Die erste Dosis des Medikaments verliess das Paul Scherrer Institut im vergangenen Dezember. Mit einem Gefahrenguttransport. Ein Behälter aus Blei schirmte den radioaktiven Inhalt ab. Dessen Ziel? Die Venen eines Patienten im Kantonsspital Aarau. Ein kurzer Schwatz, noch kurz tanken – das lag für den Fahrer nicht drin. Seine Fracht, das Radiopharmakon, hatte eine Halbwertszeit von 68 Minuten.
Würde das Medikament nicht innert eineinhalb Stunden nach der Herstellung im Spital eintreffen, könnten die Ärzte den möglichen Tumor oder die Metastasen des Patienten nicht mehr nachweisen.Denn dafür wird es benötig: Das radioaktives Medikament bildet Prostatakrebs und dessen Streuungen genauer als seine Vorgänger ab.
An der Universitätsklinik in Heidelberg haben Nuklearmediziner vor einigen Jahren die neue Diagnostik entdeckt. Heute ist die Nachfrage gross. In der Schweiz konnten bis vor kurzem nur das Universitätsspital Zürich und das Inselspital Bern dieses Radiopharmakon herstellen. Der Zürcher Nuklearmediziner Gustav von Schulthess sagt, die Produktion sei «komplett ausgelastet». Es gäbe Wartelisten von mehreren Wochen.
«Wir schätzen, dass der Schweizer Markt etwa 5000 Dosen pro Jahr benötigt. Momentan können wir etwas mehr als 1000 Dosen liefern», sagt von Schulthess. Prostatakrebs ist in der Schweiz die häufigste Krebsart. Gemäss der Krebsliga erkranken rund 6100 Männer pro Jahr daran.
Der Lieferengpass ist nicht das einzige Problem des Medikaments. Mit jeder Minute des Transports zerfällt die begehrte Ware mehr und mehr. Stockt der Verkehr oder kommt es zu einem Stau, ist das Radiopharmakon am Zielort unbrauchbar. Deshalb müssen die Hersteller nahe bei den Spitälern liegen. So nahe, dass nun das grösste Schweizer Forschungsinstitut beginnt, das Medikament zu produzieren: das Paul Scherrer Institut (PSI) im aargauischen Villigen. Seit Kurzem beliefert es die Kantonsspitäler in Aarau und Baden – mit weiteren Spitälern sind Gespräche im Gang.
Am PSI stellt ein vierköpfiges Team rund um Susanne Geistlich das radioaktive Medikament her. Geistlich ist Apothekerin. An diesem Morgen trägt sie in einen weissen Anorak, die Haare unter einem grünen Häubchen, die Hände in blauen Plastikhandschuhen, Mundschutz. Der Umgang mit den gefährlichen Strahlen ist sie gewohnt: Geistlich und ihr Team stellen für klinische Studien Radiopharmaka her. 20 Wissenschaftler am PSI forschen an radioaktiven Wirkstoffen gegen Krebs.
Seit Mitte September besitzt das PSI eine Vertriebsbewilligung von Swissmedic. Die Aufsichtsbehörde für Arzneimittel hat dem Forschungsinstitut bewilligt, dieses eine Radiopharmakon zum freien Verkauf herzustellen. Pro Dosis bezahlen die Krankenkassen 1500 Franken.
Geht das PSI nun unter die kommerziellen Pharma-Anbieter? Nein, sagt Roger Schibli, Leiter des Zentrums für radiopharmazeutische Wissenschaften. Der Vertrieb würde ausgelagert; die externe Firma befände sich in Gründung. Vorgesehen sei, dass das Team um Susanne Geistlich an maximal drei Tagen pro Woche produzieren würden. Pro Jahr ergäbe das gegen 350 Dosen
Wer ihr hochreines Reich besuchen will, muss auf dem Weg dahin zwei Mal Schuhe und Übergewand wechseln. Geistlich streift sich einen Dosimeter über – eine Art Fingerring, der die Strahlendosis überwacht. «Die Sicherheitsvorkehrungen sind enorm, der Aufwand für die Herstellung der Radiopharmaka gross», sagt die Teamleiterin. Sie steht im Reinraumlabor. Vor ihr türmt sich ein etwa zweieinhalb Meter hohes Gerät, das sie «Heisszelle» nennt.
Der Apparat erinnert an einen Backofen. Die darin eingelassene Türe lässt sich nur schwer bewegen: Die ganze «Heisszelle» ist faustdick mit Blei ausgekleidet, einem Schutzschirm gegen die radioaktiven Strahlen. Im Innern winden sich durchsichtige Schläuche, verbinden Fläschchen mit der silbrig glänzenden Apparatur.
Zentrumsleiter Roger Schibli zeigt auf einen unscheinbaren Behälter, in dem eine durchsichtige Lösung schwimmt: «Darin befindet sich ein Biomolekül. Es ist die Trägersubstanz, die im Körper wie ein Pilot den Weg zu den Prostatakrebszellen findet und an ihren Oberflächen andockt.» Dieser Träger muss mit Radioaktivität angereichert werden, damit die Lage und die Grösse der kranken Zellen im Scanner sichtbar werden. Erst dadurch kann sich der Krebs nicht mehr länger verstecken.
Hergestellt wird das Medikament vollautomatisch. Schibli tippt auf den Bildschirm des Computers, der neben dem Bleiriesen steht. «Die Produktion wird per Mausklick ausgelöst. Zum Schutz der Mitarbeiter steuert eine Software sämtliche Abläufe», sagt er. Die Türen blieben zu. Immer.
Und was, wenn ein Schlauch sich löst? Die Flüssigkeit daneben tröpfelt? «Das darf eigentlich nicht passieren. Sollte es doch mal vorkommen, müssen die Mitarbeitenden warten, bis die Radioaktivität abgeklungen ist», sagt Schibli. Klappt die Herstellung reibungslos, fährt ein Roboterarm einen Behälter rein und verstaut das Fläschchen darin für den Transport. Der Wettlauf gegen die Zeit hat zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen.
Während im Spital der Patient für die Untersuchung vorbereitet wird und der Fahrer bereitsteht, beschriftet Susanne Geistlich die Etikette. Der exakte Zeitpunkt der Herstellung, die Produktmenge, die Stärke der Strahlung – das sind alles Angaben, die für die Dosierung notwendig sind. Fährt der Chauffeur die Lieferung in Richtung Spital, arbeitet Geistlich weiter. Anhand einer Probe prüft sie im PSI, ob das Medikament die Qualitätsanforderungen erfüllt. Ohne ihren Anruf und ihre Zustimmung dürfen es die Ärzte nicht in die Venen des Patienten spritzen.
Im Kantonsspital Aarau nimmt das Team von Nuklearmediziner Egbert Nitzsche die Lieferung entgegen. Radioaktive Strahlen gelten als gesundheitsschädlich – weshalb setzt er Radiopharmaka ein? Nitzsche sagt, ein Verdacht auf ein Wiederauftreten des Krebses reiche nicht aus, um das Medikament zu verabreichen.
Ein Bluttest müsse die Vermutung bestätigen, und auch dann würde noch abgewogen: «Der Nutzen der Untersuchung muss deutlich höher als das Risiko sein», sagt er. Allerdings sei die Belastung der Strahlung «sehr gering», vergleichbar mit jener durch eine Computertomographie. Und: Eine Alternative ohne Radioaktivität gibt es bis heute nicht. (aargauerzeitung.ch)