzeitig keine bezahlbare Wohnung.» Schon jetzt wird Melina diese Absurdität täglich vor Augen geführt. Direkt bei ihrer jetzigen Wohnung befinden sich zahlreiche schicke Chalets. Ihre Besitzer sieht Melina etwa für eine Woche im Jahr. «Für sie sind diese Häuser eine reine Geldanlage.» Sie seien nicht auf Mieterträge angewiesen, um mehr warme Betten an der Lenk zu generieren.
watson hat bei der Grato Immobilien AG nachgefragt, was sie davon hält, dass es gewisse Menschen aus der Gemeinde stossend finden, dass sie mit einem Schlupfloch im Gesetz für ihr neustes Projekt wirbt. Die E-Mail wurde jedoch nicht beantwortet.
Melina ist selbst in der Baubranche tätig. In ihrem Geschäft liegt der Fokus klar auf dem Bau von Erstwohnungen. Denn: Mit den Zweitwohnungen kommen auch ausladende Infrastrukturbauten, wie Strassen, Leitungen, Kanalisation. Bezahlt vom Steuerzahler. «Bei einem Anteil von ungefähr 65 Prozent Zweitwohnungen kommt schon viel zusammen», schlussfolgert sie.
Und sie fügt an: «Es ist ein Fakt, dass die Ferienwohnungen meist ganzjährig und 24 Stunden am Tag mit Öl heizen, sonst könnten die Leitungen einfrieren.» Aus ökologischer Sicht sei das katastrophal.
Dass das Dorf vom Tourismus und den damit einhergehenden guten Infrastrukturen profitiere, sei ihr bewusst. So wurde das Hallenbad zum Erlebnisbad mit stolzem Eintrittspreis – Einheimische zahlen 13 Franken und Externe 16 Franken. Die Restaurants meiden Melina und ihr Partner während der Hochsaison, diese seien viel zu voll. Während dieser Zeit käme es auch vor, dass sie nur sehr spärliche Internetverbindung hätten, was Homeoffice erschweren würde. Das Netz ist überlastet.
Sie sagt: «Wir hier in den Bergregionen haben dieselben Probleme wie die Städte. Sie wären lösbar. Aber nicht, wenn es weiterhin nur um die Rendite und Gewinnmaximierung geht.»
Lösungsvorschläge hat sie einige. Ein vorgeschriebenes Verhältnis von Erst- und Zweitwohnungen bei Neubauten, etwa. Oder mehr Projekte, wie etwa, dass remote Arbeitsplätze ausserhalb des Tourismus geschaffen werden, welche die Wertschöpfung in der Region steigern würden. Denn die Löhne im Tourismussektor seien nicht die besten. Gerade für die Leute, die in der Gastronomie oder bei den Bergbahnen arbeiteten, sei die Lage prekär. Die Zustände der kleinen Wohnungen, in denen sie unterkommen, seien desolat und der bezahlbare Wohnraum knapp.
Anfang Januar erreichte die watson Redaktion auch die Nachricht von einem anderen User. Er wohnt in Celerina/Schlarigna, direkt neben Sankt Moritz. Celerina im Oberengadin und Lenk im Simmental trennen fast 200 Kilometer voneinander – doch sie zeigen exemplarisch, mit welchen Problemen die Bergbevölkerung kämpft. Denn auch er beklagt sich.
«Hier in Celerina gilt seit geraumer Zeit der Spruch: ‹Lieber den Job verlieren als die Wohnung›», schreibt er. Die Wohnungsnot der Einheimischen verschärfe sich kontinuierlich – trotz Zweitwohnungsgesetz. Dieses würde ausgehöhlt und die altrechtlichen Wohnungen, also jene, welche vor 2012 gebaut wurden, würden renoviert und zu teuren Zweitwohnungen. Nach seiner Kenntnis hätten über 50 Menschen im Frühling 2023 die Kündigung erhalten, damit aus ihrem Zuhause eine Zweitwohnung werden kann. Danach hätten nur vier davon in Celerina oder in einem Dorf in der Nähe eine Wohnung gefunden. Die anderen hätten das Oberengadin verlassen müssen.
Diese Zahlen kann die Gemeinde Celerina gegenüber watson nicht bestätigen. Sie schreibt aber, dass es Zonen gäbe, in denen nur einheimischer Wohnraum erstellt werden dürfe. Zudem vermiete die Gemeinde Celerina 70 Wohnungen und es seien zahlreiche weitere Wohnungen für Einheimische erstellt worden.
Doch der watson User sagt während einem Telefonat, dass viele dieser Menschen, welche nun ihre Wohnung verloren hätten, in der Gastronomie oder in Hotels gearbeitet hätten. Sie seien vom Tourismus und ihrem guten Ruf im kleinen Dorf abhängig – deshalb würden sie sich nicht trauen, öffentlich über ihr Schicksal zu sprechen. Aus Angst, noch mehr Mühe beim Finden einer Wohnung zu haben. Oder gar ihren Job zu verlieren. Eine weitere Parallele zu den Missständen an der Lenk: Im Dorf kennt man sich.
Merke: Auch Immobilien haben dem Wohl des Kapitals zu dienen, Nutzen als Wohnraum ist nebensächlich.
So entstehen aus 4 altrechtliche Wohnungen in einem Haus neu 4 Ferienwohnungen und dank der Aufstockung kommen 2 Wohnungen für Einheimische dazu. Bilanz: - 2
Doch die Mitte mit Nationalrat Candinas will weiter auflockern, zugunsten der Baubranche. Fatal!