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«Fingerabschneider»: Was die belgische Drogenmafia in der Schweiz treibt

«Der Fingerabschneider» war vor Ort: Was die belgische Drogenmafia in der Schweiz treibt

Einer der meistgesuchten Gangster Belgiens war von Zürich aus aktiv. Nun soll er in seine Heimat ausgeliefert werden. Der Fall zeigt: Die «Narcos» wurden unterschätzt. Sie sind schon mitten unter uns.
11.10.2022, 20:35
Andreas Maurer und Remo Hess, Brüssel / ch media
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Wäre er ein gewöhnlicher Verbrecher, würde er Flor B. genannt. Doch er war auf der Liste der meistgesuchten Schwerverbrecher der Polizeibehörde Europol. Deshalb gehört er zum Kreis jener Kriminellen, über die mit ihrem ganzen Namen berichtet werden kann.

Flor Bressers auf Europols Most-Wanted-List.
Flor Bressers auf Europols Most-Wanted-List.

Flor Bressers, 36 Jahre alt, Belgier, hat seinen Beruf sogar studiert. Er hat einen Masterabschluss in Kriminologie. Damit hat er Karriere in der Unterwelt gemacht. Er gilt als Kopf einer kriminellen Organisation, die Kokain im Tonnenbereich aus Südamerika nach Europa importiert und hier vertrieben hat. Grosse Mengen soll sie dabei in die Schweiz geliefert haben.

Als international nach ihm gefahndet wurde, vermuteten ihn die Ermittler zuerst in Südafrika. Doch Bressers hatte sich mit seiner Frau und seinem Sohn in Zürich an bester Lage niedergelassen. Sie wohnten in einer luxuriösen Wohnung in einem Hochhaus beim Bahnhof Zürich Hardbrücke. Im Februar wurden er und seine Frau von der Sondereinheit Diamant der Kantonspolizei festgenommen.

Neues Urteil zeigt: Drogenmafia legt ihr Geld in der Schweiz an

Nun hat das Bundesstrafgericht Bressers Auslieferung nach Belgien gutgeheissen. Aus dem Gerichtsurteil geht hervor, dass die Schweiz wohl mehr als nur ein Versteck für ihn war. Er soll hier das Geld aus dem Drogenhandel gewaschen, angelegt und investiert haben.

Zudem soll er über ein Netzwerk von Helfern verfügt haben. Nur so sei es möglich, dass er zwei Jahre erfolgreich auf der Flucht war und sich neue Identitäten zulegen konnte. Neben seiner Wohnungsklingel in Zürich stand der Name «Falcon».

International bekannt war Bressers unter einem anderen Spitznamen: der «Fingerabschneider». Vor zwölf Jahren soll er einem niederländischen Gangster mit einer Gartenschere einen Finger abgeschnitten haben. Mangels Beweise wurde er allerdings freigesprochen.

Rechtskräftig verurteilt wurde er vor zwei Jahren, weil er einen niederländischen Floristen mit ähnlichen Mafiamethoden dafür bestraft hat, dass er es nicht geschafft hat, Drogen am britischen Zoll vorbeizuschmuggeln. Bressers entführte den Mann und verletzte ihn mit einem Rasiermesser.

In Belgien ist der Justizminister in Gefahr: Wer steckt dahinter?

Kürzlich spekulierten belgische Medien sogar, Bressers könnte in die versuchte Entführung des belgischen Justizministers Vincent Van Quickenborne involviert gewesen sein. Die Vorbereitungen dazu waren schon weit fortgeschritten: Ende September wurde ein verdächtiges Auto in unmittelbarer Nähe des Wohnorts des Politikers sichergestellt. Darin fand die Polizei Kalaschnikows, weitere Schusswaffen und Benzin. Seitdem befindet sich Quickenborne samt Familie in einem «Safe House», einem von der Polizei bewachten, unbekannten Versteck.

Danach geschah etwas Sonderbares: Bressers Anwälte veröffentlichten via Twitter eine Stellungnahme des Drogenbosses, in dem er sich davon distanzierte. Es sei gar nicht möglich, dass er damit etwas zu tun habe, da er seit neun Monaten in Zürich im Gefängnis sitze.

Tatsächlich ist Bressers hier einem strengen Regime unterzogen: Er befindet sich in Einzelhaft, weil befürchtet wird, dass er über Kontakte zu anderen Häftlingen seine Flucht organisieren oder Beweise verschwinden lassen könnte.

Das schmutzige Geschäft mit dem weissen Pulver boomt

Der Fall zeigt, wie die Gewalt der kolumbianischen Drogenkartelle nach Europa importiert wird. In den vergangenen sieben Jahren hat sich die weltweite Kokainproduktion gemäss dem Weltdrogenreport der UNO mehr als verdoppelt. In Kolumbien laufen die Geschäfte seit dem Friedensabkommen mit der kommunistischen Farc-Guerilla im Jahr 2017 besonders gut. Das Land versorgt zwei Drittel des Weltmarktes mit Kokain. Aber auch Peru und Bolivien haben die Produktion gesteigert.

