Die Prämien-Entlastungs-Initiative der SP wurde mit 55,5 Prozent Nein-Stimmen relativ deutlich abgelehnt. Was waren die konkreten Gründe, weshalb die SP nicht an den Erfolg bei der 13. AHV-Rente anknüpfen konnte?
Einerseits ist das Parlament dem Anliegen der Prämien-Entlastungs-Initiative mit einem Gegenvorschlag entgegengekommen, was es bei der 13. AHV-Rente verpasst hatte. Aber vor allem deuten sowohl die Vorumfragen als auch die vorliegenden Resultate aus den Kantonen darauf hin, dass die Prämien-Entlastungs-Initiative von den bürgerlichen Wählenden viel klarer abgelehnt wurde als die 13. AHV-Rente. Diese wurde im März wegen des Giesskannenprinzips angenommen und dies bis weit ins rechte Lager. Bei der Prämien-Entlastungs-Initiative ging es viel klarer um eine Vorlage zugunsten von mittleren und tieferen Einkommen.
Ist der sozialdemokratische Höhenflug mit dem Erfolg bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr und der Annahme der 13. AHV-Rente nun bereits wieder vorbei?
Sicher ist es für die Partei eine Ernüchterung. Aber wir sollten nicht aus jedem Entscheid einen Trend oder eine Trendwende herauslesen. Das Gesamtbild ist heute das gleiche wie vor dem Wochenende: Die SP hat es geschafft, sich zu stabilisieren und positioniert sich mit dezidiert progressiven Vorlagen in der direktdemokratischen Arena.
Wie steht es denn aktuell um die SP?
Also erst einmal gibt es Unterschiede zwischen Wahl- und Abstimmungserfolg. Das verhältnismässig gute Abschneiden der SP bei den Parlamentswahlen 2023 konnte man schon erwarten.
Weshalb?
Es stimmt zwar, dass die SP bei den Wahlen 2019 deutlich verloren hat. Allerdings an die Grünen, also innerhalb des linken Lagers. Die Inhalte, die 2023 im Zentrum standen, waren Kaufkraft und gesellschaftspolitische Themen wie Gleichstellung und Migration. Bei diesen Inhalten besitzt die SP im linken Lager die Themenherrschaft, das hat ihr zum Wahlerfolg verholfen. Die Forschung zeigt, dass das linke Lager mittelfristig recht stabil ist. Die Frage ist vielmehr, wie sich die Wählendenprozente auf die progressiven Parteien aufteilen.
Wie sieht es bei den Abstimmungen aus?
Grundsätzlich ist es ja äusserst selten, dass in der Schweiz Stimmvolk und Kantone Volksinitiativen annehmen. Im Speziellen linke Umverteilungsinitiativen haben es sehr schwer. Mit der 13. AHV-Rente, der Prämien-Entlastungs-Initiative und der Kita-Initiative griff und greift die SP aber Themen auf, die das Budget eines grossen Teils der Mittelschicht belasten. Auch wenn es bei der Prämien-Entlastungs-Initiative gestern nicht gereicht hat. Anders als bei der Mindestlohn- und der 99%-Initiative geht es nicht um Umverteilung am oberen und unteren Rand. Es geht um das Monatsbudget von durchschnittlichen Schweizer Haushalten. Damit kann die SP weit über das linke Lager hinaus mobilisieren. Im Falle der 13. AHV-Rente so stark, dass sie angenommen wurde.
Die Vorlagen der SP treffen aktuell also einen Nerv. Kann eine Partei beeinflussen, was im Moment beim Stimmvolk auf Interesse stösst?
Ja, das ist möglich, beispielsweise mit Volksinitiativen. Diese sind ein Instrument, das der Bevölkerung ermöglicht, mitzuentscheiden. Volksinitiativen dienen aber auch der politischen Elite, etwa den Parteien und Verbänden, ein Thema in einem strategisch wichtigen Moment sichtbar zu machen. Damit können sie die öffentliche Debatte im Sinne ihrer eigenen Agenda prägen.
Das scheint bei der SP aktuell gut zu funktionieren.
Das ist so. Andererseits darf man den Einfluss von Parteien auch nicht überbewerten. Eine Partei kann nicht einfach ein Thema erfinden. Die SVP wollte im vergangenen Wahljahr den Stadt-Land-Graben politisch nutzen, merkte dann aber schnell, dass dies nicht funktionierte. Bei der 13. AHV-Rente und der Prämien-Entlastungs-Initiative entstand mit den steigenden Krankenkassenprämien und der Inflation ein Kontext, der für diese Anliegen günstig war. Die steigenden Lebenshaltungskosten sind für viele Menschen ein reales Problem. Etwas muss ich jedoch noch ergänzen.
