Die Abwasserdaten zeigen es: Sars-CoV-2 zirkuliert in der Schweiz stark. Die verdeckte Coronawelle ebbt trotz Frühling nicht ab, wie CH Media letzte Woche berichtete. Dennoch ist im Alltag die Pandemie für viele vorbei. Die Spitäler verzeichnen nur noch vereinzelte Einweisungen wegen Covid-Infektionen, die Immunität in der Bevölkerung ist gross.
Doch nicht für alle sind die Pandemie und deren Schrecken vorbei. Insbesondere nicht für Personen, die aufgrund von Vorerkrankungen oder anderen Gründen als Hochrisikopatienten gelten und eine Covid-Infektion verhindern möchten. Bei vielen von ihnen kommt hinzu, dass ihr Immunsystem geschwächt ist. Dies kann wegen bestimmter Krankheiten der Fall sein, aufgrund von Therapien oder erblichen Voraussetzungen. Sie bauen nach einer Impfung oder einer durchgemachten Infektion kaum Antikörper gegen Sars-CoV-2 auf.
«Diese Menschen gehen derzeit vergessen», sagt David Haerry. Der 62-Jährige lebt seit 40 Jahren mit dem HI-Virus. Er ist Mitgründer und Vorsitzender des Positivrats, eines Fachgremiums, das sich für die Interessen von Personen mit HIV und Hepatitis einsetzt.
Haerry setzt sich seit vielen Jahren mit Infektionskrankheiten und ihren Auswirkungen auseinander. Er verstehe, dass die grosse Mehrheit der Bevölkerung «die Nase voll hat von Covid». Doch für immunsupprimierte Risikopatienten sehe es anders aus. Vielen von ihnen bleibe nichts anderes übrig, als Menschenansammlungen zu meiden und Maske zu tragen: «Ich habe einen Bekannten mit Multipler Sklerose, der aus Angst vor einer Ansteckung fast nur zu Hause sitzt und sogar Spitalbesuche meidet», so Haerry.
Ganz so stark schränkt sich die 28-jährige Anna Troelsen nicht ein. Bei der Jus-Studentin und Mitarbeiterin einer Anwaltskanzlei wurde im Alter von 14 Jahren Arthritis und Skoliose diagnostiziert. Später kam eine durch die Behandlung verursachte cortisonbedingte Osteoporose hinzu.
Troelsen geht zwar aus dem Haus und unter die Leute, erkundigt sich aber jeweils vor Einladungen, ob jemand von den Teilnehmenden erkrankt ist. «Während der intensiven Phase der Pandemie war es selbstverständlich, dass man auch bei leichten Krankheitssymptomen im Zweifelsfall zu Hause blieb, um andere nicht zu gefährden. Heute werde ich mancherorts als Hysterikerin bezeichnet, wenn ich danach frage», sagt Troelsen. An solchen Erfahrungen merke sie, dass die gesellschaftliche Solidarität mit Risikopatientinnen und Immunsupprimierten geschwunden ist.
Im vergangenen Herbst liess die Heilmittelbehörde Swissmedic eine unter dem Namen Evusheld vermarktete Antikörperkombination des Herstellers Astrazeneca zu. Dieses Medikament zur Covid-19-Prophylaxe brachte vulnerablen Personen mit geschwächtem Immunsystem kurzfristig Hoffnung, ungefährdet am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Doch mit der Mutation des Virus ist die Wirksamkeit von Evusheld verloren gegangen. Die US-Heilmittelbehörde FDA entzog dem Medikament deshalb im Januar sogar die Zulassung, weil es gegen die zirkulierenden Virusvarianten nichts mehr nützt. Doch unterdessen befindet sich ein Evusheld-Nachfolgeprodukt, das gegen alle Virusvarianten wirksam sein soll, in der Testphase. In Frankreich soll die Prophylaxe in Kürze provisorisch zugelassen werden.
Mit einer überparteilich unterstützten Motion fordert Nationalrätin Verena Herzog (SVP/TG) vom Bundesrat, nach französischem Vorbild bereits nach Vorliegen sicherheits- und pharmakologischer Daten die Verhandlungen zur Beschaffung der entsprechenden Medikamente aufzunehmen. Das soll einen raschen Zugang zu neuen Covid-Prophylaxen ermöglichen. Bereits im März gelangte sie in der Fragestunde des Nationalrats in dieser Sache an die Landesregierung.
Den damaligen Verweis des Bundesamts für Gesundheit (BAG) auf noch ausstehende Ergebnisse klinischer Studien lässt Herzog nicht gelten. «Je schneller neue Therapien zugänglich sind, desto eher sind die Betroffenen wieder geschützt und können wieder arbeiten und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen», so Herzog. Ausserdem müssten die Behörden frühzeitig und ausreichend auf die neuen Prophylaxemöglichkeiten hinweisen.
David Haerry vom Positivrat unterstützt die Forderung. Die Schweiz habe generell ein Problem mit dem Zulassungstempo für Medikamente und Impfungen gegen Infektionskrankheiten. Das habe sich etwa bei der Affenpocken-Impfung gezeigt. Eine Notfallzulassung fehle und beschleunigte Verfahren seien nur in sehr beschränktem Masse möglich.
Die Heilmittelbehörde Swissmedic verweist auf Anfrage auf gesetzliche Grundlagen in der Covid-Verordnung sowie im Heilmittelgesetz. Diese erlaubten die Verabreichung von neuen Arzneimitteln für immunsupprimierte und andere Personen unter Auflagen oder im Rahmen von Wirksamkeitsstudien, bevor das formelle Zulassungsverfahren abgeschlossen ist. Das Bundesamt für Gesundheit verfolgt die Entwicklung von neuen Covid-19-Prophylaxen laut eigener Auskunft aufmerksam und befindet sich im Austausch mit verschiedenen Herstellern.
Auch Anna Troelsen begrüsst beschleunigte und vereinfachte Zulassungsverfahren. Sie habe auch bei regulär zugelassenen Medikamenten teilweise heftige Nebenwirkungen gehabt. Gerade Risikopersonen, die ohne Covid-Prophylaxe vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen bleiben, müssten unter ärztlichem Rat eine individuelle Risikoabwägung machen dürfen: «Ich finde es falsch, wenn uns von oben kategorisch und unnötig lange ein Medikament vorenthalten wird, das möglicherweise grosse Erleichterung bringt.» (aargauerzeitung.ch)