Vergangene Woche hat sich ein 22-jähriger Afghane in Buochs, im Kanton Nidwalden, das Leben genommen. Das schreiben die Nidwaldner Behörden in einer Medienmitteilung. Der junge Mann befand sich seit Sommer 2015 in der Schweiz und besass den Status eines vorläufig Aufgenommenen. Das heisst, sein Asylgesuch wurde zwar abgelehnt, eine Ausweisung nach Afghanistan war allerdings nicht zumutbar.
Der 22-Jährige sei in Nidwalden gut integriert gewesen, habe neben dem obligatorischen Sprachunterricht einen freiwilligen Deutschkurs besucht und seit diesem Sommer ein Praktikum bei einer Firma in Ennetbürgen absolviert. Gewohnt habe er in einer Wohngemeinschaft mit drei afghanischen Mitbewohnern, schreibt der Kanton in seiner Mitteilung.
Hinweise auf einen Suizid hat es laut dem zuständigen Amt für Asyl und Flüchtlinge keine gegeben. «Weder äusserte sich der Mann zu seinen Problemen noch sprach er Selbstmordgedanken aus», so die Behörden. Einzig bekannt sei, dass der junge Mann vor zwei Monaten unter starken Bauchschmerzen gelitten habe. Der Hausarzt habe ihn daraufhin an einen Psychiater überwiesen.
Der Fall des 22-jährigen Afghanen aus Buochs wirft Licht auf ein Problem im Schweizer Asylsystem, das sonst oftmals im Dunkeln bleibt: Kämpfen Flüchtlinge mit psychischen Problemen, hegen sie gar Suizidgedanken, bleibt dies lange unentdeckt. Eine systematische Untersuchung zur Erkennung von psychischen Krankheiten gibt es nicht. Dies obschon Experten davon ausgehen, dass jeder dritte Flüchtling psychisch krank ist.
Franziska Müller ist Bereichsleiterin bei der Politikberatungsfirma Interface. Im Auftrag des Bundes untersuchte sie vergangenes Jahr, wie es in der Schweiz um die Gesundheitsversorgung von Asylsuchenden steht. Mit ihrem Team kam sie zum Schluss: Insbesondere bei der Erkennung und Behandlung von psychischen Erkrankungen besteht grosser Handlungsbedarf.
Zwar würden Asylsuchende nach ihrer Ankunft in der Schweiz in den Empfangs- und Verfahrenszentren einen Gesundheits-Check durchlaufen. Dieser sei jedoch sehr allgemein gehalten. «Die Asylsuchenden werden lediglich auf Krankheiten wie Tuberkulose getestet und erhalten Informationen bezüglich HIV. Psychische Krankheiten spielen bei den Untersuchen keine Rolle», sagt Müller.
Auch auf kantonaler Ebene in den Kollektivzentren würden die Bewohner nicht systematisch auf psychische Probleme angesprochen. Laut Müller sind zum Teil noch nicht einmal ein Gesundheitspersonal, geschweige denn auf psychische Krankheiten oder Trauma geschultes Personal, anwesend, sondern lediglich Sozialarbeiter. Kämpfe ein Asylsuchender mit psychischen Problemen, müsse er die Initiative ergreifen und sich Hilfe holen. «Doch genau da liegt das Problem. Denn psychisch Kranke schaffen es oftmals nicht aus eigenem Antrieb aus ihrem Elend zu kommen», so Müller.
In ihrer Studie hat Müller festgestellt, dass es kantonal grosse Unterschiede gibt. So seien die Kantone in der Westschweiz besser aufgestellt, was die Früherkennung von psychischen Problemen bei Asylsuchenden anbelangt. Insbesondere in den Kantonen Genf und Waadt seien die Strukturen der Gesundheitsversorgung viel migrationssensibler als in der Deutschschweiz. Diese Unterschiede auszuhebeln ist aber schwierig. Der Bund kann den Kantonen lediglich Empfehlungen abgeben, nicht aber Weisungen.
Zumindest habe man nun erkannt, dass ein Problem vorliege, sagt Müller. Ausgehend von ihrer Studie von letztem Jahr hat das Bundesamt für Gesundheit veranlasst, dass nun schweizweit ein Schlaglicht auf die psychische Gesundheit von Asylsuchenden geworfen wird. Es hat eine weitere Untersuchung in Auftrag gegeben, deren Erkenntnisse im Dezember publiziert werden.
Wie schlecht es um die Psyche von Flüchtlingen steht, weiss Mortaza Shahed. Der 31-jährige Kameramann aus Afghanistan drehte vor einem Jahr einen Kurzfilm zum Thema. In «Das verlorene Paradies» porträtiert er einen afghanischen Flüchtling, der Suizidgedanken hegt, weil er sich in der Schweiz keine Existenz aufbauen kann.
Shahed selbst flüchtete vor vier Jahren mit seiner Familie aus Afghanistan in die Schweiz. Zunächst erhielt er, wie der verstorbene 22-Jährige aus Buochs, eine F-Bewilligung. Diese vorläufige Aufnahme sei für ihn psychische Folter gewesen, sagt er. «Du weisst nie, ob du nicht plötzlich abgeschoben wirst. Ich hatte immer Angst.» Einen Arzt habe er während seiner Zeit in der Asylunterkunft nie gesehen. Auch auf seinen psychischen Zustand sei er nicht angesprochen worden. Selber nach psychologischer Unterstützung zu fragen, sei gar nicht erst in Frage gekommen, sagt Shahed.
Seine Situation verbesserte sich schlagartig, als das Bundesverwaltungsgericht vor einem Jahr entschied, ihn als Flüchtling anzuerkennen. Er erhielt eine dauernde Aufenthaltsbewilligung. Er fand einen Job, konnte in der Schweiz Fuss fassen. Doch für viele seiner Landsleute bleibt die Situation schwierig: «Sie kommen schon traumatisiert in die Schweiz und sehen sich hier mit extrem schwierigen Problemen konfrontiert. Hilfe erhalten sie keine.» Shahed weiss von mehreren Flüchtlingen, die es zuletzt nicht mehr ausgehalten haben und sich das Leben nahmen. Darum der Film. «Ich wollte aufrütteln», sagt er.