Bitte.
Dass die SP solche Initiativen lancieren und glaubwürdig vertreten kann, hat damit zu tun, dass sie sich immer sehr klar positionierte. Im Gegensatz zu anderen sozialdemokratischen Parteien Europas. Die SPD unter Kanzler Gerhard Schröder oder die britische Labour-Partei unter Tony Blair rückten vor etwa 20 Jahren einst vorübergehend zur politischen Mitte. Das hat die SP nie gemacht. Sie politisierte schon immer ganz dezidiert – für einige extrem – am linken Rand. Deswegen hat sie gerade beim Thema Umverteilung eine hohe Glaubwürdigkeit.
Die SP hat auch verhältnismässig früh auf diese Themen gesetzt.
Genau. In Bezug auf wirtschaftspolitische Inhalte blieb sie, wie gesagt, immer klar am linken Rand. Bei den «neueren» Themen, die seit den 1980er-Jahren aktuell sind – Minderheiten, Gleichstellung, Migration, Globalisierung – ist sie ebenfalls sehr früh und konsistent an den progressiven Pol gerückt. Diese Stabilität zahlt sich für die Partei aus.
Wie kam es dazu, dass die SP diese Inhalte so früh aufgegriffen hat?
Die SP hat es einfacher als andere sozialdemokratische Parteien Europas. Sie kann gleichzeitig in der Regierung und radikal sein. Sie kann extreme Positionen belegen und im Bundesrat pragmatisch mitregieren. Die SPD in Deutschland ist in der Regierung und stellt derzeit den Kanzler. Sie muss fast ausschliesslich mit Realpolitik Probleme lösen. Direktdemokratische Instrumente wie eine Volksinitiative oder ein Referendum gibt es in Deutschland nicht.
Bei der Abstimmung zur 13. AHV-Rente spielten die Gewerkschaften eine grosse Rolle. Im Europadossier wirkt es aber so, als wären sie der SP ein Klotz am Bein.
Die Europafrage ist für die SP tatsächlich keine einfache. Gegenwärtig geht es jedoch primär um Verhandlungen, das heisst, dass die Akteure starke Forderungen platzieren. Zwischen der SP und den Gewerkschaften gibt es hierbei im linken Lager auch eine gewisse Rollenaufteilung. Die Gewerkschaften können mit dem Scheitern des Abkommens drohen. Die SP muss pragmatischer auftreten, denn sie möchte ein Abkommen.
Warum möchte die SP dieses Abkommen stärker als die Gewerkschaften?
Kommt es irgendwann zu einer Abstimmung, darf man nicht vergessen: Die Wählerschaft der SP besteht zum Grossteil aus gut ausgebildeten Personen der Mittelschicht. Diese demografische Schicht möchte ein Rahmenabkommen. Die Gewerkschaften sind der SP-Wählerschaft zwar wichtig, sie wird aber kaum geschlossen gegen ein Rahmenabkommen stimmen.
Sie sprechen die Wählerschaft der SP an. Wurde der Arbeiter klammheimlich durch die Akademikerin ersetzt?
Nein. Die Wählerschaft der SP hat sich jedoch stark verändert. In der 1980er-Jahren bestand sie zu zwei Dritteln aus Arbeiterinnen und Arbeitern, nicht nur aus der Fabrik, auch aus Büro- und Dienstleistungsarbeitenden. Heute gehören bis drei Viertel der SP-Wählerschaft der Mittelschicht an. Die durchschnittliche SP-Wählerin ist heute Projektmitarbeiterin, Lehrerin oder Laborantin. Ganz normale, aber qualifizierte Berufe. Fabrikarbeiterin ist sie sicher nicht.
Wie kam es dazu?
Die Neuzusammensetzung der SP-Wählerschaft ist Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Veränderungen. In der Schweiz sind heute weit über 50 Prozent der Berufe hoch qualifiziert und kognitiv. Bei den unter 40-Jährigen haben wiederum fast 50 Prozent einen tertiären Abschluss (Universität, Fachhochschule, HF). Wäre die SP ausschliesslich eine Arbeiterpartei, hätte sie einen Wählendenanteil von 10 Prozent.
Kommt diese Akademisierung der SP zugute?
