Früher, als Reisen um des Reisens willen nur der absoluten Upperclass möglich war, wurden liebevoll recherchierte Reiseführer verfasst. So blättert die Autorin gerade in «Baedekers Ägypten» aus dem Jahr 1897 und erfreut sich der ausführlichen Karten, Beschreibungen und Hintergrundinformationen zu Land, Leuten, Sehenswürdigkeiten sowie der Geschichte (dabei sollte sie doch arbeiten!).
Heutzutage aber rasen wir wie selbstverständlich durch die Welt. Und anstatt uns Wochen oder sogar Monate einem Land und seiner Kultur hinzugeben, haben wir exakt 36 Stunden Zeit für Destinationen. (36 Stunden? Dazu gleich mehr.) Damit wir in dieser knapp bemessenen Zeit auch wirklich gar nichts Sehenswertes verpassen, verraten uns Reiseblogs und Tripadvisor die «Must Sees» zu ziemlich jeder Ecke der Welt.
Auch die Stadt Zürich ist einer dieser Ecken, die immer mal wieder als Reisedestination angepriesen werden. Und ab heute wird Zürich das beliebteste Kurztrip-Ziel der New Yorker. Denn das Quasi-Gemeindeblatt der Millionen-Metropole New York, «The New York Times», hat sich der Stadt Zürich als Reisedestination gewidmet und eine 36-Stunden-Must-Do-Liste erstellt. (Genau, hier kommen die 36 Stunden her.)
Doch die New Yorker bekommen dabei nicht, was die «New York Times» ihnen verspricht.
Würde man Zürcherinnen und Zürcher bitten, eine Skyline der historischen Altstadt zu malen, dann wären wohl auf den meisten Zeichnungen vier Kirchentürmchen zu sehen: zwei Türme vom Grossmünster, einer vom Fraumünster und einer von St. Peter.
So ähnlich teasert die «New York Times» Zürich im Titelbild auch an. Die Münsterbrücke, das Fraumünster und ein kitschiger Sonnenuntergang sollen US-Grossstädter in die grösste Stadt der Schweiz locken:
Durchaus sehr schmuck, dieses Zürich, wie es sich in der NYT präsentiert!
Das Problem ist nur, wenn man diese hübsch in Szene gesetzte Kulisse dann auch besuchen will, wird man in der «New York Times» nicht schlau, wo man denn nun hin muss. Laut dem Text muss man sich während des 36-Stunden-Zürich-Must-See-Trips nämlich Folgendes angucken (Beschreibungen von der NYT):
Diese Aufzählung ist bestimmt nicht schlecht. Aber es gibt eine eindeutige Text-Bild-Schere. Keine Kirche vor kitschigem Sonnenuntergang hier.
Zugegeben: Das Kunsthaus gehört definitiv auf diese Liste. Und auch eine Freitag-Tasche steht hippen New Yorkern ausgezeichnet. (Zudem: Ein bisschen Shopping muss sein.)
Aber die Aufzählung erscheint, als ob man einen 36-Stunden-Trip nach New York vorschlüge, ohne die Freiheitsstatue und den Central Park auch nur von weit weg anzuschauen! So, als ob man für einen Must-See-Kurztrip nach Paris ginge und einen grossen Bogen um den Eiffelturm machte. Als ob man in Kairo 36-Stunden verbrächte, ohne sich die Pyramiden anzusehen (hallo «Baedekers Ägypten» neben mir auf dem Schreibtisch). Als ob man sich Basel anschaute ohne – ja, was eigentlich?*
Was also ist jetzt mit diesem Titelbild der «New York Times»? Liebe New Yorkerinnen und New Yorker, auf dem Bild seht ihr eine der grössten Touristen-Attraktionen von Zürich: das Fraumünster.
Was euch da erwartet? Spektakuläre Chagall-Fenster (Notiz an die «New York Times»: In einer Liste, auf der die Blüemlihalle als «Must See» steht, sollten die Chagall-Fenster nicht fehlen) sowie ein Kreuzgang mit einer fantastischen Geschichte über einen leuchtenden Hirsch. Und Onophrios findet ihr auch im Fraumünster, der haarigste Heilige, seit es Heilige gibt. (Der ist wirklich ein Hingucker!)
Wenn wir schon das Fraumünster besuchen und seltsame Heilige bestaunen, dann könnte auch ein Kürzest-Trip zum Grossmünster drin liegen: Felix, Regula und Exuperantius sind da die Hauptattraktionen und tragen ihre Köpfe seit Jahrhunderten stoisch vor sich her. Karl der Grosse verblüfft in der Krypta durch seine körperlichen Merkmale.
Und da wir auch wegen des Teaserbildes der «New York Times» nach Zürich gereist sind, dann lohnt es sich auch, den Turm des Grossmünsters zu besteigen, von wo aus man einen fantastischen Blick aufs Fraumünster und die ganze Altstadt hat.
Bitte gärngscheh.
Was uns neben dem fehlenden Fraumünster auch ins Auge gestochen ist, ist der Beschrieb zum «Key Stop» Sprüngli:
Zürcherinnen und Zürcher sind sich gewohnt, dass ihre Stadt als teuer und dekadent in den Medien auftaucht. Es kann zum Leidwesen vieler in Zürich Lebenden nicht geleugnet werden.
Aber wenn schon dekadent in Zürich, dann wollen wir den New Yorkern nicht ein Birchermüesli (oder einen Big Mac) empfehlen, sondern das Fischli-Weiss-Haus.
Dieses Kunstwerk mit dem schlichten Namen «Haus» der Künstler Peter Fischli und David Weiss hat eine ganz spezielle Beziehung zu New York, da es dort 2016 zum ersten Mal ausgestellt wurde (nur so am Rande und gegen das Heimweh unserer Gäste aus Übersee).
Beim «Haus» handelt es sich um eine akribische Nachbildung eines unscheinbaren Gewerbehauses im Massstab 1:5. Es hat einen Wert von rund 2 Millionen Schweizer Franken und steht in Zürich so ein bisschen in der Gegend rum, zwischen Rennbahn und Hallenstadion. Ohne Security, ohne Zaun. Jeder kann es anfassen und so erfahren, wie sich 2 Millionen auf kleinstem Raum anfühlen. Dezente Dekadenz à la Zürich halt.
Birchermüesli können wir sonst auch das von der Migros empfehlen.
* Nein, liebe Baslerinnen und Basler, ihr habt eine wunderschöne Stadt, die höchsten Hochhäuser der Schweiz, den Rhyfisch erfunden und eine Fasnacht, die sogar Weltkulturerbe ist! Und ehrlich, wenn ich eine Skulptur von Tinguely sehen will, dann gehe ich nicht nach Zürich zu «Heureka», sondern nach Basel! Ich liebe euch und euer Städtli mehr, als dieser dumme Witz vermuten lässt!
Aber bin auch eher Typ Gemütsmoore.