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Interview

Reto Spiess: «Meine Liebe zu Jolanda ist eher noch stärker geworden»

Reto Spiess: «Meine Liebe zu Jolanda ist eher noch stärker geworden»

Reto Spiess: «Treue ist bei uns so zuoberst, dass es schon langweilig ist».  Bild:
Interview
Interview mit dem Ehemann von Jolanda Spiess-Hegglin über unerschütterliches Vertrauen in die Partnerin, seinen Kampf um die Ehre, Heinrich Böll, Hexenprozesse und andere Dinge, die eine fünfköpfige Familie so richtig zusammenschweissen.
07.07.2017, 10:0328.08.2017, 15:45
Hansi  Voigt
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Inhaltsverzeichnis:

  • Interview mit Reto Spiess-Hegglin
  • Die 4 wichtigsten Fragen zum Fall
  • 19 Mal unter den Top-5-Storys beim «Blick»
  • Die Medien und das K.O.-Argument
  • Die Zukunft
 «Es wird nie mehr so sein, nie mehr. Sie machen das Mädchen fertig. Wenn nicht die Polizei, dann die ZEITUNG, und wenn die ZEITUNG die Lust an ihr verliert, dann machen’s die Leute.»
«Die verlorene Ehre der Katharina Blum»Heinrich Böll

Wenn die Geschichte von den K.O.-Tropfen nicht stimmt, dann war es so: Jolanda Spiess-Hegglin, grünalternative Zuger Kantonsrätin und Co-Parteipräsidentin, dreifache Mutter, seit 11 Jahren verheiratet, aussichtsreiche Anwärterin auf einen Sitz im Nationalrat, auffallend hübsch, lässt sich nach ein paar Gläsern Alkohol vom Steuerbeamten Markus Hürlimann, SVP, während der traditionellen Landammannfeier, zünftig, und, nach vorangegangener Liebelei vor allen anwesenden Zuger Kantonsräten, im offenen Nebenzimmer – der «Captain's Lounge» – mal so richtig durchvögeln. Dabei oder danach muss sie sich erbrechen, was der Einvernehmlichkeit aber keinen Abbruch tut. Gemeinsam machen sie sich anschliessend auf den Heimweg –  Youporn grüsst den Kanton Zug!

Alle Zeugen der Feier beschreiben die Euphorie, den Rededrang, die überraschende Flirterei, die überhandnehmende Zuneigung und schliesslich die unbändige Lust der beiden jungen Politiker, die sich anschliessend gar nicht oder nur noch bruchstückhaft erinnern können. Dass die Zeugen damit alle die Symptome und, bei «richtiger» Dosierung, den fast typischen Verlauf nach Einnahme von K.O.-Tropfen beschreiben, von der Euphorie bis zur schieren Geilheit, wissen sie nicht. Wer kennt sich schon mit Partydrogen aus? Gesehen hat man davon nichts. Drei Glas Rotwein hingegen schon! So nehmen alle Anwesenden an, zwei leicht angetrunkene Turteltäubchen vor sich zu haben und fällen, ohne es zu wissen, damit das moralische und bis heute nicht revidierte Urteil über Spiess-Hegglin und Hürlimann. Ihre Zeugenaussagen finden, in einer selektiven Auswahl, den Weg in die Berichterstattung und bezeugen immer die gleiche Geschichte: Die schöne Linke wird vom strammen Rechten flachgelegt.

Als Spiess-Hegglin der Nachweis von Substanzen, auch wegen Fehlern im Spital, nicht gelingt, kommt es in der medialen Öffentlichkeit zur Umkehr der Beweislast. Spiess-Hegglin wird vom bedauerlichen Opfer zur lustgetriebenen Täterin. Je heftiger sich Jolanda Spiess-Hegglin dagegen wehrt, desto barscher wird sie von den Medien durchgereicht. Vom Opfer zur Täterin, zur mediengeilen Nervensäge, die Ruhe geben solle. Die einen fürchten um die beschmutzte Ehre des Kantons, die anderen wollen einfach langsam wieder was anderes lesen.

