Sie haben sich massgeblich für eine Revision unseres Sexualstrafrechts starkgemacht. Heute tritt die neue Gesetzgebung in Kraft. Ein Grund zum Feiern?
Tamara Funiciello: Es ist auf jeden Fall ein grosser Schritt für die feministische Bewegung, die sich auf der Strasse für eine Verschärfung und Anpassung unseres Gesetzes starkgemacht hat. Und es ist ein sehr wichtiger Schritt für Vergewaltigungsopfer.
Grundsätzlich bleibt aber die Problematik, dass es sich bei sexuellen Übergriffen meist um Vier-Augen-Delikte handelt. Einen Vorfall zu beweisen, bleibt schwer. Werden mit dieser Gesetzesänderung überhaupt mehr Täter verurteilt werden können?
Es ist richtig und wichtig, dass auch hier unser demokratisches Prinzip «im Zweifel für den Angeklagten» gilt. Das Ziel dieser Gesetzesrevision ist aber nicht unbedingt, dass es zu mehr Verurteilungen kommt, sondern dass die geschlechterspezifische, sexualisierte Gewalt generell aufhört.
Und dieser revidierte Gesetzesartikel wird das schaffen?
Nein, ein einziger Gesetzesartikel kann unsere Gesellschaft nicht verändern.
Bestätigen Sie damit nicht genau die Argumente der Gegnerinnen und Gegner der Gesetzesrevision? Dass sich dadurch nichts ändern wird?
Nein, die Revision ist ein Puzzleteil von vielen, das es auf dem Weg zu einer Schweiz, in der es keine sexualisierte Gewalt mehr gibt, braucht. Wichtig, aber nicht ausreichend. Wir haben ursprünglich ein Sexualstrafgesetz nach dem Prinzip «Ja heisst Ja» gefordert. Als Kompromiss hat uns das Parlament die «Nein heisst Nein»-Lösung in Kombination mit einem Ausbau der Täterarbeit in der Schweiz versprochen. Um sexualisierte Gewalt zu verhindern, braucht es Prävention, die direkt bei den Tätern ansetzt. Studien können belegen, dass Täterkurse das Risiko eines Rückfalls signifikant mindern. Egal, ob ein Täter den Kurs freiwillig oder auf Anordnung eines Gerichts besucht hat.
Das klingt, als würde jetzt ein grosses Aber kommen ...
Ja. Obwohl die Gerichte es bereits könnten, ordnen sie Täterkurse sehr selten an. In vielen Kantonen gibt es gar keine Täterkurse, geschweige denn die Möglichkeit, sich freiwillig und kostenfrei für einen solchen Kurs anzumelden. Punkto Prävention und Opferhilfe unterscheiden sich die Kantone ohnehin sehr stark. Und die meisten sind überhaupt nicht zufriedenstellend.
Welcher Kanton macht denn am wenigsten gegen sexualisierte Gewalt?
Ich möchte keine Rangliste machen. Jene Kantone, die ihre Büez nicht machen, wissen das. Was ich sagen kann: Der Kanton Zürich macht schon sehr viel. Auch der Kanton Waadt ist auf einem guten Weg. Aber es kann doch nicht sein, dass es einen so grossen Unterschied macht, in welchem Kanton ich vergewaltigt werde. Es ist eine Lotterie, ob ich angemessene Unterstützung bekommen, die Polizei geschult ist, die Beweise angemessen gesichert werden, das Spitalpersonal – in der wohl vulnerabelsten Situation, die man sich vorstellen kann – angemessen mit mir umgeht und ob die Richterinnen und Richter das Gesetz ausschöpfen.
Das Gesetz ist jetzt erst in Kraft getreten. Müssen Sie den Kantonen und Gerichten nicht ein wenig Zeit geben, damit sie Änderungen implementieren können?
Dieses Gesetz hätte eigentlich schon am 1. Januar in Kraft treten können. Aber man wollte den Kantonen genug Zeit geben, um die Gesetzesänderung anzupassen. Jetzt ist der 1. Juli, das Gesetz tritt in Kraft und ich sehe immer noch nichts! Ich habe keine Geduld mehr! Dieses Warten kostet Menschenleben! Jede zweite Frau in der Schweiz hat schon einen sexuellen Übergriff erlebt. Alle zwei Wochen wird eine Frau von einem Partner, Ex-Partner oder Familienmitglied getötet. Wir sprechen immer über Sicherheit, buttern Milliarden in die Schweizer Armee. Dabei ist häusliche und sexualisierte Gewalt die eigentliche Bedrohung unserer inneren Sicherheit. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau in der Schweiz im Krieg zu Schaden kommt, ist gleich null. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in ihrem eigenen Haus Gewalt erlebt, liegt bei fast 40 Prozent.
Von rechts heisst es jeweils, dass an Gewalt gegen Frauen in der Schweiz die Zuwanderung schuld ist.
