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Schweizer Folterexperte spricht über sein Scheitern bei der UNO

«90 Prozent meiner Interventionen bewirkten nichts»: Folterexperte über sein UNO-Scheitern

Nils Melzer sollte für die UNO den Mächtigen die Meinung sagen. Zuletzt agierte er schrill – das sagt mehr über sein Amt als über ihn selber aus.
25.04.2022, 06:03
Benjamin Rosch / ch media
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«Ent-Täuschung, ja. Mit und ohne Kopplung. Ich sehe die UNO heute mit anderen Augen.» Nils Melzer, 52, resigniert. Ein Mann mit weissem Hemd, Kragen aufgestellt, sitzt an einem grossen Holztisch in seinem Familienhaus oberhalb von Biel und bilanziert, dass sein Schaffen der letzten Jahre mehrheitlich ein Scheitern war. Keine leichte Aufgabe für jemanden, der sich viel vorgenommen hatte, der viel von sich erwartet hatte auch.

Switzerland's Nils Melzer, UN Special Rapporteur on Torture, informs to the media after his visit to Serbia during a press conference, at the European headquarters of the United Nations in Geneva ...
Da arbeitete er noch bei der UNO: Nils Melzer. (Archivbild) Bild: KEYSTONE

Nils Melzer war fünfeinhalb Jahre lang Sonderberichterstatter für Folter des UNO-Menschenrechtsrats. Vor kurzem hat er sein Amt niedergelegt und sagt von sich: «90 Prozent meiner Interventionen konnten für die Folteropfer letztlich nichts bewirken.»

Melzer, der Individualist

Lange wusste Melzer nicht, was er mit sich anstellen sollte. Aufgewachsen war er in Zürich als Einzelkind. Er war ein guter Schüler, tendenziell unterfordert. «In der Primar bin ich regelmässig im Unterricht eingeschlafen. Das Kollektive hat mich nicht stimuliert», sagt er. Für ein paar Jahre steckten ihn die Eltern in eine Montessori-Schule, dann kehrte Melzer zurück in die Volksschule. Sein Hang zum Individualismus ist ihm geblieben.

Mit 17 verbrachte er ein Austauschjahr in Orlando, Florida. Sein Gastvater war ehemaliger Nasa-Ingenieur und stellte ihm Raumfahrer vor, «auch solche, die auf dem Mond gelandet waren», sagt Melzer. Man kann sich gut vorstellen, welchen Freiraum das Land der unbegrenzten Möglichkeiten für den jungen Mann bereithielt. Melzers Blick wandert kurz zu einem Bild an der Wand seines Büros: Es zeigt die Erde, aufgenommen im Weltall. «Das wollte ich mit eigenen Augen sehen», sagt Melzer. Im Unterschied zu den Astronauten, die den Mond aus der Nähe sehen wollten, war es Melzers Wunsch, die Welt aus der Ferne zu betrachten.

Einmal fragte er Charles Duke, zehnter Mensch auf dem Mond, was er tun solle, um Astronaut zu werden. «Zu meiner Überraschung riet er mir, eine Bibel zu kaufen, und schrieb einen Vers in ein Buch», erzählt Melzer. Matthäus 6.33: «Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.»

Nach der Rekrutenschule entschied sich Melzer für ein Jurastudium in Zürich. Interessiert hätte ihn vieles, Psychologie, Medizin, Sozialwissenschaften. «Aber ich jobbte damals in einer Bar am Bellevue. Und Juristen waren einfach die interessantesten Kunden; sie konnten irgendwie alles einordnen.»

Melzer, der Spirituelle

Als er selbst im Begriff war, Anwalt zu werden, hielt Melzer inne. Er arbeitete als Gerichtsschreiber an der Zürcher Goldküste – und wollte plötzlich den vorgezeichneten Weg nicht mehr weitergehen. Melzer stürzte in eine Sinnsuche, die Bilder vom Weltall stiegen wieder in ihm auf, der ganz grosse Blick auf die Dinge, der doch wieder klein geworden ist. Der Mittzwanziger suchte Halt in einer Freikirche, obwohl er von Haus aus wenig Berührungspunkte mit der Spiritualität mitgekriegt hatte. Wenn Melzer heute über diese Zeit redet, dann stockt er, es scheint ihm unangenehm.

In einem früheren hagiografischen Porträt hatte er offener über eine entscheidende Episode gesprochen: Ihm seien innerlich vier Buchstaben erschienen, IKRK. Da hätte er gewusst, dass er sich in die Dienste des Roten Kreuzes stellen sollte. «Ich habe damals eine Art innere Führung erhalten», sagt Melzer heute, von welcher Instanz, lässt er im Ungefähren. In jenem Moment sei ihm das Bibelzitat des Astronauten wieder eingefallen, «und erst da habe ich seine Bedeutung begriffen», sagt Melzer.

Die Kirche verliess Melzer nach ein paar Monaten wieder, für das IKRK arbeitete er zwölf Jahre. Danach beriet er das Aussen- und das Verteidigungsdepartement in Sicherheitsfragen, bis er schliesslich 2016 UNO-Sonderberichterstatter für Folter wurde.

Melzer, der Diplomat

Zunächst setzte er sich für einen konzilianten Kurs ein. Als US-Präsident Donald Trump Waterboarding propagierte, kritisierte er diese Folter umgehend als Barbarei - ohne Trump persönlich anzugreifen, darauf legte er Wert. Nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei richtete er gleichsam Lob und Tadel an Erdogans Regime.

