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Die Schweiz steuert auf einen Zuwanderungsrekord zu

200'000 in einem Jahr: Die Schweiz steuert auf einen Zuwanderungsrekord zu

Der Krieg gegen die Ukraine, mehr Asylgesuche und auch bei den Arbeitskräften zieht die Migration an: In diesem Jahr könnte die Schweiz um den Kanton Basel-Stadt anwachsen. Das entspricht einem Bedarf von rund 90'000 Wohnungen.
05.07.2022, 05:2505.07.2022, 05:25
Kari Kälin / ch media
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Die Schweiz nähert sich in grossen Schritten der 9-Millionen-Grenze. Im ersten Halbjahr sind rund 100'000 Menschen neu ins Land gekommen. Der grösste Teil der Einwanderung – rund 60'000 Personen – entfällt auf Menschen aus der Ukraine, die vor Russlands Angriffskrieg geflohen sind. Bis Ende Mai stellten etwa 6800 Personen ein Asylgesuch, während der Wanderungssaldo bei der «regulären» Migration bei 32'700 Menschen liegt.

A family with a child from Ukraine arrive by train at Zurich's central station, following Russia's invasion of Ukraine, in Zurich, Switzerland on March 9, 2022. (KEYSTONE/Michael Buholzer)
Ukrainische Flüchtlinge bei ihrer Ankunft im Hauptbahnhof Zürich.Bild: keystone

Anfang Jahr lebten noch 8'736'500 Personen in der Schweiz (ständige Wohnbevölkerung). Bis Ende Jahr könnten es bis 200'000 Personen mehr sein. Das entspricht der Bevölkerung des Kantons Basel-Stadt. Der Bund geht davon aus, dass 90'000 bis 140'000 Ukrainerinnen und Ukrainer ein Gesuch für den Schutzstatus S stellen. Er rechnet ferner mit 16'500 neuen Asylgesuchen.

Entwickelt sich der Wanderungssaldo wie in den ersten fünf Monaten des Jahres, dürfte er bis Ende Jahr deutlich über 60'000 Personen liegen. Anzufügen bleibt: Personen mit Schutzstatus S sowie Asylsuchende und vorläufig Aufgenommene zählen erst nach einem Jahr Aufenthalt zur ständigen Bevölkerung.

Im letzten Jahrhundert betrug der Zuwanderungsrekord 100'000 Personen (1961). Es war die Zeit, in der die Schweiz einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte. Nach der Jahrtausendwende verzeichnete unser Land 2008 mit 98'000 Personen den höchsten Migrationssaldo.

Bedarf an 90'000 zusätzlichen Wohnungen

Was bedeutet die hohe Zuwanderung für die Schweiz? Schauen wir zunächst auf die Bildung: Rund 14'000 ukrainische Kinder sind im schulpflichtigen Alter. Wie stark deswegen Kapazitäten ausgebaut werden müssen, hängt laut Stefan Wolter, Professor für Bildungsökonomie, stark davon ab, wie gut die Kinder auf die einzelnen Gemeinden verteilt werden:

«Bei durchschnittlichen Klassengrössen von unter 20 Kindern und den entsprechenden Schulräumen wäre diese Zahl bei gleichmässiger Verteilung ohne zusätzliche Lehrpersonen und Schulräume zu verkraften.»

Ausgenommen seien die zusätzlich benötigten Lehrkräfte für den Landesprachenunterricht für Fremdsprachige.

Klar ist: In gewissen Bereichen braucht es einen Ausbau der Infrastruktur. Zum Beispiel beim Wohnraum. Im Durchschnitt leben 2.2 Personen pro Wohnung. Dividiert man 200'000 durch diese Zahl, kommt man auf einen theoretischen Bedarf von 90'000 zusätzlichen Wohnungen. Die Zahlenbeispiele sind mit Unsicherheiten behaftet, weil niemand genau weiss, wie sich der Krieg in der Ukraine entwickelt. Aktuell deutet wenig auf ein baldiges Schweigen der Waffen hin.

