Wolodymyr Selenskyj mag sich öfter über die Schweiz geärgert haben. Über den Empfang in Bern aber konnte sich der ukrainische Präsident nicht beklagen. Er traf sich im Bundeshaus mit den Spitzen von National- und Ständerat sowie der Parteien (ausser der SVP). Danach wurde er auf dem Landsitz Lohn von drei Bundesrats-Mitgliedern begrüsst.
An der anschliessenden Medienkonferenz wartete Bundespräsidentin Viola Amherd mit einer überraschenden Ankündigung auf: «Die Schweiz ist bereit, einen hochrangigen Friedensgipfel zu organisieren», sagte die Verteidigungsministerin. Die Vorbereitungen würden umgehend beginnen, unter Führung des Aussendepartements (EDA).
Gänzlich unerwartet kommt diese Ankündigung nicht. Selenskyj bemüht sich seit einiger Zeit um eine breite Unterstützung für seine 10-Punkte-Friedensformel. Vier Konferenzen im «technischen» Format fanden bereits statt, die letzte am vergangenen Sonntag in Davos. Das nächste Ziel der Ukrainer ist ein grosser Friedensgipfel, möglichst auf Regierungsebene.
Die Schweiz möchte dabei mithelfen. Allerdings ist der Aggressor Russland, der seit bald zwei Jahren einen mörderischen Angriffskrieg gegen das Nachbarland führt, nicht dabei. Er ist aus ukrainischer Sicht sogar unerwünscht. Selenskyj will möglichst viele Länder auf seine Seite ziehen, vor allem aus dem Globalen Süden, wie er an der Medienkonferenz erklärte.
Es ist eine clevere Strategie. Wenn es auf dem Schlachtfeld nicht gut läuft, will die Ukraine wenigstens auf diplomatischer Ebene einen Durchbruch feiern. Die Schweiz ist dabei «Mittel zum Zweck». Wolodymyr Selenskyj ging es bei seinem Besuch in Bern nicht so sehr um Waffen und Geld, sondern um das Prestige der Schweiz als neutrale Vermittlerin.
In Europa und den USA mag ihre Neutralität zunehmend ins Zwielicht geraten, wegen der verweigerten Weitergabe von Waffen, oder weil sie zu wenig Russengelder konfisziert. In weiten Teilen der Welt aber ist das Image der Schweiz intakt, weil sie nie eine Kolonialmacht war, keine geopolitische Agenda verfolgt, und wegen ihrer humanitären Tradition.
Deshalb soll sie die nötige Unterstützung für die Ukraine beschaffen. Damit aber begibt sich die Schweiz auf einen riskanten Weg, direkt ins Minenfeld des Ukraine-Kriegs. Sie schlägt sich definitiv auf die Seite des angegriffenen Landes. Netter formuliert praktiziert sie jene «kooperative Neutralität», der der Bundesrat im Herbst 2022 noch eine Abfuhr erteilt hatte.
Man kann das als Anerkennung der globalen Realitäten würdigen. Aber die Risiken sind beträchtlich. Viola Amherd bemühte sich am Montag, die Erwartungen zu dämpfen: «Wir wollen, dass dieser Friedensprozess erfolgreich ist.» Das kann nur gelingen, wenn «Schwergewichte» wie Brasilien, Indien, Saudi-Arabien und Südafrika mitmachen.
Sie waren an der Konferenz vom Sonntag in Davos vertreten. Doch gerade von ihrer Seite gab es offenbar Kritik an Selenskyjs «Friedensformel», wie dessen Bürochef Andrij Jermak vor den Medien einräumte. Für einen Gipfel auf Ministerebene oder gar mit den Staats- und Regierungschefs dürfte noch einige Überzeugungsarbeit zu leisten sein.
Denn viele Staaten im Globalen Süden tun sich schwer damit, sich von Russland zu distanzieren. Das mag historische Gründe haben. Die Sowjetunion hatte zahlreiche Befreiungsbewegungen gegen die westlichen Kolonialmächte unterstützt, darunter den seit dem Ende der Apartheid 1994 in Südafrika regierenden African National Congress (ANC).
Er wurde im Westen als kommunistisch und terroristisch verunglimpft. Das galt selbst für seinen Anführer, den später als Freiheits- und Friedensikone gefeierten Nelson Mandela. Das haben die Südafrikaner nicht vergessen. Vor rund einem Jahr sorgten sie mit einem gemeinsamen Marinemanöver mit Russland und China für Irritation und Besorgnis.
China ist ohnehin der «Problemfall». Ohne seine Teilnahme macht ein Friedensgipfel wenig Sinn. Vor Kriegsbeginn hatte Peking hoffnungsvolle Signale ausgesandt. Seither unterstützt Staatschef Xi Jinping ungeniert seinen «Männerfreund» Wladimir Putin. Sie verbindet der Hass auf den «kollektiven Westen» und die Sehnsucht nach verlorener, imperialer Grösse.
Noch scheint dieses Bündnis zu halten. Ein von der Schweiz angestrebtes Treffen von Selenskyj mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Qiang kam nicht zustande, obwohl beide am Montag in Bern weilten und das WEF in Davos erst am Dienstag begann. Nun soll Aussenminister Ignazio Cassis laut dem «Tages-Anzeiger» schon bald nach Peking reisen.
Er will demnach Gespräche über eine mögliche Beteiligung Chinas am Friedensgipfel führen. Doch Cassis hat den Chinesen nichts zu bieten. Er wird als Bittsteller anreisen und sein ganzes diplomatisches Geschick aufbringen müssen, durch das der Tessiner bislang nicht aufgefallen ist. Das Risiko ist gross, dass er mit leeren Händen zurückkehrt.
In diesem Fall dürften auch andere gewichtige Länder zögern, sich an einer hochrangigen Konferenz in der Schweiz zu beteiligen. Die Schweiz hätte nur die Option, ein Treffen mit den «üblichen Verdächtigen» zu organisieren. Oder ihr Scheitern einzugestehen. Sie hätte sich von Wolodymyr Selenskyj für eine Mission impossible «einspannen» lassen.
Vielleicht gelingt das Kunststück. Es wäre der Ukraine zu gönnen, sie kann jede Hilfe brauchen. Ein Scheitern hätte für die Schweiz aber womöglich einen heilsamen Effekt. Sie müsste endgültig einsehen, dass Neutralität und Gute Dienste im heutigen geopolitischen Umfeld keine Bedeutung mehr haben. Was zählt, sind Macht und Einfluss.
Die Schweiz hat es wieder einmal mit einer weit vornehmeren Art von "Minenfeld" zu tun: Mit jenen Fettnäpfchen, in die man auf dem diplomatischen Parkett treten kann, wenn man als vermittelnder Mediator etwas sagt, was einer der einenader spinnefeind gesinnten Kriegsparteien nicht gefällt...