Eine aussergewöhnlich ruhige SRF-«Arena» war es: Es gab kein Geschrei, kaum Zwischenrufe, keinen SVPler, der die ganze Diskussion in seinem Sinne in die immer gleiche Richtung lenkte, keine Anfeindungen, keine genervten Seufzer.
Das liegt wohl am Thema: Der neue Entwurf für ein Verhandlungsmandat mit der EU, den der Bundesrat Ende 2023 verabschiedet hatte. Es ist der zweite Versuch von Bundesrat Ignazio Cassis, mit der EU zu verhandeln. Und es soll keinen dritten Anlauf brauchen.
Doch dafür ist Cassis auf den Zuspruch der Polparteien angewiesen. 2021 scheiterten die bilateralen Verhandlungen, weil sich die Linken und Gewerkschaften punkto Lohnschutz, die SVP punkto Personenfreizügigkeit querstellten.
Wie sieht es heute aus? Kann der Entwurf für einen neuen Deal mit der EU die einstigen Streitpunkte aus der Welt schaffen? Darüber sinnierten ganz gesittet:
Ebenfalls im Studio:
Zuerst geht’s um den Lohnschutz. Ist dieser noch gefährdet oder nicht? Im neuen Entwurf steht sinngemäss: Schickt eine EU-Firma beispielsweise Elektriker in die Schweiz, müssen diese denselben Lohn erhalten wie Schweizer Elektriker vor Ort. Wie das mit der Spesenabrechnung wäre, steht allerdings noch offen. Gelten die Richtlinien der Schweiz oder jene des Heimatlandes der Firma?
SP-Nationalrat und Gewerkschafter David Roth ist mit dieser ungewissen Ausgangslage überhaupt nicht zufrieden: «Die Spesen sind ein wesentlicher Teil vom Lohn.» Wenn die Verhandlungen damit enden würden, dass die Spesenrichtlinien der Heimatländer gelten, hätte die Schweiz ein Problem. «Es gibt Länder, da werden gar keine Spesen bezahlt.»
FDP-Ständerätin Petra Gössi zeigt Verständnis für die Sorge: «Das ist ein Punkt, den man noch anschauen muss.» Dieses Problem inhaltlich direkt mit der EU zu klären, könne aber sehr schwierig werden. Es gebe aber einen anderen Lösungsweg: indem man auf nationaler Ebene Abhilfe schafft. Deutschland würde das etwa auch so machen.
Gössi hat ihre Rolle für den Abend damit schon gefunden: Sie zeigt sich empathisch, ruhig, nimmt die Ängste der Polparteien ernst, redet sie nicht klein, geht auf Provokationen aber auch nicht zu stark ein. Stattdessen versucht sie darzulegen, wie die Schweiz auf anderem Weg doch noch bekommen kann, was sie will – und wo sie an ihre Grenzen stossen wird. Oder besser gesagt: ab wann sie den Goodwill der EU überstrapaziert.
Therapie und Realitätscheck gleichzeitig.
Vor allem zeigt Gössi in der Sendung aber eines: dass sie ganz genau weiss, dass ein Abkommen mit der EU nicht gelingen kann, wenn gleich zwei Polparteien mit Sitzen im Bundesrat sich quer stellen. Denn bei einem Scheitern müsste ihre Partei wieder den Kopf hinhalten. Und vielleicht bei der nächsten Erneuerungswahl des Bundesrats noch mehr bibbern als 2023.
Als Zweites geht es um die Frage: Müsste die Schweiz neue EU-Richtlinien und -Gesetze, die bestimmte Wirtschaftssektoren wie die Landwirtschaft oder den Verkehr betreffen, künftig automatisch übernehmen?
Im Entwurf für das Verhandlungsmandat heisst die Antwort dazu: Nein, sie könnte nach wie vor – auch mit Abstimmungen – selbst über die Annahme neuer Richtlinien entscheiden. Allerdings mit einem grossen «Aber»: Wenn sie sich weigert, EU-Recht zu übernehmen, kann die EU «angemessene Ausgleichsmassnahmen» ergreifen.
Was wären das denn für «Ausgleichsmassnahmen»? So genau abschätzen kann das auch Europarechtler Matthias Oesch nicht. Denn formuliert ist das Ganze im Entwurf recht umständlich. Diese Unvorhersehbarkeit findet er darum «unschön».
Mehr als unschön, nämlich «absoluter Blödsinn», findet hingegen SVP-Nationalrat Franz Grüter. Der Begriff «Ausgleichsmassnahmen» sei nur ein anderes Wort für «Strafe». Würde die Schweiz nicht tun, was die EU wolle, würde sie bestraft, selbst wenn sich das Schweizer Stimmvolk gegen die EU-Richtlinien entschieden habe: «Das ist dermassen gegen unsere direkte Demokratie! Das schwächt unser Land institutionell.»
Gössi antwortet wieder ruhig: «Selbstverständlich will die EU keine Bilaterale, sie will vor allem Mitglieder. Für die Schweiz kommt eine Mitgliedschaft nicht in Frage. Darum ist das, was wir eben bekommen und was wir haben können, genau diese Bilaterale.»
Sie verstehe, dass das Mitwirken des Europäischen Gerichtshofs vielen ein schlechtes Bauchgefühl gebe. Aber genau darum sei es wichtig, jetzt erst einmal in diese Verhandlungen zu gehen und danach weiterzuschauen «und nicht jetzt schon alles schlechtzureden».
Da wäre noch der dritte Streitpunkt: die Personenfreizügigkeit. Der Entwurf sieht derzeit vor, dass EU-Bürgerinnen künftig eine Daueraufenthaltsgenehmigung erhalten, sobald sie fünf Jahre in der Schweiz gearbeitet haben. Selbst dann, wenn sie ihren Job verlieren und in der Sozialhilfe landen. Kriminelle EU-Bürger könnte die Schweiz aber nach wie vor ausschaffen.
Bei diesem Thema wird an diesem Abend am ehesten tatsächlich gezankt. Grüter findet: «Wenn die alle hierherkommen können und nach fünf Jahren Sozialhilfe beziehen wollen, wenn sie den Job verlieren, dann wird das unser Sozialsystem weiter massiv schwächen.»
Roth hält dagegen: «Ihnen schwebt ein Bild vor von der früheren Baracken-Schweiz, in der man einfach Arbeitnehmende holt und sie so lange bei schlechten Löhnen arbeiten lässt, wie man sie braucht und sie anschliessend wieder wegschickt.» Das entspreche nicht mehr der Realität. Und das sei gut so.
Welchen Einfluss hätten die im Entwurf festgehaltenen neuen Richtlinien tatsächlich auf die Zuwanderung in der Schweiz, will Moderatorin Nathalie Christen schliesslich von Gössi wissen. Diese sagt ohne Umschweife: «Das kann ich nicht abschätzen.» Das Thema werde bestimmt noch «einen schwierigen Punkt» in den Verhandlungen darstellen.
Gössi betreibt bei allem lieben Zureden keine Augenwischerei. Diskutiert wird hier schliesslich erst über einen Entwurf für einen möglichen EU-Deal. Es ist noch nichts in Stein gemeisselt. Verhandlungsspielraum noch da. Die Frage bleibt nur: wo und wie viel?