Die Euphorie-Tropfen und ihre Folgen
Das Perfideste an K.O.Tropfen ist vermutlich der Name. Sie
müssten treffender
Euphorie-Redeschwall-Anhänglichkeits-Geilmacher-Amnesie-Tropfen heissen.
Das ist, bei entsprechender Dosierung, der Verlauf, etwa nach Einnahme der leicht
erhältlichen Substanz Gamma-Hydroxy-Buttersäure (GHB). Dies macht die Tropfen, etwa in der Party-Szene, so beliebt. «K.O.» – im klassischen
Sinn – geht man nur bei einer Überdosis. Die
von Polizei, Fach- und Anlaufstellen, Opfern und Partydrogenkonsumenten
gesammelten Erfahrungen decken sich mehr oder weniger 1:1 mit der Beschreibung
des Zustands von Jolanda Spiess-Hegglin durch Zeugen und Anwesende an der Landammannfeier und durch ihren Ehemann, der sie am frühen Morgen nach der Feier zu Hause vorfand. Trotz nachweislich
vergleichsweise geringem Alkoholkonsum wird ihr hohe Redseligkeit und
Anhänglichkeit und einvernehmliches Flirten mit dem politischen Gegner Markus Hürlimann nachgesagt. Die Einnahme von K.O.-Tropfen kann am nächsten Tag, wie in 95 von 100 Fällen, nicht nachgewiesen werden. Auch der gemessene Alkoholwert lag rund 18 Stunden später bei 0,0 Promille.

Spiess-Hegglin blieb bis heute stets bei ihrer ersten Version, dass es gegen ihren Willen oder unter Verabreichung von Drogen zu Sex kam. Hürlimanns Aussagen divergieren, aufgrund von Erinnerungslücken, massiv. Er streitet ab, dass es überhaupt zum Geschlechtsakt kam, und spricht von «Fremdküssen». Erst
der Nachweis von Hürlimanns DNA-Spuren in der Vagina und auf dem Slip von
Spiess-Hegglin belegt sexuelle Handlungen. Hürlimanns bruchstückhafte Erinnerung inklusive Filmriss könnte darauf hindeuten, dass ihm ebenfalls «etwas» verabreicht wurde und er selbst ein Opfer wurde. Laut Spiess-Hegglin die wahrscheinlichste Variante. Dies würde allerdings bedeuten, dass eine dritte Person beteiligt gewesen war. 

Bis heute, zweieinhalb Jahre nach der Feier, ist dies immer noch die plausibelste Variante: Jolanda Spiess-Hegglin und vermutlich Markus Hürlimann bekamen – womöglich als blöder Scherz gedacht – beide eine höchst euphorisierende Dosis einer unbekannten Substanz verabreicht. Die Einnahme von Substanzen, etwa der Partydroge GHB, konnte nicht nachgewiesen werden. Entkräftet ist diese Version dadurch nicht, denn laut forensischem Gutachten werden jährlich hunderte neue stimulierende synthetische Substanzen entwickelt, zu denen es kein Nachweisverfahren gibt. Zum ersten Mal überhaupt nimmt Ehemann Reto Spiess, der seine Frau Jolanda als erster nach der Landammann-Feier sah, öffentlich und ausführlich Stellung.

Herr Spiess, Ihre Frau ist als die bekannteste ertappte Fremdgeherin in die Schweizer Mediengeschichte eingegangen und Sie als der «Gehörnte» («Blick»), der seine mediengeile Frau nicht im Griff hat. Was sagen Sie dazu?
Reto Spiess: Wer sich in gewissen Medien ein Bild von uns gemacht hat, kann das denken. Stimmen tut es deshalb nicht. Es sagt aber mindestens so viel über die Leute aus, wie über die Medien, die sie konsumieren.

Aber es lässt Sie nicht kalt, was man von Ihnen denkt?
Nein, es lässt mich nicht kalt. Bei Menschen, die ich näher kenne ist es mir sehr wichtig, dass sie mich verstehen. Es macht mich deshalb wirklich ranzig, wenn mir Bekannte plötzlich ausweichen. Denn dann hab ich gar keine Chance, meine Position darzulegen. Das verletzt mich am meisten.

