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Medikamentenversuch in Aargauer Psychiatrie: Hunderte waren betroffen

Medikamente
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Medikamentenversuch in Aargauer Psychiatrie: Hunderte Patienten waren betroffen

23.12.2020, 12:42
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An der Psychiatrischen Klinik Königsfelden im Aargau wurden in den Jahren 1950 bis 1990 an mehreren Hundert Patienten Versuche mit nicht zugelassenen Medikamenten vorgenommen. Damals interessierten sich die Behörden nicht für das Thema. Die heutige Regierung äussert Bedauern.

Es handle sich grösstenteils um 31 Präparate, die zur Zeit der Verschreibung (noch) nicht zugelassen gewesen seien, heisst es in einer Untersuchung des Instituts für Medizingeschichte der Universität Bern.

Das Institut nahm rund 830 Patientendokumentationen zwischen 1950 und 1990 unter die Lupe, darunter auch 50 Dokumentationen der Kinderbeobachtungsstation Rüfenach AG. Die Untersuchung im Auftrag des Regierungsrats wurde am Mittwoch den Medien vorgestellt.

Nebenwirkungen für Patienten

Mehrere Hundert Patientinnen und Patienten wurden gemäss Untersuchung mit solchen Medikamenten behandelt. Die Psychopharmaka hätten oftmals Nebenwirkungen gehabt.

«Traten diese in massiver Form auf, wurden Versuchsbehandlungen in der Regel abgebrochen. Todesfälle in direkter Folge von Medikamententests sind nicht bekannt», heisst es im Bericht.

Es gebe keine Hinweise darauf, dass bestimmte Patientengruppen bezüglich Alter, sozialer Herkunft und Aufnahmestatus besonders häufig von Medikamentenversuchen betroffen gewesen seien.

Zwar seien Betroffene von fürsorgerischen und medizinischen Zwangsmassnahmen in Versuche involviert gewesen. Sie seien jedoch nicht gezielt dafür ausgewählt worden.

Vor den 1980er-Jahren gibt es laut Untersuchung keine schriftlichen Belege dafür, dass die Patientinnen und Patienten umfassend über klinische Versuche informiert wurden und die Möglichkeit hatten, ihr Einverständnis zu geben oder eine Behandlung abzulehnen.

Versuche waren kein Geheimnis

Wie an anderen Schweizer Kliniken fanden die Medikamentenversuche in Königsfelden in einem rechtlichen Graubereich statt. Erst ab den 1970er-Jahren wurden die Versuch reguliert. Daraus dürfe jedoch nicht geschlossen werden, dass die Versuche aus damaliger Sicht unproblematisch gewesen seien, schreibt Studienautor Urs Germann vom Institut für Medizingeschichte.

Dass in Königsfelden nicht zugelassene Medikamente getestet wurden, war weder innerhalb der Fachöffentlichkeit noch in Verwaltung und Politik ein Geheimnis, wie aus der Untersuchung weiter hervorgeht.

Gleichzeitig zeige sich, dass die kantonalen Instanzen ihre Kontrollaufgaben in medizinischen Belangen zumindest bis in die 1980er-Jahre «äusserst locker und oberflächlich» interpretiert hätten. Die Instanzen hätten der Klinikleitung grösstmögliche Autonomie zugestanden und im Gegenzug auf deren Kompetenz vertraut. Finanzielle Interessen der Klinik seien vermutlich eher gering gewesen.

Regierung bedauert

Der Regierungsrat nimmt gemäss eigenen Angaben «Kenntnis von den Ergebnissen der Studie und bedauert, wenn Betroffenen ein Unrecht widerfahren ist». Die damalige Aufsichtskommission habe ihre Aufgabe mangelhaft wahrgenommen, sagte Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati (SVP). Die Klinik Königsfelden war zu dieser Zeit eine kantonale Anstalt und lag damit direkt in der Verantwortlichkeit des Kantons.

Seit knapp 150 Jahren befindet sich auf dem Areal Königsfelden in Windisch eine psychiatrische Klinik. Bis 1965 hiess die Einrichtung «Heil- und Pflegeanstalt». Bis zu 1400 Patienten lebten in Königsfelden.

Die Klinik war bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts eine kantonale Institution. 2004 wurde sie als Psychiatrische Dienste Aargau AG (PDAG) in eine Aktiengesellschaft in vollständigem Besitz des Kantons Aargau überführt.

Ein gleiches Bild wie im Aargau ergaben bereits frühere Untersuchungen in anderen Kantonen. So wurden in Psychiatrischen Klinik Münsterlingen TG an mindestens 3000 Patienten Medikamentenversuche vorgenommen. Auch in der Psychiatrie Baselland und in der psychiatrischen Klinik St. Urban LU gab es solche Versuche. (cki/sda)

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6 Kommentare
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fools garden
23.12.2020 21:11registriert April 2019
Einer flog über das Kuckucksnest, stammt genau aus jener Zeit.
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Demetria
23.12.2020 14:45registriert März 2020
Das wird doch immernoch gemacht. Mir gab man in der Klinik auch ein "Antidepressiva". Ich war von einem Tag auf den anderen nur noch ein Sack in der Ecke. Als ich raus war habe ich das Mittel gegoogelt: es war kein Antiepressiva sondern ein Mittel gegen Schizophrenie. Es gibt nicht den geringsten Grund warum man so etwas einer Depressiven geben sollte. Fazit: ich dachte am Anfang, die anderen Patienten würden übertreiben, aber es ist tatsächlich so: schluckt nichts, was euch euer eigener Psychiater nicht verschrieben hat und telefoniert diesem wenn man euch etwas anderes andrehen will.
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Nanuk
24.12.2020 05:43registriert September 2015
Die Psychiatrie ist leider auch heute noch ein Ort an dem vieles im argen liegt.Mit einer Selbstverständlichkeit werden Akten gefälscht (zb verschwinden falsch verordnete Medikamente ohne gesetzliche Nachvollziehbarkeit aus dem System), grundlegende Sachverhalte verändert, Machtspiele den Patienten gegenüber als therapeutisch verkauft und dessen (normale) Reaktion dann pathologisiert.Eigene Fehler werden ebenfalls auf diese Art kaschiert.Oftmals versteckt sich das Klinikpersonal aus Überforderung im Stationsbüro.Am Boden auf welchem solche Tests stattfinden konnten, hat sich nichts verändert.
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