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Niedergang des «Prinzen der Doppelzüngigkeit»: Der Fall Tariq Ramadan in 5 Akten

epa06343714 (FILE) A file picture dated 23 March 2016 shows Swiss philosopher and professor of Contemporary Islamic Studies Tariq Ramadan speaking during a panel session 'How can religion contrib ...
Ramadan an einer Konferenz in Genf.Bild: EPA/KEYSTONE

Niedergang eines schillernden Doppelagenten: Der Fall Tariq Ramadan in 5 Akten

21.02.2018, 11:24
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Er ist eine der zentralen Figuren des frankophonen Islams und wohl einer der einflussreichsten Schweizer Denker und Schriftsteller der Gegenwart: Tariq Ramadan, Theologe mit internationalem Renommee.

Ramadan ist gefeiert wie gefürchtet. Befürworter in ganz Europa hängen an den Lippen des «islamischen Erneuerers» während seine Gegner ihn als «gefährlich» und «Prinzen der Doppelzüngigkeit» titulieren.

Sicher ist, Ramadan hat eine steile Karriere hingelegt: Er berät Regierungen, hält einen Lehrauftrag an der renommierten Oxford-Universität, ist Gast in zahlreichen Talkshows zur Primetime und debattiert dabei mit Persönlichkeiten wie dem französischen Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy.

Doch die Zukunft des Intellektuellen sieht weniger rosig aus. Der Schneeballeffekt nach dem Weinstein-Skandal hat auch ihn erfasst: In Frankreich reichten Ende 2017 zwei Frauen Klagen wegen Vergewaltigung, Gewalttätigkeit und Belästigung gegen ihn ein. In der Schweiz wird Ramadan beschuldigt, als Lehrer mit drei minderjährigen Schülern sexuelle Beziehungen gehabt zu haben. Der Skandal ist gross: Seit Anfang Februar sitzt der Theologe in Untersuchungshaft, Anhänger wenden sich von ihm ab und nun soll er auch noch an multipler Sklerose erkrankt sein.

Der Aufstieg und Untergang eines schillernden Theologen in fünf Akten. 

1. Akt: Die Muslimbrüder erhalten Nachwuchs 

Die Geschichte Ramadans nimmt 1962 in Genf seinen Anfang, wo er als das jüngste von sechs Kindern geboren wird. Das theologische Wirken wird Tariq in die Wiege gelegt: Er ist ein Enkel von Hassan al-Banna, dem Begründer der ägyptischen Muslimbrüder.

Der junge Ramadan besucht eine Schweizer Schule, studiert später Philosophie, französische Literatur und Sozialwissenschaften in Genf und schliesst sein Lizenziat mit einer Arbeit über Friedrich Nietzsche ab. Schon in jungen Jahren gilt er als äusserst wortgewandt und kultiviert.

Ramadan weiss früh um die Wichtigkeit, Kontakte zu knüpfen. Er freundet sich mit dem damaligen SP-Nationalrat Jean Ziegler an, ist aktiv bei der Nichtregierungsorganisation SOS-Racisme, engagiert sich für die palästinensische Sache. Später geht er nach Ägypten, um islamische Theologie zu studieren.

2. Akt: Steiler Aufstieg

Nach seinem Koranstudium kehrt er 1992 in die Schweiz zurück. In den darauf folgenden Jahren gründet er die Organisation «Musulmans, Musulmanes de Suisse», wird Lehrer für Philosophie in Genf und Lehrbeauftragter an der Universität Fribourg. In Frankreich tritt er zu dieser Zeit regelmässig im Fernsehen und an Konferenzen auf und sichert sich so einen immer wachsenden Bekanntheitsgrad. Seinen Namen ist spätestens ab 2003 den meisten Frankophonen ein Begriff, als er eloquent den damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy an die Wand redet. 

Debatte Sarkozy vs. Ramadan

Ramadan wird Mitglied in diversen EU-Expertenkommissionen für Islamfragen und hält Vorlesungen an Hochschulen der ganzen Welt. Dabei sieht sich der Vater von vier Kindern als Vertreter des «Euro-Islams». Er fordert seine Glaubensbrüder auf, sich in der westlichen Welt nicht länger als Minderheit und Opfer anzusehen, sondern sich als vollwertige Bürger zu bezeichnen und gleichzeitig den Prinzipien des Islam treu zu bleiben. Diese Haltung sorgt besonders bei Zuwanderern der zweiten Generation in den Vorstädten, aber auch bei linken Intellektuellen für viel Zuspruch. 2009 wird Ramadan Professor für Islamwissenschaft an der Oxford-Universität in England.