Was machen Sie gegen dieses Image? Auch auf Facebook einsamen Wutbürgern hinterherjagen, um sie zur Rechenschaft zu ziehen, wie Ihre Frau?
Ich gehe auf sehr viele Menschen, die mir nahe sind oder waren, direkt zu. Ich rede mit ihnen oder schreibe ihnen Mails. Ich gehe da einen anderen Weg als Jolanda, die sich stark über soziale Medien artikuliert. Das liegt mir nicht. Ich habe erst seit letztem Jahr ein Handy.

Wie gehen Sie vor?
Leuten, die sich in der Debatte im Ton vergriffen haben oder Unsinn verbreiten, habe ich ein freundliches Mail geschrieben. Etwa so tönte das dann: «Sehr geehrter Herr Parteipräsident XY, ich bin der Ehemann von Frau Spiess-Hegglin ...» In der Regel ist den Konfrontierten dann nicht mehr viel eingefallen. Die meisten wurden ruhig, einige wurden einsichtig und einige haben wir aus dem Bekanntenkreis aussortiert.

Gezählt acht von zehn Journalisten, die mal etwas mit der Berichterstattung über Jolanda Spiess-Hegglin zu tun hatten, haben mir im Gespräch versichert, dass ihre Artikel im Nachhinein betrachtet nicht ganz korrekt waren. Dann haben sich aber fast alle beeilt, mich zu warnen, dass ich die Finger vom Fall Spiess-Hegglin lassen solle. Sie behaupten, Jolanda habe bezüglich Journalisten schwer einen an der Waffel. Woher kommt das? Womit muss ich rechnen?
Das sind vermutlich die gleichen Leute, die von Richtern oder Presseräten auf die Finger bekommen haben. Sie können sich entspannen. 

«Jolanda Spiess-Hegglin schadet den Frauen.»
Michèle BinswangerTagesanzeiger

Es ist ja nachvollziehbar, dass Sie Ihrer Frau glauben. Aber woher kommt diese Unerschütterlichkeit?
Im Gegensatz zu allen anderen habe ich Jolanda unmittelbar nach ihrer Rückkehr von der Feier gesehen. Ich habe mir, nachdem ich aufgewacht bin, ein eigenes Bild von ihrem Zustand machen können. Ich habe mich oft gefragt, was ich gedacht hätte, wenn ich erst am nächsten Morgen auf ihre Schilderungen hätte vertrauen müssen. Vielleicht hätte ich dann auch Zweifel gehabt und mich allenfalls betrogen gefühlt. Aber so, wie ich Jolanda unmittelbar bei ihrer Rückkehr erlebt habe, in diesem Zustand, sicher nicht.

Sie gaben zu Protokoll, sie wirkte wie «sturzbetrunken»?
Ich habe versucht, mit ihr zu sprechen, aber Jolanda war nicht ansprechbar. Sie schien verwirrt und wirkte apathisch und hatte einen glasigen Blick. Ich habe sie kaum noch gekannt. Sie antwortete knapp mit Ja und Nein, aber war völlig fremd. Ich konnte mir absolut keinen Reim drauf machen und habe mir grosse Sorgen gemacht. Denn sie wirkte nur auf den ersten Blick «betrunken». Motorisch war sie absolut kontrolliert unterwegs. So habe ich das zu Protokoll gegeben. Aufgegriffen wurde nur «sturzbetrunken».

Und was passierte dann?
Meine Frau schlief dann ein. Aber ich habe kein Auge zugetan. Ich war schockiert und beunruhigt. Ich habe in regelmässigen Abständen zu ihr geschaut. Der Eindruck, dass Jolanda unter Drogeneinfluss gestanden haben könnte, kam mir in dieser Nacht. Noch bevor sie am Morgen wieder aufgewacht ist und bevor sie mir den Verlauf des Abends überhaupt schildern konnte.

Dann waren Sie es, der mit den K.O.-Tropfen angefangen hat?
Wenn Sie so wollen: Ja. 

Was glauben Sie, ist auf dem Schiff und danach passiert?
Ich verlasse mich da eigentlich auf die Ermittlungsprotokolle. Dass meine Frau an einer Landamman-Feier wegen drei Gläsern Rotwein unbändige Lust auf einen Ratskollegen verspürt, halte ich allerdings für völlig absurd. 

