Er ist 4,2 Meter lang, wiegt 1200 Kilogramm und verfügt über einen panzerbrechenden Sprengkopf von 454 Kilogramm. Er entgeht als Tarnkappenwaffe dem Radar und Abfangjägern, kann stationäre und bewegliche Hochwertziele bekämpfen – und fliegt 1000 Kilometer weit.
Der Marschflugkörper AGM-158B-2 JASSM ist für viele Staaten ein Objekt der Begierde. Die USA, Israel und Australien haben ihn; Polen, Japan und die Niederlande haben ihn zugesichert; Finnland und Deutschland haben ihn bestellt. Deutschland gleich 75 Stück davon.
Auch die Schweizer Armeespitze erwägt ernsthaft, den US-Marschflugkörper zu beschaffen. Er würde vom Kampfflugzeug F-35 aus abgefeuert, von dem die Schweiz 36 Stück bestellt hat. Entsprechende Überlegungen sind im Gang für die neue Armeebotschaft der Jahre 2028 bis 2031. Das bestätigen gegenüber CH Media zwei hochrangige Quellen.
Mit einer allfälligen Beschaffung verfolgt die Armeespitze zwei Ziele: Sie will in Zukunft erstens die Möglichkeit für weitreichende Gegenschläge haben. Mit dem Marschflugkörper würde sie es bis London, Hamburg, Barcelona, Prag, Budapest und Belgrad schaffen. Und von St. Margrethen aus sogar bis Warschau. Damit sollen zweitens potenzielle Angreifer abgehalten werden.
Die Diskussionen hinter den Kulissen um Marschflugkörper hängen mit einem Paradigmenwechsel in der Schweizer Armee zusammen. Seit Marignano 1515, als die Eidgenossen in Italien vernichtend geschlagen wurden, verteidigt die Schweiz Gegner nur noch ab der eigenen Landesgrenze. Besonders deutlich zeigte sich das in den beiden Weltkriegen und im Kalten Krieg.
Doch in einer Zeit, in der Raketen, Lenkwaffen und Drohnen Tausende von Kilometern fliegen, ist statische Defensivverteidigung an der Landesgrenze überholt. Die moderne Militärdoktrin erfordert eine aktive Verteidigung über die Grenzen hinaus.
Die Neuausrichtung wird in der Armeebroschüre «Die Verteidigungsfähigkeit stärken» vom August 2023 angedeutet. «Die Armee prüft derzeit Möglichkeiten, um Schlüsselziele auch auf grössere Distanz mit weitreichendem Feuer bekämpfen zu können», heisst es darin. «Dazu eignen sich beispielsweise bewaffnete Drohnen, Luft-Boden-Lenkwaffen, Loitering Munition oder Raketenartillerie.»
Der Paradigmenwechsel sei «ein grosser, notwendiger Fortschritt in der Armee-Doktrin», sagt Milizoffizier Stefan Holenstein, Präsident des Verbands Militärischer Gesellschaften Schweiz. «Aus dem reinen Aufhalten, dem passiven Verteidigen, wird eine aktive Verteidigung, mit Ausdehnung auf das operative Vorgelände der Schweiz.» Das bedeute: «Wir sind bereit, über die Landesgrenzen zu gehen und auch zu wirken, wenn es nötig ist.»
Selbst SVP-Nationalrat Thomas Hurter begrüsst den Paradigmenwechsel. «Die technologische Entwicklung bedingt es, dass man heute dazu fähig sein muss, Angriffe auf das eigene Land auch ausserhalb der Landesgrenzen abzuwehren», betont er. Der Kampfjet F-35 biete dafür als multifunktionale Plattform viele Möglichkeiten, zum Beispiel mit Lenkwaffen.
Die Armee verbindet diese neue Ausrichtung gleichzeitig damit, dass sie eine fast vergessene militärtaktische Philosophie aus dem Zweiten Weltkrieg und aus dem Kalten Krieg wieder an die Oberfläche holt: die Dissuasion.
«Mir ist aufgefallen, dass vor allem Armeechef Thomas Süssli den Begriff Dissuasion seit Ende letzten Jahres stark propagiert – zu Recht», sagt Holenstein. «Dissuasion bedingt, dass die Schweiz ihre Armee so stark aus- und aufrüstet, dass sie einen Gegner nachhaltig abhalten kann.» Ihm solle wortwörtlich «abgeraten» werden, einen Angriff zu wagen, sagt Holenstein. «Erst dann ist die Schweizer Armee gesamteuropäisch glaubwürdig in ihrer Dissuasion.»
Dass der Begriff Dissuasion wieder wichtig geworden ist, zeigte sich auch bei den Bundesratswahlen vom Dezember. Beim Hearing des Verbands Militärischer Gesellschaften Schweiz wollte man von den Kandidierenden wissen, was Dissuasion bedeute. Der Gefreite Markus Ritter wusste es nicht, Oberst Martin Pfister hingegen schon. Er ist heute Bundesrat.
Bei der Armee bestätigt man, dass Süssli den Begriff Dissuasion wieder verwende. «Er meint damit, dass die Schweiz glaubwürdig darlegen können muss, dass sie bereit ist, ihre Souveränität zu verteidigen», sagt Armeesprecher Stefan Hofer. «Am Boden, in der Luft und im Cyberraum.» Ziel sei es, dass ein potenzieller Gegner einen Angriff gar nicht erst wage. Hofer bezeichnet es als «verteidigen können, um nicht zu müssen».