A Ukrainian soldier stands at a U.S.-supplied M777 howitzer in Ukraine's eastern Donetsk region Saturday, June 18, 2022. (AP Photo/Efrem Lukatsky)
Auch der Krieg in der Ukraine spielt beim Bevölkerungswachstum in der Schweiz eine wichtige Rolle.Bild: keystone

Reto Föllmi ist Volkswirtschaftsprofessor an der Universität St. Gallen und Spezialist für Migrationsfragen. Die Schweiz habe viel Erfahrung mit erhöhter Migration, sagt er. Welche Auswirkung die rekordhohe Zuwanderung von diesem Jahr haben werde, sei momentan schwierig einzuschätzen.

Für Föllmi gibt es aber Anlass zu Optimismus. Zum einen sucht die Schweizer Wirtschaft händeringend nach Arbeitskräften. Das ist anders als etwa zur Zeit des Jugoslawienkriegs, als das Land in einer Rezession steckte.

Zum anderen verfügten die ukrainischen Geflüchteten über eine relativ gute Ausbildung. Bis jetzt haben zwar erst 2000 von 32'000 Personen im erwerbsfähigen Alter eine Stelle gefunden, die meisten im Gastgewerbe und in der Informatik. Aber die Erwerbstätigenquote – aktuell 6.29 Prozent – zeigt in der Tendenz nach oben.

Justizministerin Karin Keller-Sutter sagte gegenüber dem «Sonntagsblick»: «Nach vier Monaten arbeiten schon deutlich mehr Aufgenommene aus der Ukraine, als dies bei anderen Flüchtlingsgruppen nach so kurzer Zeit der Fall ist.»

Ein Hindernis für die erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt ist die Sprache. Die Nachfrage nach Deutschkursen seitens der ukrainischen Geflüchteten ist aber hoch, wie unsere Zeitung berichtete. Pro Person beteiligt sich der Bund mit 3000 Franken an den Kosten für Sprachkurse.

Mehr als 2 Milliarden Franken Kosten

Nicht spurlos geht Putins Überfall auf die Ukraine am Bundesbudget vorbei. Für das nächste Jahr rechnet der Bund mit durchschnittlich 100000 Personen mit Schutzstatus S. Die Ausgaben für die Sozialhilfekosten, die der Bund den Kantonen und den Gemeinden erstattet, betragen 1.7 Milliarden Franken.

Sie werden ausserordentlich verbucht, sodass ein Budget resultiert, das mit der Schuldenbremse konform ist. Weitere 400 Millionen Franken Ausgaben fängt das Staatssekretariat für Migration im ordentlichen Haushalt auf. (aargauerzeitung.ch)

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137 Kommentare
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M.Ensch
05.07.2022 07:26registriert März 2020
In vielen Agglomerationen schlägt sich dies bereits in den Budgets nieder. Es fehlt an Infrastrukturen. Schulraum ist zu klein. Neue Schulmodelle beanspruchen zusätzlich Raum. Es wird verdichtet gebaut. Die Agglomerationen werden aus den Nähten platzen. Steuern müssen erhöht werden. Unter dem Strich bleibt nichts. Auch das muss die Politik überdenken. Vor allem auch von links.
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Schneider Alex
05.07.2022 06:02registriert Februar 2014
Eine quantitative Zuwanderungsregelung, ergänzt mit qualitativen Anforderungskriterien an zuwandernde Arbeitskräfte aufgrund eines Punktesystems könnte auf eine grosse politische Zustimmung bei der Stimmbevölkerung zählen.
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Zeit_Genosse
05.07.2022 07:30registriert Februar 2014
Der Preis des Wachstums. Wer denkt, dass stetiges Wachstum zu besserer Lebensqualität führt, wird dann aufmerksam, wenn das System an Grenzen kommt und man stetig das System ausbauen muss. Diese Spirale wird durch die Wirtschaft gedreht. Neue Firmen werden vom Ausland in der CH angesiedelt und brauchen Arbeitskräfte und brauchen Wohnungen, Schulen, Strassen, usw. Die Politik schaut zu, erhoft sich so Zufluss in die Sozialsysteme und Steuersubstraht, was in der Wachstumsphase ja passiert, aber dann später kippt. Bis dann sind die Politiker weg und neue Kräfte drehen am gleichen Rad weiter.
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