«Du bist die grösste Fotze des Landes. Schau dir deinen armen Ehemann und deine armen Kinder an.»
Anonymer Briefschreiber, Juni 2017

Aber manchmal haben Sie doch sicher Ihre Zweifel?
Wir sind seit 11 Jahren verheiratet und seit 14 Jahren ein Paar. Treue ist bei uns so zuoberst, dass es schon langweilig ist. Der Vorfall ereignete sich ohne jede Vorgeschichte. Ich hatte nie etwas mit einer anderen und Jolanda hat nicht einmal einen Zweifel bei mir wachsen lassen in all den Jahren. Diese solide Basis ist ausschlaggebend, dass ich nicht eine Sekunde das Vertrauen verloren habe. Ausserdem hatte ich vom ersten Moment an immer Einsicht in jedes Detail der Vernehmungsakten. Ich habe keinen Zweifel. Weder an meiner Frau noch an ihrer Version der Geschehnisse. Ausserdem hätte sich Jolanda keinen Rechtsaussen an der Landammann-Feier geangelt.

Aber laut «Zuger Zeitung» wurden Ihre Frau und Hürlimann schon zwei Tage vorher zusammen gesehen ...
... und hat gleichzeitig mit mir zusammen eine Schwarzwurzelschaum-Suppe gekocht, die übrigens nicht auf Anhieb gelang. Der Zeitungsbericht fusste auf einer blanken Lüge. Genau wie die spätere Behauptung, wir hätten uns getrennt.

Reto Spiess-Hegglin: «Man sollte keineswegs Gras über die Sache wachsen lassen.»
Reto Spiess-Hegglin: «Man sollte keineswegs Gras über die Sache wachsen lassen.»Bild: Facebook/Jolanda Spiess-Hegglin

Wie oft haben Sie Ihrer Frau schon gesagt, dass sie jetzt endlich mal Ruhe geben soll, damit Gras über die Sache wächst?
Ich finde keineswegs, dass man Gras über die Sache wachsen lassen sollte. Über eine Sache zu reden ist im Interesse der Opfer. Wir gehen vielleicht unterschiedlich vor, aber wir kämpfen beide. Jolanda vielleicht etwas laut in den Medien, ich leise und direkt.  

Meinen Sie, diese Sache geht jemals vorbei? Wann wäre es aus Ihrer Sicht vorbei?
Es hat schon ein bisschen angefangen, vorbei zu sein. Ein kleines bisschen. Die Presseratsverurteilung der «Blick»-Berichterstattung, das erstinstanzliche Urteil gegen Philipp Guts «Weltwoche»-Artikel, die Entschuldigung in der «Zuger Zeitung», das sind alles wichtige Schritte. Leider braucht die Rehabilitation unendlich lange. Aber immerhin kann Jolanda in ihrer Argumentation jetzt auf Gerichtsentscheide zurückgreifen.

«Und immer noch suchen sie Ausreden.»
«Blick»-Titelzeile autoren: romina lenzlnger, michael Sahli

Ihre Frau zieht mit ihrem guten Aussehen vermutlich auch zahlreiche sexuell motivierte Betrachter an. Trotzdem versteckt sie sich nicht. Haben Sie ihr noch nie gesagt, «jetzt zieh dir mal was Anständiges an, denn so werden wir die Wut-Wixer ja nie los»?
Diese Frage trieft nur so vor Sexismus. Die Frau soll ihrem Mann gefallen, sich aber nicht zu aufreizend anziehen, da sie sich sonst nicht wundern muss, wenn sie von einem anderen begrapscht wird. In einer solchen Welt will ich nicht leben. Wenn wir uns am Schluss nicht mehr getrauen, uns in einem schulterfreien Leibchen zu zeigen, sind wir gedanklich recht nah bei den Taliban. Das bin ich nicht.

