«Plötzlich massierte er meine Brüste»: Verurteilter Arzt arbeitete einfach weiter
Alessandra Fausto erinnert sich noch genau an diesen Arztbesuch vor neun Jahren – eine traumatische Erfahrung. Seither lässt sich die heute 29-jährige Zürcherin nie mehr von einem Mann behandeln. Sie erklärt sich bereit, ihr Erlebnis öffentlich zu teilen, um anderen Betroffenen Mut zu machen.
«Damals war ich krank und ging einfach zum nächsten Hausarzt in meinem Quartier», beginnt sie. Er sei «super sympathisch» aufgetreten und habe sofort Gemeinsamkeiten in ihren Lebensgeschichten entdeckt.
Sie ging wegen einer Angina, Rückenschmerzen und weiterer Beschwerden zu ihm. Er habe ihr eine Rückenmassage angeboten und sie angewiesen, sich oben freizumachen. Sie habe sich hingelegt und er habe sie am Rücken massiert.
Dann habe er ihr gesagt, sie solle sich umdrehen. «Plötzlich massierte er meine Brüste.» Sie sei schockiert gewesen und habe die Behandlung einfach über sich ergehen lassen. «Ich hatte Respekt vor ihm als Arzt und dachte im ersten Moment, dass er vielleicht schon das Richtige tue», sagt sie. Erst später realisierte sie, dass die Behandlung ihrem Rücken nicht diente: «Es war ein Horrorerlebnis.»
Bei einer Nachkontrolle sei er ihr erneut zu nahe gekommen. Sie sei zuerst wieder wie eingefroren gewesen, doch sie habe es schliesslich geschafft, auf dem Stuhl nach hinten zu rutschen und ihn auf Abstand zu halten.
Sie habe sich danach überlegt, ob sie Strafanzeige erstatten solle. Doch sie verzichtete darauf, weil sie sich in einer Aussage-gegen-Aussage-Situation zu wenig Chancen gegen einen erfahrenen Arzt ausrechnete. Weiter schweigen wollte sie aber auch nicht. Deshalb veröffentlichte sie auf Google eine negative Bewertung zu seiner Praxis und warnte junge Frauen vor einem Besuch.
Was sie nicht wusste: Drei andere Frauen reichten damals unabhängig voneinander Strafanzeige gegen den Arzt ein. Er ist Schweizer mit italienischen Wurzeln und heute 60 Jahre alt.
Fall 1: Der Besuch der alten Dame
Eine 83-Jährige besuchte ihn wegen Schmerzen in den Beinen. Er wies sie an, sich auszuziehen, und massierte ihre Oberschenkel und ebenfalls die Brüste – und er griff ihr in den Slip. Als er ihr erschrockenes Gesicht sah, sagte er: «Entschuldigung, ich bin ein feuriger Italiener.» Später nötigte er sie zu sexuellen Handlungen.
Vor Gericht stritt er alles ab. Doch die Frau beschrieb ihre Erfahrungen gemäss dem Urteil so detailliert, «wie man es eben nur kann, wenn man es selber erlebt hat». Das Zürcher Obergericht sprach ihn 2020 wegen sexueller Nötigung und Schändung schuldig. Das Bundesgericht wies seine Beschwerde 2022 ab. Er erhielt eine bedingte Freiheitsstrafe von zwei Jahren, wovon er rückblickend nur zwei Wochen in Form von Untersuchungshaft absitzen musste. Seiner Patientin musste er eine Genugtuung von 4000 Franken zahlen.
Fall 2: Eine hinterhältige Verführung
Eine 42-jährige Frau mit psychischen Problemen warf ihm vor, er habe ihre Notlage ausgenützt. Er habe ihr die grosse Liebe vorgespielt und so sei es zu einvernehmlichem Sex in der Praxis gekommen. Erst als sie im Wartezimmer eine Frau kennenlernte, die ebenfalls eine Beziehung mit dem Doktor führte, bemerkte sie die Täuschung.
Das Gericht bewertete auch ihre Aussagen als glaubwürdig und die Grenzüberschreitungen des Arztes als hinterhältig und verwerflich. Doch diese würden sich im moralischen Bereich bewegen und die Schwelle zu strafbarem Verhalten nicht überschreiten. Denn rechtlich habe in diesem Fall weder eine Abhängigkeit noch eine Notlage bestanden. So sprach ihn das Gericht in diesem Fall frei.
Fall 3: Die zurückgezogene Anzeige
Die dritte Patientin berichtete der Polizei, dass sie den Arzt wegen geschwollener Beine besucht habe. Danach beschrieb sie das gleiche Muster: Sie musste sich ausziehen, er berührte sie überall und schliesslich hatten sie auf seine Initiative hin Sex. Sie habe sein Verhalten durchschaut, aber «das Spiel mitgespielt».
