Die Schweiz nähert sich in grossen Schritten der 9-Millionen-Grenze. Im ersten Halbjahr sind rund 100'000 Menschen neu ins Land gekommen. Der grösste Teil der Einwanderung – rund 60'000 Personen – entfällt auf Menschen aus der Ukraine, die vor Russlands Angriffskrieg geflohen sind. Bis Ende Mai stellten etwa 6800 Personen ein Asylgesuch, während der Wanderungssaldo bei der «regulären» Migration bei 32'700 Menschen liegt.
Anfang Jahr lebten noch 8'736'500 Personen in der Schweiz (ständige Wohnbevölkerung). Bis Ende Jahr könnten es bis 200'000 Personen mehr sein. Das entspricht der Bevölkerung des Kantons Basel-Stadt. Der Bund geht davon aus, dass 90'000 bis 140'000 Ukrainerinnen und Ukrainer ein Gesuch für den Schutzstatus S stellen. Er rechnet ferner mit 16'500 neuen Asylgesuchen.
Entwickelt sich der Wanderungssaldo wie in den ersten fünf Monaten des Jahres, dürfte er bis Ende Jahr deutlich über 60'000 Personen liegen. Anzufügen bleibt: Personen mit Schutzstatus S sowie Asylsuchende und vorläufig Aufgenommene zählen erst nach einem Jahr Aufenthalt zur ständigen Bevölkerung.
Im letzten Jahrhundert betrug der Zuwanderungsrekord 100'000 Personen (1961). Es war die Zeit, in der die Schweiz einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte. Nach der Jahrtausendwende verzeichnete unser Land 2008 mit 98'000 Personen den höchsten Migrationssaldo.
Was bedeutet die hohe Zuwanderung für die Schweiz? Schauen wir zunächst auf die Bildung: Rund 14'000 ukrainische Kinder sind im schulpflichtigen Alter. Wie stark deswegen Kapazitäten ausgebaut werden müssen, hängt laut Stefan Wolter, Professor für Bildungsökonomie, stark davon ab, wie gut die Kinder auf die einzelnen Gemeinden verteilt werden:
Ausgenommen seien die zusätzlich benötigten Lehrkräfte für den Landesprachenunterricht für Fremdsprachige.
Klar ist: In gewissen Bereichen braucht es einen Ausbau der Infrastruktur. Zum Beispiel beim Wohnraum. Im Durchschnitt leben 2.2 Personen pro Wohnung. Dividiert man 200'000 durch diese Zahl, kommt man auf einen theoretischen Bedarf von 90'000 zusätzlichen Wohnungen. Die Zahlenbeispiele sind mit Unsicherheiten behaftet, weil niemand genau weiss, wie sich der Krieg in der Ukraine entwickelt. Aktuell deutet wenig auf ein baldiges Schweigen der Waffen hin.
Reto Föllmi ist Volkswirtschaftsprofessor an der Universität St. Gallen und Spezialist für Migrationsfragen. Die Schweiz habe viel Erfahrung mit erhöhter Migration, sagt er. Welche Auswirkung die rekordhohe Zuwanderung von diesem Jahr haben werde, sei momentan schwierig einzuschätzen.
Für Föllmi gibt es aber Anlass zu Optimismus. Zum einen sucht die Schweizer Wirtschaft händeringend nach Arbeitskräften. Das ist anders als etwa zur Zeit des Jugoslawienkriegs, als das Land in einer Rezession steckte.
Zum anderen verfügten die ukrainischen Geflüchteten über eine relativ gute Ausbildung. Bis jetzt haben zwar erst 2000 von 32'000 Personen im erwerbsfähigen Alter eine Stelle gefunden, die meisten im Gastgewerbe und in der Informatik. Aber die Erwerbstätigenquote – aktuell 6.29 Prozent – zeigt in der Tendenz nach oben.
Justizministerin Karin Keller-Sutter sagte gegenüber dem «Sonntagsblick»: «Nach vier Monaten arbeiten schon deutlich mehr Aufgenommene aus der Ukraine, als dies bei anderen Flüchtlingsgruppen nach so kurzer Zeit der Fall ist.»
Ein Hindernis für die erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt ist die Sprache. Die Nachfrage nach Deutschkursen seitens der ukrainischen Geflüchteten ist aber hoch, wie unsere Zeitung berichtete. Pro Person beteiligt sich der Bund mit 3000 Franken an den Kosten für Sprachkurse.
Nicht spurlos geht Putins Überfall auf die Ukraine am Bundesbudget vorbei. Für das nächste Jahr rechnet der Bund mit durchschnittlich 100000 Personen mit Schutzstatus S. Die Ausgaben für die Sozialhilfekosten, die der Bund den Kantonen und den Gemeinden erstattet, betragen 1.7 Milliarden Franken.
Sie werden ausserordentlich verbucht, sodass ein Budget resultiert, das mit der Schuldenbremse konform ist. Weitere 400 Millionen Franken Ausgaben fängt das Staatssekretariat für Migration im ordentlichen Haushalt auf. (aargauerzeitung.ch)