Kann man die Kinder schützen?
Wir mussten den Kindern erzählen, dass etwas Schlimmes passiert ist und dass sie nicht glauben sollen, was in der Zeitung steht. Dem Ältesten haben wir eingeschärft, dass er keine Artikel lesen soll, die über seine Mama geschrieben werden. Wenn er etwa im Bus sieht, dass in «20 Minuten» etwas geschrieben wurde, soll er es zu uns bringen und dann schauen wir es gemeinsam an.

Was passiert an der Schule? Was erzählen andere Kinder?
Wir haben mit den Lehrpersonen ein Vorgehen definiert. Ich glaube wir würden hören, wenn es zu Vorfällen oder Mobbing käme.

Würden Sie sich, nach der gemachten Medienerfahrung, freuen, wenn eines Ihrer Kinder Journalist werden will?
Das wäre sicher ein sehr verantwortungsvoller Beruf. Aber so wenig, wie ich meiner Frau vorschreibe, was sie anziehen soll, sage ich meinen Kindern, was sie werden sollen. Das ergibt sich. Hauptsache, sie werden glücklich.

Zurück zur Juristerei und der Ehre. Sie haben gegen die «Weltwoche» gewonnen und der Presserat hat den «Blick» gerügt. Aber nicht jede Unwahrheit ist einklagbar.
Das stimmt. Etwas vom Schlimmsten für uns war ein Artikel im «Tages-Anzeiger». Dort wurde von der warmen Redaktionsstube heraus verkündet, dass es richtige und falsche Opfer gibt. Der Titel des Artikels von Michèle Binswanger lautete: «Jolanda Spiess-Hegglin schadet der Sache der Frauen.» Tenor des Kommentars: Wenn Jolanda nicht beweisen kann, dass sie K.O-Tropfen verabreicht bekommen habe, solle sie den Mund halten. Diese vollkommene Umkehr der Beweislast in einer Qualitätszeitung serviert zu bekommen, nahm uns förmlich den Atem. Der Schaden ist in diesem Fall noch grösser als bei einem Boulevard-Blatt. Man hat medial keine Ausweichmöglichkeit mehr «nach oben».

Die verlorene Ehre der Jolanda Spiess-Hegglin erinnert fatal an den ähnlich lautenden Roman von Heinrich Böll. Dort wird ein Hausmädchen, das sich in einen flüchtigen Terrorverdächtigen verliebt, nach allen Regeln der Medienkunst durch die Mangel einer Boulevard-Zeitung gedreht. Am Schluss erschiesst Katharina Blum den Reporter. Aus Sicht des Betrachters schon fast in Notwehr, jedenfalls in einer nachvollziehbaren Logik. Irgendwelche Exekutionsgelüste gehabt?
(Lacht). Ich habe mich lustigerweise schon früher einmal sehr intensiv mit dem Buch von Heinrich Böll auseinandergesetzt. Während des Gymis für eine Arbeit. Damals hielt ich das für faszinierend, aber weitgehend für überzeichnet. Ich konnte mir allenfalls vorstellen, dass das in Deutschland in der «Bild»-Zeitung möglich ist. Aber hier nicht. Da hab ich zu sehr an unsere Gesellschaft geglaubt.

Heinrich Bölls Buch: «Haben wir fast 1:1 so erlebt».
Heinrich Bölls Buch: «Haben wir fast 1:1 so erlebt».

Zu Unrecht?
Ich hab das Buch seither wieder gelesen. Und ich muss sagen, ich bin über die Parallelen zu unserem Fall erschrocken. Für mich ist etwas, das ich 1990 für Fiktion hielt, im Jahr 2015 zur Realität geworden. Die von Böll beschriebenen Abläufe über Medienprozesse, Projektion von aussen, Ohnmacht, Sprachlosigkeit und Ehrverlust haben wir fast 1:1 so erlebt.

Aber Sie planen nicht, einen Journalisten zu erschiessen?
(Lacht nicht). Die Gewalt richtet sich normalerweise bei so einer Medientraumatisierung gegen sich selbst. Niemand hätte sich wundern dürfen, wenn sich Jolanda Gewalt angetan hätte. Umso besser ist es, dass Jolanda einen anderen Weg gewählt hat.