3. Akt: Prinz der Doppelzüngigkeit

Mit diesem Lehrstuhl gerät Ramadan aber auch sofort in Kritik. Denn dieser wird vom Emirat Katar finanziert. Viel beachtet wird auch Ramadans Vorschlag, ein Moratorium für körperliche Strafen im islamischen Recht zu erreichen: Für seine Anhänger ein mutiger Reformvorschlag, während seine Gegner einen Skandal darin sehen, dass er sich nicht zu einer direkten Abschaffung dieser Strafen bekennt.

Im Januar 2015 äussert sich Ramadan zu dem Anschlag auf Charlie Hebdo und attestiert der Zeitschrift unter anderem einen «Humor von Feiglingen». Weiter stösst er seine Gegner mit einem auf seiner Webseite erschienenen Editorial vor den Kopf. Der Artikel kritisiert einen angeblich mangelnden «Universalismus» jüdischer Intellektueller sowie die Unfähigkeit gewisser französischer Publizisten, von ihrer jüdischen Abstammung zu abstrahieren und klar die Palästinapolitik Israels zu verurteilen.

Zu reden gibt ebenfalls seine familiäre Herkunft. Die Muslimbruderschaft ist eine der einflussreichsten sunnitisch-islamistischen Bewegungen. Gegründet wurde sie als Reaktion auf die, wie sein Grossvater al-Banna meinte, sich verbreitende Zügellosigkeit innerhalb der muslimischen Gesellschaft. Die Muslimbrüder strebten an, einen islamischen Staat aufzubauen.

Seine Kritiker werfen Ramadan vor, für eine besonders konservative und politische Auslegung des Islam einzutreten. Er selbst weist aber jede Nähe zu extremistischen Strömungen zurück. Ist Tariq Ramadan ein radikaler Salafist oder differenzierter Reformer? Mehrere Dutzend Bücher haben sich seit 2003 mit dieser Frage befasst.

Zwischen 1995 und 1996 ist es Ramadan nicht erlaubt, in Frankreich einzureisen. Das französische Innenministerium erteilt ihm ein entsprechendes Verbot. Der Vorwurf: Er unterstütze Islamisten. Jean Ziegler reicht damals übrigens eine Interpellation gegen die «willkürliche» Massnahme ein. Einige Jahre später, zwischen 2004 und 2010, erteilt die USA dem Theologen aus politischen Gründen ein Einreiseverbot. 

4. Akt: Schweizer Weinstein? 

Im Zuge der MeToo-Bewegung erstattet die feministische Muslimin Henda Ayari, früher bekennende Salafistin, im Oktober 2017 Anzeige gegen Ramadan. Ihr Vorwurf: Ramadan habe sie 2012 in einem Pariser Hotel vergewaltigt. Ayari hat das Erlebte in ihrer Jahre zuvor erschienenen Autobiografie «J’ai choisi d’être libre» (deutsch: Ich habe mich entschieden, frei zu sein) beschrieben, ohne den Namen ihres Peinigers zu nennen. Später kommt Ayari jedoch selbst in Kritik, als Facebook-Chats zwischen ihr und Ramadan an die Öffentlichkeit gelangen. Darin wird ersichtlich, dass Ayari knapp ein Jahr nach dem mutmasslichen Übergriff auf freundschaftliche Weise den Kontakt zu Ramadan sucht. Laut den Kritikern Grund genug, Ayaris Version anzuzweifeln. 

«Die Verteidigung von Tariq Ramadan: ‹Ich bin die sechste Säule des Islams.›» Wegen dieser Titelseite gingen bei der Satire-Zeitschrift viele Charlie Hebdo Morddrohungen ein. 
«Die Verteidigung von Tariq Ramadan: ‹Ich bin die sechste Säule des Islams.›» Wegen dieser Titelseite gingen bei der Satire-Zeitschrift viele Charlie Hebdo Morddrohungen ein. Bild: screenshot charlie hebdo

Wenige Tage nach Ayari reicht eine weitere Frau, eine gehbehinderte 45-jährige Französin, Klage gegen Ramadan ein. Auch sie berichtet, der Gelehrte sei in einem Hotelzimmer über sie hergefallen, habe sie vergewaltigt und geschlagen. Ramadan habe ihr ausserdem die Krücken weggenommen, sie an den Haaren ins Badezimmer geschleift und auf sie uriniert, wie die Frau der Zeitung Marianne erzählt. 