Was viele nicht wissen: Dissuasion hat nicht die gleiche militärische Bedeutung wie Abschreckung. Der Begriff Abschreckung stammt aus dem Kalten Krieg, als sich mit den USA und der Sowjetunion zwei vor Waffen strotzende Supermächte gegenüberstanden. Albert A. Stahel, in den 1970er-Jahren Leiter der Forschungsstelle für sicherheitspolitische Grundlagenstudien an der Zentralstelle für Gesamtverteidigung, definierte Abschreckung so: Jede der beiden Mächte könne der anderen mit der Vernichtung mit Atomwaffen drohen. «Keine kann aber das Vernichtungspotenzial der Gegenseite ausschalten.»
Dissuasion hingegen ist Kriegsverhinderung durch Verteidigungsbereitschaft. Der Bundesrat schrieb 1973 in seinem Bericht «Konzeption der Gesamtverteidigung»: «Verteidigungsbereitschaft umfasst die sichtbare Entschlossenheit und materielle Fähigkeit, einem feindlichen Angriff standzuhalten, selbst wenn stärkste Mittel nicht nur gegen die Armee, sondern auch gegen die Bevölkerung eingesetzt werden.»
Der amerikanische Politologe Horst Mendershausen, 1933 vor Hitler in die Schweiz geflohen, definierte Dissuasion leichter verständlich: «Wenn du Streitkräfte gegen mich anwendest, so werde ich die Aufgabe deiner Streitkräfte auf meinem eigenen Territorium vereiteln.»
Mendershausens Definition verdeutlicht: Wenn Armeechef Süssli den Begriff Dissuasion verwendet, bezieht er sich zwar indirekt auf den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg. Er hat den Begriff aber adaptiert und in die Neuzeit übertragen: Die Armee will einen potenziellen Gegner über die Landesgrenze hinaus abhalten können.
Armeesprecher Hofer bestätigt das. «Es sind armeeinterne Überlegungen im Gang, die Abhaltewirkung künftig mit Mitteln zu stärken, die über weitere Distanzen jenseits der Landesgrenze eingesetzt werden könnten», sagt er. «Solche Fähigkeiten können einem potenziellen Gegner signalisieren, dass ein Angriff mit hohen Kosten und Risiken verbunden wäre.»
Zu möglichen neuen Waffensystemen wie etwa dem Marschflugkörper AGM-158B-2 will sich Hofer konkret «nicht äussern», wie er festhält. «Dazu sind politische Entscheide erforderlich.» Für die Zeit bis 2027 sei der Aufbau der Fähigkeit, Ziele auf grössere Distanz bekämpfen zu können, sowieso kein Thema. Die aktuelle Armeebotschaft für die Jahre 2024 bis 2027 verlangt Investitionen in die Bodentruppen.
«In den 2030er-Jahren kommen dann die Beschaffung eines Raketenartilleriesystems, aber auch bewaffnete Drohnen, verschiedene Luft-Boden-Lenkwaffen, gelenkte Bomben oder Loitering Munition als Optionen infrage, welche geprüft werden sollen», sagt Hofer. Am wahrscheinlichsten sei eine Kombination dieser Mittel.
Fortschritte im Feuer auf Distanz verzeichnet die Armee heute bereits bei der Artillerie und bei der Boden-Luft-Abwehr. «Mit dem neuen radgestützten Artilleriesystem in der Rüstungsbotschaft 2025 erreichen wir immerhin eine Wirkungsdistanz von 50 Kilometern», sagt Milizoffizier Holenstein. Die Entwicklung gehe aber rasant weiter. «Armee und Armasuisse denken, mit dem richtigen Blick voraus, auch über eine Beschaffung des Artilleriesystems Himars ab 2035 nach.» Himars kommt auf eine Reichweite von 100 bis 300 Kilometern, hatte in der Ukraine grosse Erfolge.
Bei der Boden-Luft-Abwehr hat die Schweiz bereits fünf Patriot-Systeme grosser Reichweite – 160 Kilometer – in den USA bestellt. Dazu sind Verhandlungen im Gang über die Bestellung von vier bis fünf Stück des Boden-Luft-Abwehrsystems Iris T mittlerer Reichweite des deutschen Herstellers Diehl Defence. Diese Lenkkörper erreichen 40 Kilometer und sollen feindliche Flugzeuge, Helikopter und Lenkwaffen bekämpfen.
Wichtig ist für die Schweiz gleichzeitig, dass sie Augen hat, die über die Landesgrenzen hinaus blicken können. Drohnen und Satelliten spielen hier eine zentrale Rolle. Einerseits finanziert das Verteidigungsdepartement zurzeit einen Testsatelliten der Genfer Firma «Wisekey». Er überfliegt seit Januar dreimal täglich die Schweiz. Geplant ist ein souveränes Schweizer Satellitennetz.
Andererseits sollte die 2015 beschaffte israelische Aufklärungsdrohne Hermes-900 nicht unterschätzt werden. Zwar hat sie einen sehr schlechten Ruf, weil sich ihre Einsatzfähigkeit immer wieder verzögert. In Armeekreisen will man sie aber unbedingt behalten: Weil sie der Schweiz Augen bietet bis ans Mittelmeer. Damit kann sie auch Migrationskrisen rechtzeitig entdecken. (aargauerzeitung.ch)