Das kann man so eindeutig nicht sagen. Mitte des 20. Jahrhunderts waren die Studierten – etwa Ärzte, Anwälte – klar bürgerlich. Das ist heute anders. Ein hoher Bildungsabschluss macht Menschen in der Schweiz gesellschaftspolitisch eher progressiver. Wirtschaftspolitisch betrachtet steht ein Teil links und ein Teil rechts.
Wieso hat man aufgrund der öffentlichen Debatte oft das Gefühl, die SP habe in den letzten 30 Jahren Wählende aus der Arbeiterschaft an die SVP verloren? Mit Studien lässt sich dies ja nicht erhärten.
Das stimmt, hier muss man jedoch genau hinschauen: Die SP hat früher in der Arbeiterschaft am erfolgreichsten mobilisiert, heute macht das die SVP genauso erfolgreich, wenn nicht sogar besser. Es stimmt also schon, dass die Linke die Vormachtstellung in der Arbeiterklasse verloren hat. Bei den heute SVP wählenden Arbeiterinnen und Arbeitern handelt es sich aber nicht um dieselben Menschen, die früher die SP gewählt haben. Die direkte Abwanderung liegt unter fünf Prozent. Wir haben das mit zahlreichen Daten angeschaut.
An wen hat die SP dann ihre Wählenden verloren?
Die SP hat vor allem Wählende innerhalb des linken Lagers verloren, vornehmlich an die Grünen. Hoch qualifizierte und jüngere Personen wanderten zu den Grünen ab, und vor allem gehen Neuwählende im linken Lager heute stärker zu den Grünen als zur SP. Diejenigen Arbeiterinnen und Arbeiter, die heute SVP wählen, waren gar nie links. Das sind eher Leute, die vorher gar nicht gewählt haben und sich heute durch die Positionen der SVP angesprochen fühlen oder Personen, die aufgrund ihres Alters zum ersten Mal wählen durften.
Die «eine» Arbeiterschaft gab und gibt es ohnehin nicht.
Genau. Es gab schon früher viele Arbeiterinnen und Arbeiter, die beispielsweise aus religiösen Gründen die CVP wählten. Die konservativ denkenden Personen aus der Arbeiterschaft werden heute zu einem grossen Teil von rechtsnationalen Parteien mobilisiert. Aber klar, der Eisenbahner, der ans 1.-Mai-Fest geht, der wählt heute immer noch die SP. Gerade gewerkschaftlich organisierte Arbeiterinnen und Arbeiter bleiben links.
Nebst der wirtschaftspolitischen Konfliktlinie sind gesellschaftspolitische Fragen in der Schweiz zunehmend wichtig. Weshalb?
Viele der grossen verteilungspolitischen Kämpfe des 20. Jahrhunderts, die Einführung von Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung und Krankenkasse, waren irgendwann ausgefochten. Seit 1994 ist die Schweiz sozusagen ein vollständiger Sozialstaat. Wie wir mit den aktuellen Volksinitiativen sehen, sind die Sozialleistungen auch heute als Thema noch aktuell. Es geht aber nicht mehr um die ganz grossen Grundsatzfragen. Hinzu kommt ein zweiter Punkt.
Und der wäre?
In den 1970er- und 1980er-Jahren kamen neue linke Bewegungen auf, die im Parteiensystem noch nicht repräsentiert waren: Umweltschutz, Waldsterben, Anti-AKW, Gleichstellung, Friedensbewegung, internationale Solidarität, europäische Integration. Die etablierten Parteien waren gefordert.
Inwiefern?
Sie mussten sich zu diesen Themen positionieren. Die SP hat diese Inhalte dann sukzessive zu ihren eigenen gemacht. Gleichzeitig lösten die neuen Forderungen bei konservativen, national orientierten Kräften eine Gegenbewegung aus. Die Schweiz ist hier ein Paradefall, weil diese Auseinandersetzungen besonders intensiv und besonders früh stattfanden. Der Kampf ums Eherecht Ende der 1980er-Jahre war einer der Ersten zwischen SP und SVP, danach kamen die EWR-Abstimmung und später die Fragen rund um die Zuwanderung.
Die Wählerschaft der SP wird tendenziell immer gebildeter, aber auch älter. Könnte dies zu Spannungen führen, mit der jüngeren, von Ex-Juso-Mitgliedern dominierten Parteispitze, die ein anderes Programm verfolgt?
