Jeweils im Herbst kommuniziert der Bundesrat, ob die Krankenkassenprämien im kommenden Jahr steigen oder sinken werden. Kein Wunder, wird diese Medienkonferenz jeweils mit Spannung erwartet: Die Grundversicherung belastet das Portemonnaie vieler Menschen in der Schweiz empfindlichst. Die Gesundheit und die Krankenkassenprämien sind Top-Themen beim jährlichen Schweizer Sorgenbarometer.
Dieses Jahr beginnt die Diskussion um die Prämien aber früher als normal. Der Krankenkassen-Dachverband Santésuisse warnte kürzlich vor «drastischen Prämienerhöhungen» im 2023 um mehr als zehn Prozent. So viel, wie seit 20 Jahren nicht mehr. Die Gesundheitskosten würden wachsen. Im Jahr 2021 habe der Kostenanstieg 5,1 Prozent betragen. Für 2022 rechnet der Branchenverband mit nochmals so viel.
Auch der SP-Nationalrat und Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Pierre-Yves Maillard, warnte in Le Matin Dimanche: «Ein brutaler Anstieg ist leider plausibel.» Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) rechnet ebenfalls mit einem Anstieg, allerdings ohne zu schätzen, wie hoch dieser sein wird.
Diese schlechte Botschaft sorgt umso mehr für Aufruhr, weil die Prämien für das Laufjahr 2022 erst noch gesenkt und dafür die Reserven der Versicherungen angezapft wurden. Ende September verkündete der Gesundheitsminister Alain Berset die Nachricht stolz: Trotz zwei Jahren Pandemie würden die Krankenkassenprämien nicht steigen. Indem die Krankenkassen ihre Reserven abbauen, könne die mittlere Prämie in der Grundversicherung um 0,2 Prozent gesenkt werden.
Der Reserveabbau folgte auf eine Verordnung, die der Bundesrat bereits im Juni 2021 verabschiedet hatte. Das Ziel war, die hohen Reserven der Krankenkassen stetig abzubauen. Berset sagte damals, die Reserven der Krankenversicherungen seien viel zu stark angestiegen. Erstmals umgesetzt wurde die neue Verordnung im Rahmen der Prämienbewilligung 2022. Dies wiederum hatte – ebenfalls zum ersten Mal seit 2008 – einen Rückgang der Prämien zur Folge. «Das sind gute Nachrichten», so Berset damals an der Medienkonferenz.
Doch nun entbrennt ein Meinungsstreit darüber, ob das Anzapfen der Reserven ein Fehler war. Dieser Meinung ist Felix Schneuwly, Krankenkassen-Experte und Betreiber der Vergleichsplattform Comparis. Er kritisiert, durch den Reserveabbau fehle vielen Kassen jetzt das Polster, um die aktuellen Kostenschwankungen abzufedern.
Noch immer ist unklar, wie sich nach dem Sommer die Lage und damit auch die Gesundheitskosten entwickeln. Offen ist beispielsweise, wie hoch die Kosten sind, die mit den Long-Covid-Fällen anfallen. Oder wie viele Eingriffe, die in den Pandemiejahren verschoben wurden, nun nachgeholt werden. Schneuwly sagt: «Genau für solch unsicheren Zeiten hat man eben Reserven. Die Pandemie sollte eigentlich gar keine Auswirkung auf die Prämien haben.»
Ausserdem seien die Reserven weit davon entfernt, um als «zu hoch» bezeichnet zu werden. Gemäss dem BAG-Solvenztest hatten die Krankenversicherungen im vergangenen Jahr 12.4 Milliarden Franken Überschuss auf der hohen Kante. Bei einem jährlichen Prämienvolumen von 34 Milliarden sei das nicht viel, findet Schneuwly. «Zum Vergleich: Die Suva hat ein Reservepolster von 56 Milliarden bei 4 Milliarden Prämienvolumen pro Jahr. Sie könnte mit ihren Reserven 16 Jahre lang die Versicherungsleistung finanzieren.»
Die Kostenglättung dank der Reserven sei das eine. Das andere sei, dass nun der Ertrag aus dem Kapitalmarkt schrumpfe. «In den letzten Jahren war es so, dass die Kassen zwar ein hohes Defizit machten, aber mit den grossen Reserven an den Kapitalmärkten mehr Geld verdienten, als sie effektiv gebraucht hatten», so Schneuwly.
Besonders ärgerlich ist für den Krankenkassen-Experten, dass der Bundesrat mit der Anzapfung der Reserven einen Fehler wiederhole, den man in den letzten Jahren bereits mehrmals begangen habe. «Wir sahen das schon in der Ära der Bundesräte Dreifuss und Couchepin: Auf den Abbau der Reserven folgt der Prämeinschock. So ist es auch jetzt.»
Gesundheitsminister Berset sieht das Problem nicht bei den Reserven, sondern bei der Ärzteschaft und den Branchenverbänden Santésuisse und Curafutura. Gegenüber der «NZZ» sagte er in einem Interview, es bestehe selten Einigkeit für wichtige Reformen. So ist beispielsweise das Ringen um ein neues Tarifsystem nach wie vor ungelöst. «Tardoc» heisst das System, das den veralteten Tarmed ersetzen solle. Doch der neue Tarif ist in der Branche umstritten. Auf dem Spiel steht viel: 12 Milliarden Franken sollen neu verteilt werden. An seiner letzten Sitzung hat der Bundesrat einen Entscheid über Tardoc erneut vertagt.
Im «NZZ»-Interview sagte Berset, wenn keine sinnvollen Reformen gelängen, steigen die Kosten immer weiter – bis das System irgendwann kollabiere und die Politik radikale Massnahmen ergreife. Die Präsenz von immer mehr Akteuren mit jeweils unterschiedlichen Interessen habe zu einer Fragmentierung geführt. Dabei werden Reformprojekte aus Eigeninteresse blockiert. «Man deckt sich gegenseitig», so Bersets Vorwurf: «Es gibt fast niemanden mehr, der sich für das grosse Ganze verantwortlich fühlt, jeder schaut nur für sich.»
Dass die verschiedenen Akteure die Prämiendiskussion bereits jetzt anstossen, dürfte daran liegen, dass in der Sommersession ab Ende Mai mehrere, wichtige Debatten anstehen. Darunter die Kostenbremse-Initiative der Mitte-Partei. Mit dieser soll festgelegt werden, wie stark die Gesundheitskosten maximal wachsen dürfen. Ebenso befindet das Parlament über die Prämien-Entlastung-Initiative der Sozialdemokraten, die will, dass die Prämien nicht mehr als zehn Prozent des verfügbaren Familieneinkommens ausmachen dürfen.
Das hätte die Anzahl der Akteure vermutlich stark reduziert.