Doch innerhalb weniger Jahre veränderte sich Melzers Ton. Zunehmend verschaffte er sich über die Medien Gehör, ganz besonders im Fall von Julian Assange. Melzer prangerte die Haft des Wikileaks-Gründers an und als der Aufschrei zunächst ausblieb, witterte er so etwas wie eine Verschwörung der grossen Verlage der Welt. Assange sei ein Bauernopfer, Melzer hingegen kämpfe für die Rechtsstaatlichkeit. Mehr noch: «Es geht um die Verteidigung der Demokratie selbst», sagte Melzer einmal. Vergangenes Jahr veröffentlichte er dazu ein Buch. Auf dem Cover prangt ein grüner Punkt, darin steht: «Der spektakuläre Report des UNO-Sonderberichterstatters für Folter».

Auch in politische Diskurse schaltete er sich ein, schrieb Gastartikel gegen die Selbstbestimmungs-Initiative der SVP und trat gegen das Antiterrorgesetz in der «Arena» auf. Man kann Melzer nicht vorwerfen, dass er sein Heimatland schonte. 2021 bezeichnete er die Haftbedingungen des landesweit bekannten Häftlings Brian als unmenschlich.

Fast schrill wirkte Melzer, als er zuletzt niederländische Polizisten kritisierte, die einen Coronademonstranten mit Schlägen traktierten. Es sei eine der «widerlichsten Szenen von Polizeibrutalität seit George Floyd», schrieb Melzer auf Twitter, «DIESE BARBAREI MUSS HIER UND JETZT AUFHÖREN!». Melzer verkannte dabei, dass die Aufnahmen schon ein Jahr alt waren und erntete heftige Kritik der «Süddeutschen Zeitung», die ihn in die Nähe von Verschwörungstheoretikern rückte.

Melzer, ein Feigenblatt?

Melzer zeigt tatsächlich Tendenzen, gängige Narrative stark zu hinterfragen. Sein Verhalten hat aber wohl eher mit seinen Arbeitsbedingungen zu tun. Tausende Fälle von Folteranschuldigungen trafen auf seinem E-Mail-Account ein. Seine Stelle bekleidete er im Ehrenamt, sein «Team» war ein zweiköpfiges Sekretariat. «Die Ressourcen reichten, um jeden Tag einen Fall zu verfolgen und zu intervenieren», sagt Melzer. Das ist wenig Zeit für eigene Recherche. Und auch der Effekt ist klein: «Meistens ist es ein Standardbrief an das Aussenministerium im betroffenen Land.» Auf eine Antwort oder gar ernsthafte Untersuchung wartete Melzer meist vergeblich.

Der Kontrast ist gross: Da steht die UNO, das weltumspannende Konstrukt der Nationen und die hehre Charta der Menschenrechte. Dort die Stelle des Folterkommissars, dessen Budget kaum für einen Augenschein vor Ort ausreicht. Er kann die Gefängnisse von Zwergstaaten wie den Komoren und Malediven besuchen, aber bei Untersuchungen über die USA oder Russland beisst er auf Granit. Vor ein paar Wochen hat Melzer sein Mandat bei der UNO niedergelegt, um zum IKRK zurückzukehren, «wo ich mehr ausrichten kann», wie er sagt.

Obwohl er seinen Rücktritt frühzeitig bekanntgegeben hatte, ist sein Amt derzeit verwaist. Die UNO hat es verpasst, rechtzeitig eine Nachfolge zu nominieren. Auf der offiziellen Website wird immer noch Melzer geführt. Das moralische Gewicht des Amts steht auf so wackligen Beinen, dass man die Ernsthaftigkeit dieser Instanz bezweifeln muss.

Es ist Melzers sympathische Überheblichkeit, dass er gemeint hatte, in diesem Spiel der Mächtigen mitzumischen, als Ein-Mann-Gerechtigkeit unterwegs in allen Konflikten der Welt. Wenn solcher Enthusiasmus auf harte Realitäten trifft, dann bleiben nur zwei Auswege: Zynismus oder Aktivismus. Melzer hat sich für letzteres entschieden. Damals schon, als er noch ein sinnsuchender Student war.

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16 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Donny Drumpf
25.04.2022 07:40registriert November 2019
Ein Weltverbesserer.
Kann ich verstehen.
Es gibt in der Tat so vieles, das im Argen liegt.

Die UNO ist ein Dinosaurier und dient nur noch dazu, sein Narrativ öffentlich darlegen zu können. Ihr fehlt jegliche Handlungsfähigkeit, sobald ein Veto Staat involviert ist.
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x%8Tz*3GsUf3
25.04.2022 07:58registriert Dezember 2020
Mein erster Gedanke beim Lesen war, als 2-Mann Gespann in 10% der Fälle überhaupt etwas bewirkt zu haben ist ein Erfolg. Aber ich verstehe die Frust.
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Rethinking
25.04.2022 08:05registriert Oktober 2018
Nichts frustrierenders als wenn man seinen Job gut und richtig machen will, jedoch ständig bei Karrieristen aufläuft, denen nun mal die Sache sch. egal ist, solange ihre Karriere vorwärts geht resp. ihr bequemer Sessel nicht gefährdet ist…
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