Ihre Anzeige zog sie allerdings zurück. Daher kam es nicht zu einem Schuldspruch. Doch das Gericht stellte fest, dass er auch ihr Vertrauen ausgenutzt habe.
So lange dauerte der Entzug der Bewilligung
Das Strafverfahren war nach sechs Jahren abgeschlossen. Seither gilt die Unschuldsvermutung nicht mehr; der Arzt ist ein Sex-Täter. Doch ein Verfahren der Behörden, um ihm die Berufsausübungsbewilligung zu entziehen, läuft bis heute.
Dazu muss man wissen: Für die Überwachung der Mediziner sind in der Schweiz die Kantone zuständig. Der verurteilte Arzt war in Zürich, im Aargau und in Schwyz tätig. Er hatte somit drei kantonale Berufsausübungsbewilligungen. Diese benötigt er, um in eigener fachlichen Verantwortung tätig zu sein.
Als die Zürcher Staatsanwaltschaft das Strafverfahren 2017 eröffnete, ging es schnell: Alle drei Kantone verfügten Auflagen zur Bewilligung. Der Arzt durfte Patientinnen nicht mehr massieren und nur noch in Anwesenheit einer Praxisassistentin oder einer Pflegefachperson betreuen.
Doch der Entzug der Berufsausübungsbewilligung dauerte länger. In Zürich verlor er diese 2023, ein Jahr nach dem Bundesgerichtsurteil. Im Aargau wurde der Entzug erst vor einem Monat rechtskräftig, da sich der Arzt über alle Instanzen dagegen wehrte. Und für den Kanton Schwyz entscheidet das Bundesgericht heute Donnerstag in einer öffentlichen Beratung. Der Entscheid ist gerichtsintern umstritten. Mindestens eine Richterin oder ein Richter will die Beschwerde des Arztes gutheissen.
Der Arzt hielt sich nicht an die Auflagen
Der Arzt sieht sich als Opfer. Er findet es ungerecht, dass er wegen der strafrechtlichen Verurteilung in einem Fall seine berufliche Existenz verlieren soll. Kurz vor der Pensionierung könne er sich nicht mehr neu orientieren. Und nur als Assistenzarzt werde er in seinem Alter wohl keine Stelle finden – dies dürfte er auch ohne Bewilligung. Er beantragt deshalb, weiterhin unter Auflagen tätig sein zu dürfen.
Allerdings hat er diese Auflagen verletzt. Das Schwyzer Gesundheitsamt verlangte auch, dass er neue ärztliche Tätigkeiten im Kanton von sich aus meldet. Doch das tat er nicht. Bis 2020 arbeitete er als Konsiliararzt im Spital Lachen, dann kündigte dieses die Zusammenarbeit. Die Gründe dafür sind nicht bekannt.
Danach stieg er in der Swiss Permanence in Pfäffikon SZ als leitender Arzt ein, ohne dies wie vorgeschrieben dem Amt zu melden. Auch seinen neuen Arbeitgeber liess er über seine Auflagen und seine Vergangenheit im Dunkeln. Anfang 2025 beendete der Arzt die Zusammenarbeit plötzlich und verschwand. Kurz darauf sistierte der Kanton seine Bewilligung. Über den definitiven Entzug entscheidet nun das Bundesgericht.
Juristisch geht es um seine Vertrauenswürdigkeit. Ist diese allein durch das Strafurteil zerstört oder hätten die Behörden zusätzliche Abklärungen treffen sollen? Im Kanton Aargau, wo der Arzt ebenfalls bis vor Bundesgericht um seine Bewilligung kämpfte, stellte sich diese Frage nicht. Seine Anwältinnen griffen dort chancenlose Punkte an.
Das Schwyzer Verwaltungsgericht hält fest, dass die Vertrauenswürdigkeit keine Abstufungen kenne. Sie ist entweder gegeben oder sie fehlt. Ein Arzt kann also nicht etwas vertrauenswürdig sein. Der eine Schuldspruch habe das Vertrauen zerstört. Sein Verhalten in den anderen Fällen belaste dieses zusätzlich, obwohl er in diesen strafrechtlich unschuldig ist.
Der Arzt argumentiert, er habe in den vergangenen neun Jahren einwandfreie Arbeit geleistet und er sei fachlich anerkannt. Die Gesundheitsbehörden müssten seine Vertrauenswürdigkeit deshalb umfassender beurteilen.
Alessandra Fausto zweifelt allerdings auch seine fachliche Arbeit an. Er habe Therapien verlängert, obwohl diese ihre Symptome nicht linderten. Sie vermutet, er habe sie einfach wieder in der Praxis sehen wollen.
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