Je früher man eine Krankheit erkennt und mit einer passenden Behandlung dagegen ankämpft, umso höher ist die Chance, bald wieder ganz gesund zu sein. Dies gilt nicht nur für physische, sondern auch für psychische Leiden.
Doch gerade bei Depressionen gestaltete es sich bisher sehr schwierig, herauszufinden, welche Behandlung die richtige ist: Insgesamt gibt es rund 30 verschiedene Medikamente – hat man sich für eines dieser Präparate entschieden, muss dann noch herausgefunden werden, welches die für den Patienten richtige Dosierung ist. Denn auf Antidepressiva reagiert jeder Körper anders.
«Bisher war es so, dass 30 bis 40 Prozent der Patienten, bei denen wir eine gute Therapie durchgeführt haben, nicht auf die Erstbehandlung reagiert haben», erklärt Dr. Joe Hättenschwiler, Chefarzt und Leiter des Zentrums für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich. «Gute Therapie» heisst in diesem Zusammenhang, dass Auswahl des Präparats und Dosis auf den Patienten abgestimmt sind und das Medikament lang genug eingenommen wurde, um eine Aussage über das Behandlungsergebnis treffen zu können.
Diese Zahl der «Fehlversuche» könnte in Zukunft verringert werden – dank des ABCB1-Tests, der seit September in der Schweiz zum Einsatz kommt: Der Gentest, der am deutschen Max-Planck-Institut für Psychiatrie entwickelt wurde, verrät nämlich, ob die getestete Person auf gewisse Substanzgruppen überhaupt reagieren kann – oder eben nicht.
«Bisher war es so, dass 60 bis 70 Prozent der Depressions-Patienten gar nie symptomfrei geworden sind», erklärt Hättenschwiler. Ob und wie sich der ABCB1-Test auf diesen Wert auswirken werde, könne zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht gesagt werden: «Entscheidend ist, dass wir durch den Test immens viel Zeit gewinnen.» Und Zeit sei gerade bei Depressionen ein wichtiger Faktor: Je länger ein Patient bereits darunter leide, umso schwieriger sei es, die Person vollständig zu heilen.
Doch wie funktioniert der Test überhaupt? Indem er ermittelt, wie durchlässig oder undurchlässig die sogenannte «Blut-Hirn-Schranke» beim jeweiligen Patienten ist. Das heisst: In unserem Körper gibt es Wächtermoleküle, die darüber entscheiden, welche Stoffe vom Blut ins Gehirn transportiert werden dürfen und welche nicht. Sie dienen also dazu, unsere wichtigste Schaltzentrale zu beschützen. Man könnte sagen: Je stärker die Blut-Hirn-Schranke, umso besser ist unser Hirn beschützt.
Das stimmt soweit schon, eine starke Blut-Hirn-Schranke hat aber auch ihre Kehrseite: Damit Antidepressiva wirken können, müssen sie nämlich ins Hirn gelangen. Hat ein Patient nun eine besonders «strenge» Blut-Hirn-Schranke, werden viele Medikamente von den Wächtermolekülen abgeblockt und zurück in den Blutkreislauf geschickt. Sprich: Sie kommen gar nie dort an, wo sie wirken sollen.
«70 Prozent der Betroffenen haben ein positives Testergebnis. Das heisst, die grösste Substanzgruppe kann gar nicht in ihr Gehirn gelangen und kommt deswegen für die Behandlung nicht infrage», sagt Hättenschwiler. Für diese Patienten bleibe nur noch eine deutlich kleinere Gruppe von fünf unterschiedlichen Medikamenten, welche die Blut-Hirn-Schranke leichter passieren könnten, übrig.
Doch warum setzt man dann nicht gleich auf eines dieser fünf Mittel? «Nur weil ein Medikament garantiert im Gehirn ankommt, heisst es nicht, dass es dort auch tatsächlich wirkt. Ausserdem muss man dann auch wieder mit anderen Nebenwirkungen rechnen», erklärt der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH.
Hättenschwiler nennt die Errungenschaft des ABCB1-Tests deshalb einen «sehr grossen Durchbruch». Nie zuvor habe es in der Psychiatrie einen Biomarker gegeben, der so einfach zu ermitteln sei. «Der Test bringt vier sehr wichtige Vorteile mit sich: Er ist einfach durchzuführen, ist günstig, liefert uns eine wichtige Aussage und muss nur einmal im Leben gemacht werden», so der Experte.
Wer sich testen lassen will, muss die Kosten in Höhe von rund 240 Franken bis jetzt noch aus eigener Tasche zahlen – es sei denn, ein Facharzt für Pharmakologie oder Toxikologie hat den Test verordnet. Lediglich Helsana-Kunden mit der Zusatzversicherung Primeo bekommen den Betrag bedingungslos erstattet.
Doch das sollte sich gemäss Hättenschwiler bald ändern: «Ich gehe davon aus, dass noch dieses Jahr weitere Krankenkassen nachziehen werden.» Seiner Meinung nach werden die Versicherer bald merken, dass langfristig Kosten eingespart werden können, da der Test die Findung des richtigen Medikaments beschleunige.
Ginge es nach Hättenschwiler, würde man den Test im Rahmen der Diagnose- und Behandlungsfindung so früh wie möglich einsetzen. «In der Realität sieht es im Moment aber noch so aus, dass der Test meist erst dann zur Anwendung kommt, wenn ein erster Behandlungsversuch gescheitert ist – sprich, nach zwei bis vier Wochen keine Wirkung gezeigt hat.»
Durchführen kann den Test jeder Arzt, da es nur eine einfache Blutprobe braucht. Diese wird dann nach Basel ins Labor Viollier geschickt – dem einzigen Schweizer Labor, das den Test bisher auswerten kann.