Es steht schlecht, um unsere Meinungsfreiheit. Das behauptet Giuseppe Gracia, Sprecher des Bistums Chur, in einem Gastbeitrag auf dem christlichen Portal Catholic News Agency. Die katholischen Stimmen seien im politischen Diskurs verstummt, aus Angst vor gesellschaftlicher Repression.
Konservative Katholiken, die öffentlich zu ihrer Meinung stehen würden, «sinken im öffentlichen Ansehen bis hin zur gesellschaftlichen und beruflichen Ausgrenzung». Im Interview nimmt er Stellung.
Herr Gracia, sind Sie gegen Abtreibungen?
Giuseppe Gracia: Ja, ich bin gegen Abtreibung.
Sie sagen das offen. Sie behaupten aber, dass die meisten konservativen Katholiken nicht öffentlich zu ihrer Meinung stehen, aus Angst vor gesellschaftlichen Konsequenzen.
Tatsächlich äussern sich viele nur hinter vorgehaltener Hand. Ich mache die Erfahrung selber als Sprecher des Bistums Chur. Wenn man die Meinung konservativer Gruppen vertritt, wird man gleich als Anwalt von Hinterwäldnern oder Fanatikern betrachtet.
In einem Meinungsbeitrag auf einem katholischen Newsportal schreiben Sie von einem Mobbing gegen Katholiken.
Das ist ein wenig zugespitzt. Doch im Wesentlichen stimmt es. Christen, die dem Zeitgeist nicht folgen, werden von der Gesellschaft an den Rand gedrückt und zum Schweigen verdonnert. Nicht nur wenn es ums Thema Abreibungen geht, auch wenn man sich offen gegen Sterbehilfe einsetzt, gegen Sex vor der Ehe oder künstliche Empfängnisverhütung. Auch der Europarat hat schon Verletzungen der Religionsfreiheit gegenüber Christen festgestellt.
Was riskiert ein konservativer Christ, wenn er öffentlich zu seiner Meinung steht?
Seine Karriere. Gynäkologen oder Ärztinnen, die sich aus Gewissensgründen weigern, bei einer Abtreibung mitzumachen oder die Pille ablehnen, haben kaum noch Chancen, beruflich aufzusteigen. Solche Fälle registriert die Vereinigung katholischer Ärzte Schweiz seit Jahren.
Aber gehört es nicht zur Pflicht des Arztes seine persönliche Meinung zurückzuhalten und nach den Bedürfnissen des Patienten zu handeln?
Es geht nicht um Meinung, sondern Gewissensfreiheit. Es gibt in einem Krankenhaus mehrere Ärzte. So findet sich sicher einer, der keine Gewissenskonflikte hat und den Eingriff durchführt. Auch Mediziner dürfen nicht gezwungen werden, gegen ihr Gewissen zu handeln. Ein anderes Beispiel: Suchen Sie einmal einen konservativen Politiker mit Ambitionen, der klar sagt, er sei gegen die Homoehe oder betrachte die Entscheidung über Leben und Tod des Ungeborenen nicht als Frauenrecht. Er wäre erledigt, könnte nie Bundesrat werden. Das zeigt: Es gibt geächtete Ansichten.
Hätten Sie persönlich auch keine Mühe damit, wenn sich ein Bundesrat offen für Polygamie aussprechen würde?
Nein. Gottseidank gibt es bei uns die direkte Demokratie. Wenn das Volk entscheidet, wir wollen das, dann würde ich dies akzeptieren. Ich bin absolut loyal zum Rechtsstaat. Ich setze mich aber genau deswegen für die volle Meinungsäusserungsfreiheit ein, die heute nicht mehr allen zugestanden wird.
Wird die Meinungsfreiheit aus ihrer Sicht immer mehr geschnitten?
Ich glaube, das war schon immer so. Jetzt hat das Pendel einfach umgeschlagen. Vor der 68er-Bewegung wurde die Meinungsfreiheit der Linken und Grünen unterdrückt, jetzt sind es konservative Ansichten, die unter Druck geraten. Konservativ gilt heute oft als rechts, und rechts ist dann gleich reaktionär oder braun.
Was hat es für Folgen, wenn Menschen nicht mehr zu ihrer Meinung stehen können.
Sie ziehen sich in Sondergesellschaften zurück. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch bei uns religiöse Gruppen ihren eigenen Weg gehen. Eigene Medien, eigene Schulen, eigene Unternehmungen und Arbeitgeber.
Ist dies nicht übertrieben?
Heute hat jedes Grossunternehmen seine eigene Kultur, seine Ausbildungsstätten und Kommunikationskanäle. Warum nicht auch Glaubensgemeinschaften? Das ist eben eine Seite der gesellschaftlichen Pluralisierung. Obwohl es natürlich problematisch ist, wenn am Ende alle in ihrer Bubble herumschweben und sich nicht mehr mit dem Anderen, Widersprechenden auseinandersetzen.
Wie steht es um die Meinungsfreiheit von Katholiken in anderen Länden?
In Amerika können sich Politiker offener äussern. So sprechen Präsidentschaftskandidaten im Wahlkampf direkt von Gott und ihrem Glauben. Und Mike Pence wurde Vizepräsident, obwohl er als entschiedener Abtreibungsgegner gilt.
Wünschen Sie sich also einen Bundesrat, der am Ende seiner Neujahrsrede sagt: «Gott schütze euch»?
Ich wünsche mir ein Land, in dem alle zu ihren Werten und Ansichten stehen können, ohne dafür beruflich oder gesellschaftlich abgestraft zu werden. Egal ob Freidenker, Moslem oder Jude. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Haben Sie sich schon einmal selber mit ihrer Meinung zurückgehalten, weil sie Angst hatten, deswegen von der Gesellschaft «abgestraft» zu werden?
Nein, ich bin nicht der ängstliche Typ. Aber ich versuche jenen eine Stimme zu geben, die es sich beruflich nicht leisten können oder sich nicht getrauen.
Aber haben Sie es im Nachhinein schon bereut?
Schon einige Male. Ich bin schon so häufig stellvertretend für die katholische Kirche aufgetreten, dass die Leute mich mit ihr identifizieren. Und dann heisst es, «du bist ja so ein Böser».
Sie werden angefeindet?
Praktisch nach jedem Auftritt, das muss man aushalten. Einmal wurde mir ein Foto zugeschickt, auf dem meine Augen ausgestochen waren. Darunter stand: «Du gottlose Ratte.» Den Brief habe ich behalten. Das sind extreme Beispiele. Meist sind es Mails oder anonyme Karten und Briefe mit Beschimpfungen wie «Sauhund» oder «Halt einmal deinen Latz». Es sind Leute, die nicht wollen, dass gewisse Ansichten überhaupt noch in der Öffentlichkeit auftauchen.