Welchen Weg meinen Sie? 
Sie hat ihre Ohnmacht überwunden, indem sie sich wehrt. Einerseits gerichtlich, andererseits aber auch, indem sie sich, vor allem in den sozialen Medien, Gehör verschafft und offen mit ihrem Fall umgeht. So anstrengend das ist, ich glaube, ohne die Möglichkeit, sofort auf Facebook auf alles reagieren zu können und zu merken, dass es doch ein paar Leute auf ihrer Seite gibt, wäre Jolanda verzweifelt.

Obwohl sie damit immer wieder neue Angriffsfläche bietet? Viele wollen einfach nichts mehr hören von dem Fall. Vermutlich gelten auch Sie, nach diesem ersten Interview, als mediengeil.
Der Vorwurf der Mediengeilheit ist nichts als eine latente Unterdrückungskampagne. Man will Jolanda mundtot machen. Wir sollen mit dem falschen Bild von uns leben und endlich Ruhe geben.

Warum geben Sie ausgerechnet jetzt Ihr erstes Interview?
Nachdem wir ein Jahr durch den medialen Fleischwolf gedreht wurden, folgte eine Phase, wo grosse Teile der Gesellschaft nichts mehr hören wollten, die Berichterstattung und die Ungewissheit nicht mehr ertrugen. Erst jetzt, wo Journalisten verurteilt werden und Entschuldigungen veröffentlich werden, scheint der Zeitpunkt für eine besonnene Aufarbeitung gekommen. 

Es wird heissen: Ja geben denn die nie Ruhe! Jetzt redet auch noch der Mann. Die Meinungen sind gemacht, man will vermutlich gar keine andere. Wenn man die Spiess-Hegglins wegzappen könnte, würde man sie wegzappen.
Das bedauern vermutlich einige, dass diese Fernsteuerung kaputt ist.

Sind Sie stolz auf Ihre Frau?
Das war ich schon immer und bin es auch jetzt. Wie man so ungebrochen aus so einer Psycho-Hölle hervortreten kann, das finde ich unfassbar. Und der Optimismus, den sie dabei an den Tag legt, auch in den ausweglosesten Zeiten, und die Energie und das positive Denken, mit der sie den ganzen Müll abschüttelt, das finde ich unglaublich. Wir konnten uns immer gegenseitig stützen. Aber Jolanda ist fast noch schneller aus dem ganz tiefen Tal herausgekommen als ich. Wir mussten und müssen ja auch immer an die Kinder denken. Und inzwischen hat Jolanda wieder so eine positive Ausstrahlung und einen Optimismus, sie gibt uns allen wieder Kraft.

Geht sie am Ende vielleicht sogar gestärkt aus der Sache hervor?
Man sagt das immer so leicht: Was mich nicht umbringt, macht mich stärker. Sie musste ihre gesamte politische Karriere über Bord werfen, war arbeitsunfähig und ist immer noch Beschimpfungen und Drohungen ohnegleichen ausgesetzt. Erst aus grösserer zeitlicher Distanz kann man das abstrahieren und inzwischen tatsächlich auch wieder Kraft aus dem Geschehenen schöpfen.

Wo zeigt sich das?
Jolanda baut sich da zurzeit etwas auf. Wer hat inzwischen mehr Kompetenz in diesen Themen? Sie kann ihre Erfahrungen weitergeben. Etwa mit dem Verein, den sie gegründet hat. Sie bekommt für diese Arbeit sehr viel positives Feedback, das sie trägt.

Viele feiern Jolanda Spiess-Hegglin inzwischen dafür, dass sie dem Internet quasi im Alleingang Manieren beizubringen versucht. Ist das nicht etwas viel erwartet?
Ich glaube nicht, dass sie sich das je so überlegt hat. Sie sieht einfach die Missstände und denkt vermutlich, jemand muss es ja machen. Und dann packt sie es an.

Können Sie das ganze Thema überhaupt noch hören?
Ich brauche heute noch, mehr als zwei Jahre danach, jeden Tag das Gespräch zum Thema. Mein Bedarf ist diesbezüglich überhaupt noch nicht gedeckt. Wir sprechen täglich darüber, aber erst wenn die Kinder im Bett sind.