Hier kommt das Kokain für den europäischen Markt an: Ein Zollbeamter im Hafen von Antwerpen.
Hier kommt das Kokain für den europäischen Markt an: Ein Zollbeamter im Hafen von Antwerpen.Bild: Imago

Die wichtigste Handelsroute führt von Südamerika mit Containerschiffen nach Antwerpen (Belgien) und Rotterdam (Niederlande). In den beiden grössten Hochseehäfen Europas kommen täglich Zigtausende Container an. Bei diesen Mengen kann bloss ein Bruchteil der Fracht inspiziert werden. Und gleichwohl finden die Beamten Monat für Monat Kokainlieferungen: zwischen Bananenschachteln, unter Kaffeesäcken oder in den Containerwänden.

Im Jahr 2021 waren es in Rotterdam über 70 Tonnen mit einem Verkaufswert von mehr als fünf Milliarden Euro. In Antwerpen wurden in der ersten Hälfte des laufenden Jahres fast 36 Tonnen sichergestellt. Und alle Beteiligten wissen: Das ist nur die Spitze des Eisbergs. In Realität liegt die Menge an importieren Drogen noch viel höher.

Ermittlungscoup: Polizei knackt das Chatsystem der Gangster

Gänzlich machtlos gegen die Drogenmafia sind die Behörden aber nicht: Ein folgenreicher Doppelschlag gelang in den Jahren 2020 und 2021. In internationaler Zusammenarbeit zwischen Frankreich, Belgien, den Niederlanden und der europäischen Polizeibehörde Europol wurden die verschlüsselten Nachrichtendienste «EncroChat» und «SkyECC» geknackt. Dabei handelt es sich um eine Art Whatsapp für Gangster.

Millionen an Nachrichten konnten so abgefangen werden, die zeigen, wie die Verbrecher sich über ihre Taten austauschen, Attentate planen und Deals einfädeln. «Es ist, wie wenn wir mit den Kriminellen am Tisch sässen», sagte die niederländische Polizeichefin Janine van den Berg.

Wie aus einem Gangsterfilm: ausgehobene Folterkammer in den Südniederlanden.
Wie aus einem Gangsterfilm: ausgehobene Folterkammer in den Südniederlanden.Bild: zvg

In der Folge konnten die Ermittler etliche Razzien durchführen. Spektakulär war die Aushebung einer schalldichten Folterkammer in den Niederlanden, in der Drogen-Gangster auf einem präparierten Zahnarztstuhl ihre Konkurrenten «behandeln» wollten. Listen für Entführungen waren bereits geschrieben, Handschellen, Skalpelle und Zangen lagen bereit.

Die Schweiz wacht auf: Das Problem ist grösser als angenommen

Die Schweizer Bundespolizei Fedpol hat seit Anfang Jahr Zugang auf die «SkyECC»-Daten. Es sind Hunderte Terabyte. Die Ermittler haben daraus neue Erkenntnisse gewonnen, wie ein Fedpol-Sprecher auf Anfrage bekanntgibt:

«Die Schweiz ist für die Organisierte Kriminalität nicht nur wie bisher oft angenommen ein Rückzugsort oder ein Platz zum Geldwaschen. Sondern es gibt hier viele Aktivitäten, die bisher unbemerkt stattgefunden haben.»

Das sei bemerkenswert, weil es nicht der gesellschaftlichen Wahrnehmung und auch nicht der Kriminalstatistik entspreche, die rückläufige Zahlen angebe. Diese seien zu tief, da sie nur erfassten, was auch angezeigt werde.

«Unsere Partner in Belgien und den Niederlanden sagen uns, sie hätten das Problem der Organisierten Kriminalität lange unterschätzt, weil es anfangs öffentlich kaum wahrnehmbar war», heisst es bei Fedpol. Aktuell prüfe die Behörde deshalb, ob die Instrumente zum Erkennen, Melden und Verfolgen der Organisierten Kriminalität ausreichend seien.

Belgische Zollbehörden zeigen, wie sie einen Container durchsuchen.
Belgische Zollbehörden zeigen, wie sie einen Container durchsuchen.Bild: imago

In Belgien wurden seit der Aufdeckung von «EncroChat» und «SkyECC» über 1200 Personen verhaftet, Dutzende Tonnen Kokain und ganze Waffenarsenale konfisziert. Die Erkenntnisse aus den Messenger-Diensten zeigen aber auch: Die Drogenbanden koordinieren sich untereinander. Albaner-Mafia, südamerikanische Kartelle, Marokkaner-Gangs und die italienische Ndrangheta arbeiten teils Hand in Hand und über die Landesgrenzen hinweg. Immer mehr zu einer Koks-Drehscheibe wird die belgische Hauptstadt Brüssel, wo der Stoff in Labors aufbereitet und später in ganz Europa verteilt wird.

In jüngster Zeit ist eine zunehmende Eskalation der Gewalt mit vorher nicht gesehener Brutalität festzustellen. Über den Sommer hinweg kam es in Antwerpen zu einem regelrechten Kleinkrieg mit beinahe täglichen Schiessereien. Sogar Handgranaten wurden geworfen, immer wieder gibt es Tote und Verletzte. Bart De Wever, Bürgermeister der flämischen Stadt, schlug Alarm und forderte die Hilfe des Föderalstaats an. Belgiens höchster Staatsanwalt Ignacio de la Serne warnte Anfang Jahr:

«Die Mafia nimmt das Land in Besitz.»