Diese Argumentation geht mir so auf die Nerven. Es ist immer ein Argument gegen jegliche Massnahmen gegen sexualisierte Gewalt, weil die SVP behauptet: Wir müssen nur die Ausländer loswerden, dann ist das Problem gelöst. Das ist schlicht falsch. Fakt ist: Das Hauptproblem ist männliche Gewalt, auch wenn man das nicht hören möchte und die Schuld gerne anderen gibt.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es in Haushalten von Personen mit Migrationshintergrund statistisch häufiger zu häuslicher Gewalt kommt.
Sie wird häufiger gemeldet, das will ich auch gar nicht bestreiten. Gewalt wird öfter von jungen Männern ausgeübt, vermehrt von Menschen mit tiefen Einkommen und aus tieferen Bildungsschichten – alles Dinge, die Menschen mit Migrationserfahrung öfter betreffen. Wollen wir Gewalt gegen Frauen ein Ende setzen, müssen wir das alles miteinbeziehen. Es gibt keine einfachen Antworten auf Gewalt. Und wir dürfen die Verantwortung nicht einfach abgeben – es ist unser Problem als Gesellschaft – und als solche müssen wir es auch lösen. Da Ungleichheit die Basis von Gewalt ist, muss diese bekämpft werden. Dabei kommen wir nicht drumherum anzuerkennen, dass gerade in der Schweiz ein schlechtes Frauenbild herrscht.
Was meinen Sie damit konkret?
Noch immer verdient eine Frau für dieselbe Arbeit weniger als ein Mann, noch immer werden Kita-Plätze kaum vom Staat finanziert, noch immer baut unser System auf der gratis Care-Arbeit von Frauen. Diese Entscheidungen fällen unsere Politikerinnen und Politiker. Das sind Schweizer, keine Ausländer.
Sich gegen die vollständige Finanzierung von Kita-Plätzen auszusprechen kann man doch nicht mit einem schlechten Frauenbild gleichsetzen oder gar damit, dass man nichts gegen Gewalt gegen Frauen tun will.
Doch. Gewalt an Frauen nimmt ab, wenn Frauen gleichgestellter und autonomer sind. Stand heute sind trotzdem 40 Prozent der Mütter finanziell von ihrem Partner abhängig. Weil wir Strukturen haben, die Frauen systematisch benachteiligen und unsere Politik nichts dagegen unternehmen möchte. Aber wenn Sie bessere Beispiele brauchen, nehmen Sie den Fall der Frau, die 2021 in Schaffhausen von Männern verprügelt wurde und noch immer auf Gerechtigkeit wartet. Die Polizisten, welche keine ausreichende Beweissicherung durchgeführt haben – obwohl es Videos vom Vorfall gibt – und welche die Frau nicht ernst genommen haben, sind Schweizer. Ohne Schweizer Pass darf man schliesslich nicht Polizist werden.
Haben Sie ein weiteres Beispiel?
Ja, nehmen wir den Ex-CVP-Nationalrat Yannick Buttet. Er ist ein verurteilter Sexualstraftäter, trat zurück, weil an die Öffentlichkeit kam, dass er Frauen belästigt. Trotzdem wählte man ihn in den Vorstand von Wallis Tourismus, wo er jetzt Chef von einem seiner Opfer ist. Unsere Gesellschaft schützt und entschuldigt Täter und belächelt Opfer von sexualisierter Gewalt. Das ist ein Problem der Schweizer Gesellschaft und müssen wir beheben.
Gibt Ihnen unser neues Sexualstrafrecht Hoffnung, dass sich die Schweiz auf diesem Weg befindet?
Zumindest konnte ich beobachten, wie nach dem Beschluss dieser Revision einige weitere Vorstösse im Parlament durchkamen, die es in der Vergangenheit schwer gehabt hätten. Etwa, dass sich der Aufenthaltsstatus von Frauen ohne Schweizer Pass nicht ändert, wenn sie eine gewalttätige Beziehung beenden.
Böse Zungen würden sagen: Es reicht doch jetzt auch langsam mit den Forderungen.
Es reicht nicht. Und wie man ja jetzt sieht, ändert sich mit einem politischen Beschluss noch zu wenig. Es müssen Taten folgen. Darum werde ich in den nächsten 12 Monaten ganz genau beobachten, wie unser neues Sexualstrafrecht angewendet wird. Was ich im Moment davon sehe, ist auf jeden Fall alles andere als zufriedenstellend.
Bei mir fand alles in verschiedenen Gemeinden, Kantone und sogar Länder statt. Die Zürcher Polizei meinte dazu: Kompliziert, konzentrieren wir uns lieber nur auf das im Kanton Zürich.
Die einzige Opferberatung für Jugendliche und Männer wurde während mein Verfahren noch lief - geschlossen.
Die Frage was ich von der Opferhilfe Schweiz halte erübrigt sich daher wohl.