Je komplizierter etwas wird, desto einfacher ist es, Falsches zu interpretieren. Das ist eine grosse Gefahr der BVG-Reform, der so dringend benötigten Überarbeitung der beruflichen Vorsorge. Über diese wird das Schweizer Stimmvolk im nächsten Jahr abstimmen.
Gleichzeitig geht es um viel Geld: 38 Milliarden kostet die vom Parlament ausgearbeitete Lösung, um die Finanzierung der zweiten Säule zu stärken. Doch Gewerkschaften und SP haben das Referendum ergriffen, weil für sie die Revision «die Ziele verfehlt, viel kostet und zu Rentenkürzungen führt».
Während feststeht, dass vor allem Teilzeitbeschäftigte von der BVG-Reform profitieren, ist unklar, wer zu den Verlierern gehört. Darüber sind sich auch Politikerinnen und Politiker uneinig. Eine neue Studie des Finanzdienstleisters Vermögenszentrum (VZ) bringt nun Licht ins Dunkle.
Ob die Renten durch die BVG-Reform steigen oder sinken, unterscheidet sich stark von Person zu Person, lautet das Fazit der VZ-Studie. Die Berechnungen zeigen auch drei Beispielen von Personen, welche Menschen durch die BVG-Reform eine schlechtere Rente haben werden als bisher.
Dabei muss man unterscheiden zwischen Personen, die im BVG-Obligatorium versichert, und jenen, die im Überobligatorium versichert sind, also in ihrer Pensionskasse mehr sparen als gesetzlich vorgeschrieben. Zuerst zum Obligatorium:
Manuel hat durch die BVG-Revision einen höheren versicherten Lohn von 70’400 Franken – dank des neuen lohnabhängigen Koordinationsabzugs. Doch da die Altersgutschriften von 18 Prozent auf 14 Prozent gesenkt würden, fallen diese von 11’210 auf 9856 Franken. Pro Monat würden Manuel und sein Arbeitgeber somit je 56 Franken weniger einzahlen, weshalb er auch weniger Altersguthaben aufbauen kann. Bei der Pensionierung stehen so 326’459 Franken Altersguthaben zur Verfügung. Ohne BVG-Reform wären es 14’288 Franken mehr gewesen.
Wenn Manuel bei der Pensionierung das Altersguthaben in eine Rente umwandeln will, wird dafür der neue, tiefere Mindestumwandlungssatz von 6 Prozent angewendet. Dadurch erhält er eine tiefere Rente. Weil er jedoch zur Übergangsgeneration gehört, erhält er einen Rentenzuschlag als Kompensation. In diesem Fall sind das laut VZ 1000 Franken pro Jahr. Das reicht nicht, um die Einbussen wettzumachen. Die Rente fällt mit 20’588 Franken im Jahr um 2583 Franken tiefer aus, als wenn die BVG-Reform nicht in Kraft tritt. Das sind 11 Prozent weniger Rente.
Durch die BVG-Reform sinken die Altersgutschriften von Céline auf 14 Prozent. Das bedeutet, dass sie weniger Altersguthaben ansparen kann. Weil sie mit 45 Jahren zu jung für die Übergangsgeneration ist, erhält sie keinen Rentenzuschlag ausbezahlt. Céline bekommt die vollen Nachteile zu spüren: tiefere Altersgutschriften, weniger Altersguthaben, kleinerer Umwandlungssatz und kein Rentenzuschlag. Laut der Studie erhält sie deshalb eine Rente von 1661 Franken im Monat. Ohne BVG-Reform wären es 269 Franken oder 14 Prozent mehr gewesen.
Auf Menschen, die wie Manuel und Céline nur im BVG-Obligatorium versichert sind, hat die BVG-Reform den grössten Einfluss. Doch die meisten Arbeitstätigen in der Schweiz sind auch im Überobligatorium versichert und sparen sich überobligatorisches Kapital an. Für sie bedeutet die Reform etwas anderes.
Sabine hat bereits 300’000 Franken Altersguthaben angespart, davon je die Hälfte im Obligatorium und im Überobligatorium. Ihre Pensionskasse wendet einen gesplitteten Umwandlungssatz an. Das bedeutet, im Obligatorium die gesetzlichen 6,8 Prozent und im Überobligatorium 5 Prozent. Durch die Reform darf Sabines Arbeitgeber ihre Altersgutschriften im Obligatorium auf 14 Prozent senken, womit sie bis zur Pensionierung ein Altersguthaben von 517’449 Franken ansparen kann: 14’303 Franken weniger als ohne Reform.
Weiter kann ihre Pensionskasse den Umwandlungssatz im Obligatorium von 6,8 auf 6,0 Prozent senken, weshalb Sabine nach der Pensionierung eine Rente von 28’563 Franken erhält. Das sind 3125 Franken weniger im Jahr als vor der Reform. Sie erhält auch keine Rentenzuschläge, weil ihr Altersguthaben bei der Pensionierung über der Schwelle von 441’000 Franken liegt, zeigen die Berechnungen.
Es könnte aber auch anders kommen für Sabine: etwa wenn sie statt eines gesplitteten, einen umhüllenden Umwandlungssatz hätte. Das bedeutet, dass der Umwandlungssatz auf das gesamte Alterskapital im Obligatorium und Überobligatorium angewendet wird. Dabei darf die Altersrente nicht tiefer ausfallen als das gesetzliche Minimum.