Vermehrt richtet sich die Aggression auch direkt gegen den Staat: Neben dem belgischen Justizminister wurde auch dem niederländischen Premierminister Mark Rutte mit Entführung gedroht. Die niederländische Kronprinzessin Amalia musste Mitte September aus dem Studentenheim wieder zurück hinter die schützenden Palastmauern ziehen, weil Entführungspläne aus dem Drogen-Milieu gegen die 18-Jährige vorlagen. Für Schlagzeilen sorgte auch die Ermordung des bekannten Kriminalreporters Peter de Vries, der im vergangenen Jahr in Amsterdam auf offener Strasse niedergeschossen wurde.

Politik kündigt dem «Narco-Terrorismus» den Kampf an

Die Politik versucht zu reagieren. In den Niederlanden wird Ridouan Taghi, dem mächtigsten Drogenbaron des Landes, unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen der Prozess gemacht. In Belgien lässt sich Justizminister Vincent Van Quickenborne auch nach der vereitelten Entführung nicht kleinkriegen und kündigte dem «Drogen-Terrorismus» den Kampf an.

Nach seinem Amtsantritt 2020 versprach er die Polizei mit 300 Millionen Euro zusätzlichen Mittel zu versorgen. In den Häfen soll die Frequenz der Kontrollen erhöht und das Personal aufgestockt werden. Neue Kompetenzen für die Finanzbehörden sollen es möglich machen, der Geldwäsche dienende Etablissements schneller zu schliessen.

Und: Quickenborne schloss Ende 2021 mit den Vereinigten Arabischen Emirate zwei Justizverträge ab, um die grossen Drogenbosse in die Mangel zu nehmen, die sich und ihr Vermögen oft in arabischen Metropolen wie Dubai verstecken. Dass Quickenborne zunehmend Erfolge erzielt und die Mafiosi langsam nervös werden, zeigt die versuchte Entführung des Justizministers.

Markt wächst: Grosses Angebot, hohe Qualität und tiefe Preise

Nichtsdestotrotz floriert der Kokainhandel weiterhin. Der Reinheitsgrad des Stoffs, der auf dem Schweizer Markt gehandelt wird, befindet sich auf einem hohen Level. Das zeigen Auswertungen von rechtsmedizinischen Labors der Schweiz. Der Reinheitsgrad ist in den vergangenen Jahren gestiegen – bei gleichbleibenden Preisen.

Das bedeutet, dass viel Ware in Europa ankommt und sich die Händler deshalb mit kleinen Margen und wenig Streckmitteln zufriedengeben müssen. Das ist gut für die Konsumenten, weil das Risiko einer Vergiftung sinkt. Dafür steigt mit höherer Dosierung die Gefahr für Herzprobleme.

Gemäss der Stiftung Sucht Schweiz beträgt der Marktpreis für eine Linie Koks in der Schweiz 10 bis 15 Franken – also weniger als ein Cocktail in mancher Bar. In keinem anderen Land Europas wird so viel Kokain im städtischen Abwasser gefunden wie hierzulande.

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Was beim Konsum vergessen geht: Möglich ist dieser nur, wenn Gangster wie Flor Bressers mitten in der Gesellschaft tätig sein können. Es sind Männer, die Finger mit Gartenscheren abtrennen.

Weil der belgische Drogenboss so gefährlich ist, hat das Bundesgericht kürzlich eine weitere Verlängerung seiner Einzelhaft gutgeheissen. Das höchste Gericht regt aber an, ihm mit der Zeit gewisse Kontakte zu Mithäftlingen zu ermöglichen.

Wie lange er noch in Zürich in Untersuchungshaft sitzt, ist ungewiss. Derzeit läuft die Frist, in der Bressers den Auslieferungsentscheid vor die nächste Instanz, das Bundesgericht, anfechten kann. Sein Anwalt verzichtet auf eine Stellungnahme. Es gilt die Unschuldsvermutung. (aargauerzeitung.ch)

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94 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Devilduck
11.10.2022 20:53registriert Juli 2018
Wer heute noch gegen die Legalisierung aller Drogen ist hat entweder überhaupt nichts begriffen, oder verdient sein Geld mit der Repression.

Selbstverständlich mit Besteuerung, Qualitätskontrollen etc. Dadurch würden Mittel für Prävention und Aussteighilfen generiert. Und der Markt für die Mafia ausgetrocknet.
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Dageka
11.10.2022 21:12registriert März 2014
Ich gratuliere den Drogen, die den Krieg gegen Drogen gewonnen haben. Legalisiert und besteuert das Zeugs endlich.
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Vortex86
11.10.2022 21:38registriert Juli 2016
In diesen Städten wird am meisten gekokst... Platz 2 St. Gallen... ein Schelm wer denkt, das hat was mit der Uni da zu tun 😉
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