Ramadans Antwort: «Ich habe mit diesen Frauen nie Geschlechtsverkehr gehabt.» Diese Behauptung gerät aber ins Wanken, als die Frau erklärt, Ramadan habe eine drei Zentimeter lange Narbe zwischen Leiste und Geschlecht, was dieser daraufhin bestätigen musste. 

Im November wird bekannt, dass Ramadan auch in der Schweiz  mit seinem Verhalten auffiel. Die Tribune de Genève berichtet von Vorwürfen, Ramadan habe in den 90er-Jahren als Lehrer an einem Genfer Gymnasium mit mehreren minderjährigen Schülerinnen ein Verhältnis gehabt. Der damalige Direktor der Schule bestätigt gegenüber der Zeitung, über derartige Aussagen informiert gewesen zu sein. Untersuchungen seien damals aber nicht eingeleitet worden. 

Die Gegner des charismatischen Rhetorikers lachen sich derweil ins Fäustchen, hat Ramadan doch immer gegen jegliche Gewalt und für die Enthaltsamkeit ausserhalb der Ehe gepredigt.

Letzte Woche hat sich in den USA nun ein drittes mutmassliches Opfer gemeldet, wie die US-Anwältin Rabia Chaudry auf Facebook bekannt gibt. Sie habe den Fall an den Bundesstaatsanwalt weitergegeben. 

5. Akt: Der gefallene Prinz

In Frankreich läuft gegen Ramadan wegen den Vergewaltigungsvorwürfen nun ein Ermittlungsverfahren. Bei seiner Einreise Ende Januar wird er festgenommen und sitzt seither in einem Untersuchungsgefängnis in Paris. Er bestreitet die Vorwürfe, wertet sie als Teil einer Verleumdungskampagne und hat eine Gegenklage eingereicht. 

Am 17. Februar berichtet die Radiosendung Journal du dimanche, dass im Zuge der französischen Ermittlungen auch eine Schweizerin als Zeugin einvernommen werde. Die Frau sei eine ehemalige Geliebte Ramadans. 

Vor drei Wochen haben Ramadans Anwälte eine medizinische Untersuchung gefordert, die darüber entscheiden soll, ob ein Gefängnisaufenthalt für den 55-Jährigen zumutbar ist oder nicht. Denn Ramadans Zustand soll sich während der Zeit seiner Inhaftierung erheblich verschlechtert haben, die Rede ist von multipler Sklerose. Doch seit Montag ist sicher: Der Prediger muss in Haft bleiben. Sein Gesundheitszustand ist laut ärztlichem Gutachten mit seiner Inhaftierung vereinbar.

Etwa zeitgleich mit der Enthüllung von Ramadans schlechtem Gesundheitszustand taucht in den sozialen Medien ein Video auf, in dem Ramadans Ehefrau Iman zu sehen ist. Sie wirft den Medien eine Vorverurteilung ihres Mannes vor und plädiert für Gerechtigkeit.

Kritiker sehen darin eine Medienstrategie. Die französische Zeitung «Liberation» spricht bei der Enthüllung der beiden neuen Informationen – dem Verdacht auf multiple Sklerose und der Videobotschaft der Ehefrau – von einem «diabolisch effizienten Timing von Ramadans Anhängern». Dass sich Iman Ramadan zum Fall äussere, sei zudem eine Überraschung, da die Ehefrau bisher stets «im Schatten verborgen» gewesen sei.

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33 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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N. Y. P. D.
21.02.2018 13:02registriert Oktober 2015
Der damalige Direktor der Schule bestätigt gegenüber der Zeitung, über derartige Aussagen informiert gewesen zu sein. Untersuchungen seien damals aber nicht eingeleitet worden.

Wieso wurden keine Untersuchungen eingeleitet ? Oder habe ich was übersehen im Text ?


..da die Ehefrau bisher stets «im Schatten verborgen» gewesen sei.

Humane Umschreibung für ihren Status als Frau.
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Don Sinner
21.02.2018 13:17registriert Januar 2015
"einer der einflussreichsten Schweizer Denker und Schriftsteller der Gegenwart". Das wär mir das neuste. Bitte Scharlatane, Blender und Schwätzer (was zutreffender ist als "Denker") nicht unnötig beweihräuchern.
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Guzmaniac
21.02.2018 11:44registriert März 2017
Die Einleitung "blablabla in X Akten" verwendet ihr mittlerweile auch bei gefühlt jedem zweiten Artikel.
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