Dieser Frage liegt die Annahme zugrunde, dass viele
ältere SP-Wählende konservativer oder zumindest moderater sind als die jüngere, teils radikale Führung. Das ist aber ein Fehlschluss. Die heute 70-jährigen SP-Wählenden waren in den 1980er-Jahren an Anti-AKW-Demos, setzten sich für den Umweltschutz ein und für die Friedens- und Solidaritätsbewegung. Sie waren genauso auf der Strasse wie die Klimajugend heute. Das Bild der zentristischen Alten und der radikalen Jungen stimmt so nicht.
Durch das Alter ausgelöste Unterschiede in der Themenpräferenz gibt es aber schon.
Das ist so. Eine Studie, die wir durchgeführt haben, zeigt: Den älteren SP-Wählenden sind sozialpolitische Themen wichtiger. Junge, progressive Menschen geben gesellschaftspolitischen Inhalten wie Gleichstellung oder Migration grosse Bedeutung. Das ist für die SP nicht ganz einfach, weil sie Themen setzen muss, die alle ansprechen. Deswegen setzt die Parteileitung aktuell auf Inhalte wie Kaufkraft, Klima und Frauenrechte, ein Strauss aus Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik.
Über 70 Prozent der SP-Wählenden können sich genauso gut vorstellen, die Grünen zu wählen, und umgekehrt. Sind diese Grabenkämpfe im gleichen Lager nicht etwas absurd?
Die Situation ist schon speziell. Sie führt dazu, dass die SP ihr Wählendenpotenzial von 40 bis 45 Prozent nicht einmal zur Hälfte ausschöpfen kann. Andererseits sind diese beiden Parteien nun da. Sie möchten sich behaupten. Zu einem gewissen Grad kommt ihnen das auch zugute.
Wie denn?
Sie können sich spezialisieren und verschiedene Themen abdecken. Klar geht es dabei um die Dominanz im linken Lager, aber beide Parteien haben das gleiche Ziel, und zwar den Wählendenanteil gesamthaft zumindest zu halten oder sogar auszubauen. Im rechten Lager gab es nebst der SVP einst ja auch andere Parteien, die Schweizer Demokraten oder die Auto-Partei. Diese Parteien gingen aber alle in der SVP auf. Die SVP hat mit gut 30 Prozent insgesamt ein tieferes Wählendenpotenzial als die SP, schöpft dieses aber sehr gut aus.
Sie diskutieren in Ihrem Buch mehrere Herausforderungen der Sozialdemokratie, eine davon ist die programmatische Konsistenz. Was ist damit gemeint?
Programmatische Konsistenz meint, mit den Stimmen aus der Mittelschicht eine Politik zu machen, die in weiten Teilen den unteren Gesellschaftsschichten nützt.
Das heisst?
Es geht darum, dass die SP auch heute noch vom Versprechen von mehr sozialer Gleichheit lebt. Sie will die Lebenschancen und Lebensbedingungen von sozial schlechter gestellten Menschen verbessern. Allerdings erhält die SP immer mehr Stimmen aus der gebildeten Mittelschicht. Die grosse Frage ist daher, ob diese Wählenden Umverteilung konsequent befürworten, auch wenn sie selbst nicht davon profitieren. Ein Beispiel: Auch wenn progressive Krankenkassenprämien im Moment vom Tisch sind, zeigten vergangene Befragungen, dass SP-Wählende, die selbst mehr hätten bezahlen müssen, trotzdem zugestimmt haben. Bleibt das so, ist die programmatische Konsistenz gegeben.
Hmmm, diese Aussage ist doch etwas gewagt, selbst für mich als SP Wähler.
Suggeriert sie doch, das die SVP gezielt bei der Bildung sparen will um das Bildungsniveau niedrig zu halten und somit ausreichend Wähler für sich zu generieren. Im übrigen bin ich, männlich, Handwerker und wähle SP, wie viele aus meinem Umfeld. Ich bin also nicht hochschulmässig gebildet. Kann aber selbstständig denken und kemne den Unterschied zwischen Problemlösung &Problembewrtschaftung
Das Problem bei vielen Initiativen der SP: Die Umverteilung geht auf Kosten des Mittelstands. Damit fällt dann der Mittelstand auch in die Unterschicht und die Schere zwischen arm und unglaublich reich wird nich kleiner. …selbst die untere Oberschicht ist nicht unendlich reich und hat meist hart für den Wohlstand gearbeitet (oder die Familie hat es getan). Anders sieht es bei Multimillionären aus, dort vermehrt….