Dann sind Sie immer noch am Bewältigen der Ereignisse?
Ja sicher. Als medizinischer Laie würde ich die Verarbeitung in drei Phasen unterteilen. Zunächst galt es, das Ereignis zu verarbeiten. Das ging sogar relativ schnell. Danach folgte das Medientrauma. Dieses hielt sich mehr als zwei Jahre, bis es schliesslich von der dritten Phase überlagert wurde. Heute beschäftigen mich vor allem noch die Folgen der medialen Hexenjagd. Fast ein Jahr lang lebte ich getragen von einer inneren Zuversicht. Ich war überzeugt, dass nicht nur die Familie, sondern auch ein sehr weit gefasster Kollegenkreis voll hinter uns steht. Ich habe es lange gar nicht für nötig gehalten, das Thema anzusprechen und wurde selten angesprochen. Es war für mich dann niederschmetternd zu erkennen, dass es da durchaus Ausnahmen gab.

Wie erlebten Sie diese Ausnahmen?
Der vermeintlich Charakterfeste entpuppte sich plötzlich als Opportunist, der freundliche Nachbar wird zum blinden Ignoranten und der Vertraute zum Verräter. Solche Erfahrungen führten zu einer dritten Traumawelle. Ich kämpfte gegen Gefühle von Misstrauen, Entfremdung und Isolation. 

Sie reden in Vergangenheitsform?
Heute würde ich sagen, dass auch diese letzte Welle klar am Abflachen ist. Im Kollegenkreis musste ich mit einzelnen Personen brechen. In einer Extremsituation, wie wir sie erleben mussten, trennt sich die Spreu vom Weizen. Schönwetterkollegen haben wir aussortiert. Dies schafft auch Raum für Neues.

Und wie sieht es jetzt mit Ihrer Beziehung aus? Wenn man Ihnen zuhört, hat man ja fast das Gefühl, dass Sie einander unheimlich nah sind.
Das kann ich so bestätigen. Meine Liebe zu Jolanda ist eher noch stärker als vorher. Ich weiss nicht, ob es daran liegt, dass unsere Hochzeit im Gotthard-Bunker stattfand, aber wir haben ganz sicher etwas Unerschütterliches.

Spiess-Hegglin
«Wir haben ganz sicher etwas Unerschütterliches»: Jolanda und Reto Spiess-Hegglin. Bild: zvg

Die 4 wichtigsten Fragen zum Fall

Bild: KEYSTONE

Hat Jolanda Spiess-Hegglin Markus Hürlimann wegen Schändung angezeigt?

Nein. Der Verdacht auf Schändung löst im Kanton Zug ein Offizial-Verfahren aus. Der Bericht des Kantonsspitals Zug führte entsprechend zu den Ermittlungen der Polizei gegen Hürlimann und seiner Verhaftung. «In der Verfügung, die zur Einstellung des Strafverfahrens gegen Markus Hürlimann geführt hat, hat Spiess-Hegglin in keiner Weise ihren Kollegen beschuldigt», gibt Staatsanwalt Ulrich Krättli anlässlich des Prozesses gegen Weltwoche-Vize Philipp Gut zu Protokoll. Der in SVP-Kreisen und von der «Weltwoche» kolportierte Vorwurf, «die linke Frau hätte den rechten Mann planmässig falsch beschuldigt», wurde bei diesem Anlass als üble Nachrede taxiert und der Autor Philipp Gut von Einzelrichter Claudio Maira erstinstanzlich zu einer saftigen Strafe verdonnert. Gegenseitige Anzeigen, die aus der späteren Berichterstattung entstanden, sind noch hängig, haben aber nichts mit dem ursprünglichen «Verdacht auf Schändung» zu tun.

Ist Jolanda Spiess-Hegglin mit der Geschichte an die Medien gegangen?

