Der Bundesrat macht beim UNO-Migrationspakt eine Kehrtwende. Anders als noch im Oktober kommuniziert, will er diesem nun doch nicht Mitte Dezember in Marrakesch zustimmen. Warum?
Im Parlament hat sich Widerstand formiert. Gleich drei von vier zuständigen Kommissionen, welche die Parlamentsgeschäfte vorberaten, fordern, dass das Parlament, und nicht wie vorgesehen der Bundesrat, über die Zustimmung entscheiden kann. Ein Entscheid von dieser Tragweite soll nicht am Parlament vorbei gefällt werden. Der Pakt soll, wenn überhaupt, zu einem späteren Zeitpunkt angenommen werden.
Der Ständerat befindet am 29. November über den Vorstoss, der Nationalrat am 6. Dezember – also noch vor der Konferenz in Marokko am 10. und 11. Dezember. Der Bundesrat hat deshalb beschlossen, vorerst den Ausgang der parlamentarischen Debatte abzuwarten. In beiden Räten zeichnet sich eine Zustimmung zu den Vorstössen ab. Und selbst wenn die Vorstösse entgegen der Erwartung abgelehnt würden: Die Teilnahme in Marrakesch ist nach dem gestrigen Bundesratsentscheid definitiv vom Tisch.
Hat der Bundesrat versucht, das Parlament zu umgehen?
Beim Pakt handelt es sich um sogenanntes «Soft Law». Die Zustimmung liegt in der Kompetenz des Bundesrates. Allerdings muss er das Parlament vorgängig konsultieren. Ob er dies im Falle des Migrationspaktes ausreichend getan hat, ist umstritten.
Ist der Bundesrat nun für oder gegen den Pakt?
Offiziell ist der Bundesrat nach wie vor überzeugt davon, dass die Schweiz dem Pakt zustimmen soll. Er will dies aber erst nach der parlamentarischen Debatte tun.
Wird der Bundesrat dem Migrationspakt auch zustimmen, wenn das Parlament ihn ablehnt?
Aussenminister Ignazio Cassis sagte gegenüber der Aargauer Zeitung: «Das Parlament kann eine Zustimmung zum Pakt zwar nicht verhindern. Wenn es sich aber klar dagegen ausspricht, ist das ein deutliches Signal für den Bundesrat, das es zu respektieren gilt.»
Das Papier ist rechtlich nicht verbindlich. Warum ist der Widerstand dennoch so gross?
Der Pakt ist politisch verpflichtend. Nichtregierungsorganisationen zum Beispiel könnten ihren Forderungen gestützt auf den Pakt Nachdruck verleihen. Zudem könnte zu einem späteren Zeitpunkt aus dem unverbindlichen Migrationspakt ein verbindliches Vertragswerk entstehen. Dieses würde in der Schweiz aber auf jeden Fall dem Parlament vorgelegt, damit erhielte auch das Volk die Möglichkeit zur Mitbestimmung.
Welches sind die Hauptkritikpunkte?
Die Gegner warnen vor offenen Grenzen, weltweit freiem Personenverkehr und einem festgeschriebenen Recht auf Migration. Der Pakt hält aber explizit fest, dass die Staaten weiterhin selbst über ihre nationale Migrationspolitik bestimmen können.
Wer ist gegen den Pakt?
Alle UNO-Mitglieder mit Ausnahme der USA haben an den Verhandlungen teilgenommen, und diese am 13. Juli per Akklamation abgeschlossen. Vor der formellen Verabschiedung am 10. Dezember hat sich aber Widerstand formiert. Israel, Polen, die USA, Österreich, Ungarn, Australien, Tschechien, Bulgarien und Estland haben dem Pakt bereits eine Absage erteilt. In Deutschland wird er derzeit heftig diskutiert. Kritik am Migrationspakt kommt vor allem von rechts. In der Schweiz wird der Widerstand von der SVP angeführt, die damit auch gleich Werbung für die anstehende Abstimmung über ihre Selbstbestimmungs-Initiative macht. Auch FDP- und CVP-Vertreter zeigen sich skeptisch.
Was bedeutet es, wenn immer mehr Länder abspringen?
Der Migrationspakt ist aktuell nicht absturzgefährdet. Damit er angenommen wird, muss nur eine einfache Mehrheit der 193 UNO-Mitgliedstaaten zustimmen. Allerdings erhält der Pakt mehr Gewicht, je mehr Staaten dabei sind.
Was hat das Papier der Vereinten Nationen mit der Selbstbestimmungs-Initiative (SBI) zu tun?
Nichts. Die Initiative verlangt, dass die Schweizer Verfassung höher gewichtet wird als Völkerrecht. Da der Migrationspakt kein völkerrechtlicher Vertrag ist, wäre er auch nicht von einer Annahme der Initiative betroffen. Die SBI-Befürworter argumentieren im Abstimmungskampf trotzdem mit dem Migrationspakt. Der gestrige Entscheid des Bundesrates dürfte diesem Argument, kurz vor dem Abstimmungssonntag, etwas den Wind aus den Segeln nehmen.
Welche Folgen hätte eine Zustimmung der Schweiz?
Der Bundesrat kommt zum Schluss, dass die Schweiz die gemachten Empfehlungen bereits umsetzt – mit einer Ausnahme. Die Ausschaffungshaft für Minderjährige über 15 Jahren ist in der Schweiz, entgegen der UNO-Empfehlung, erlaubt. Handlungsbedarf entsteht gemäss Bundesrat aber auch hier nicht: Er hat die Abweichung in einer Erklärung festgehalten. Das Parlament will mögliche Auswirkungen nun aber noch genauer unter die Lupe nehmen.
Was steht überhaupt im Migrationspakt?
Mit dem Dokument wollen die Staaten ihre Zusammenarbeit bei der internationalen Migration verbessern. Der Pakt definiert 23 Ziele, von der Verbesserung der Situation in den Herkunftsländern über die Bekämpfung von Schleppern und Menschenhändlern bis zu Massnahmen beim Grenzschutz, einer besseren Zusammenarbeit bei der Rückführung und einem besseren Schutz besonders verletzlicher Migranten. Jedes der Ziele umfasst einen Katalog von möglichen Umsetzungsinstrumenten. (aargauerzeitung.ch)