In diesem Fall dürfte Sabines Pensionskasse nach der Reform den Umwandlungssatz senken. Doch ob sie das tut, könne man nicht vorhersagen. Dasselbe bei den Altersgutschriften: Es kann sein, dass der Arbeitgeber attraktive Lohnnebenleistungen bieten will und bei 18 Prozent Altersgutschriften bleibt, schreibt VZ in der Studie. Zudem könnte Sabine sich zusätzlich in die Pensionskasse einkaufen, womit ihr bei ihrer Pensionierung mehr Guthaben zur Verfügung steht.
watson hat mit VZ-Studienautor Simon Tellenbach über die Ergebnisse gesprochen. Für ihn ist klar: «Viele Teilzeitmitarbeitende profitieren von der Reform, da sie besser versichert werden. Personen ab einem Durchschnittslohn von rund 70’000 Franken können hingegen weniger Rente erhalten, wenn sie lediglich im Obligatorium versichert sind und nicht den vollen Rentenzuschlag erhalten. Es sind jedoch nur knapp zehn Prozent der Versicherten rein obligatorisch versichert.»
Auch Personen im Überobligatorium können von der Revision betroffen sein. Entscheidend sei dabei aber, wie die Umwandlungssätze ausgestaltet würden. Dies entscheide am Schluss jeder Stiftungsrat der Pensionskassen selber.
«Wir gehen davon aus, dass schweizweit rund 25 Prozent der künftigen Rentnerinnen und Rentner bei Pensionskassen mit gesplitteten Umwandlungssätzen versichert sind», sagt Tellenbach und fügt an: «Für ein Viertel der Versicherten dürfte die Rente sinken. Am Schluss ist es eine Rentenreduktion, weshalb es auch eine Übergangsgeneration mit Kompensationszahlungen gibt.» Laut Tellenbach hat die BVG-Reform aber für rund 75 Prozent der Versicherten keinen negativen finanziellen Einfluss.
Rund ein Viertel der Versicherten würden also laut VZ wegen der Reform eine tiefere Rente erhalten. Ganz anders tönte das noch Anfang März in der SRF-«Arena», wo der Schwyzer SVP-Ständerat Alex Kuprecht sagte: «Wir haben neun Beispiele vom Bundesamt für Sozialversicherung (BFS) angeschaut und keines davon hatte ein Minus durch die BVG-Reform.» watson hat Kuprecht deshalb mit der Studie konfrontiert. Doch er bleibt bei seiner Meinung: «Niemand wird durch die BVG-Reform eine schlechtere Rente haben. Die reglementarischen Leistungen gehen voraus und sind oft höher als die reinen Minimalleistungen.»
Kuprecht bemängelt die VZ-Studie, weil diese annehmen würde, «dass jemand 40 Jahre lang denselben Lohn haben» würde. Zudem seien die Verfasser lediglich vom aktuellen BVG-Mindestzinssatz von 1 Prozent ausgegangen und haben ihre Rechnung mit dem Alter 49 gemacht. «Sobald die Verzinsung erhöht ist oder die Gehälter leicht angepasst werden, stimmen diese Zahlen nicht mehr. Auch der Zinseszinseffekt wird dabei konstant ausser Acht gelassen», sagt Kuprecht. Er verweist nochmals auf die BSV-Ergebnisse in den Kommissionsberichten, welche keine Rentenverluste ausweisen würden.
Der SVP-Ständerat ist überzeugt, dass die BVG-Reform die richtige und maximal mögliche Lösung sei und wesentliche Verbesserungen für Teilzeit- und Mehrfachangestellte bringe. «Fakt ist, dass die Vorlage einigen Menschen zu einer höheren Rente verhilft. Dazu wird auch noch die Erwerbsunfähigkeits- und Witwenrente ausgebaut», sagt Kuprecht. Gerade das werde immer unterschlagen oder vergessen.
Dieser Argumentation widerspricht dss VZ. Selbstverständlich seien Zinseszins und Lohnsteigerungen berücksichtigt, so der Studienautor Tellenbach: «Wenn es keine tieferen Renten gäbe, bräuchte es auch keine Übergangsregelung mit Rentenzuschlägen.»
Dass SVP-Ständerat Alex Kuprecht nicht glaubt, dass die BVG-Reform zu Renteneinbussen führt, ärgert SP-Nationalrätin Tamara Funiciello. «Glauben kann man in der Kirche. Es ist wirklich schwierig, dass sich Politiker so gegen Zahlen wehren», sagt sie. Denn auch der Bundesrat habe gesagt, dass die Revision zum Teil zu tieferen Einkommen führen werde. Dass nun sogar bis zu 30 Prozent der Bevölkerung betroffen sein sollen, findet Funiciello «enttäuschend, aber nicht überraschend». Gleichzeitig stellt sie die Studienautoren, also das Vermögenszentrum, infrage. «Ihnen geht es natürlich darum, eine dritte Säule abzuschliessen. Das ist auch keine Lösung, denn den Lebensstandard sollte man bereits mit den ersten zwei Säulen halten können», sagt sie.
Funiciello betont, dass die BVG-Reform nichts mit einem «sozialen Fortschritt» zu tun habe. Der Plan der SP sei deshalb, sie zu bekämpfen. Gleichzeitig sieht die Nationalrätin die Lösung in der 13. AHV-Rente. «Damit können wir die Kaufkraft der Menschen sichern», sagt sie. Sollte aber die BVG-Reform angenommen und die 13. AHV-Rente abgelehnt werden, würde man in der Schweiz «vor einem Scherbenhaufen stehen».