Wie der Fall an die Medien gelangte, ist unklar. Polizei, Kantonsspital und die beiden Exponenten kommen als Quelle in Frage. Als erste wusste die Online-Redaktion von «Zentralplus» vom Vorfall und brachte die Geschichte. Die Redaktion beruft sich auf Quellenschutz, machte aber später ausdrücklich öffentlich, dass sie die Information nicht von Jolanda Spiess-Hegglin bekamen. Die Namen von Spiess-Hegglin und Hürlimann nannte tags darauf der «Blick» zum ersten Mal. Dafür wurde die Boulevard-Zeitung schon vor über einem Jahr vom Presserat gerügt. Das hält die Zeitung im Anschluss nicht davon ab, zu suggerieren, Spiess-Hegglin sei mediengeil und solle endlich Ruhe geben. Ein plausibles Motiv, an die Öffentlichkeit zu gehen, hatten weder Spiess-Hegglin noch Hürlimann.

Was macht eigentlich der dritte Mann?

Sowohl Jolanda Spiess-Hegglin als auch Markus Hürlimann haben in der «Captain's Lounge» eine weitere Person gesehen. Hürlimann, der von K.O.-Tropfen nichts wissen will, sich aber laut Protokoll weder erklären kann, woher er seine Blessuren hat, und sich an keinen Akt erinnern kann, hat aber «eine Erinnerung, wie Licht angeht, wie jemand uns überrascht». Auch Spiess-Hegglin erinnert sich bruchstückhaft an «Neonröhren über mir und zwei Männer. (...) Vor mir ist Markus Hürlimann mit entblösstem, erigiertem Penis. Ich glaube auch, dass er unten die Hosen anhatte. Ich sah noch einen Mann, (...), er stand rechts von ihm.» Es handelte sich bei dem beschriebenen Mann ebenfalls um einen SVP-Politiker. Ein halbes Jahr nach dem Zuger Vorfall wechselt er die Stelle, tritt unter Bedauern von sämtlichen politischen Ämtern zurück und zieht für ein Jahr nach Genf. Inzwischen ist er in Zürich als Berater tätig. «Ich habe mit der Sache nichts zu tun», erklärt er auf Anfrage. Am Telefon bittet er, mal drohend, mal flehend, «nicht im Zusammenhang mit dem Vorfall genannt zu werden». Obwohl er als Berater vermutlich davon profitieren würde, will er von einem Comeback in der Politik und auf der öffentlichen Bühne nichts wissen.

Wieso will Hürlimann nichts von K.O.-Tropfen wissen?

Das ist eigentlich die Schlüsselfrage. Denn Hürlimanns Verhalten, seine Aussetzer und Filmrisse, die er zu Protokoll gibt, lassen die Vermutung zu, dass er genauso ein Opfer einer verabreichten Substanz wurde. Die Erinnerung kam erst später, Stück für Stück und nach Konsultation seines Anwalts. Zunächst gab er an, nur Erinnerungsfetzen zu haben. Am 24.12.14 weiss sein Anwalt zum Schändungsvorwurf bestimmt: «Es war alles einvernehmlich». Mit «Es» wird der Geschlechtsverkehr nicht bestritten. Später, nach Einsicht in die Spitalakten, mit seiner nachgewiesenen DNA in der Vagina von Spiess-Hegglin, spricht Hürlimann von «Fremdküssen». Juristisch macht dies aus Sicht des damals Angeschuldigten Sinn. Als Mann würde man ihm die Opferrolle und die ebenfalls unbeabsichtigte Einnahme von irgendwelchen Substanzen schwer abnehmen. So gesehen fährt er mit der Variante «einvernehmlicher Sex nach viel Alkohol» wesentlich besser. Dass die DNA durch «Fremdküssen» und nicht durch den vollzogenen Geschlechtsakt in die Vagina kam, ist insofern wichtig, weil der Alkoholkonsum im vermuteten Ausmass nicht nur zu Filmrissen, sondern auch zu einer beeinträchtigten Errektionsfähigkeit führen würde. Weder schriftlich noch am Telefon wollte Hürlimann zu den Vorfällen Stellung nehmen.

19 mal unter den Top-Five-Storys des «Blick»

Bild: KEYSTONE

Über Jolanda Spiess-Hegglin sind gemäss Schweizer Mediendatenbank (SMD) 1530 Artikel geschrieben worden. 47 vor und 1483 nach der verhängnisvollen Landammann-Feier. Spiess-Hegglin war im Jahr 2015 hinter Stan Wawrinka und Sepp Blatter die drittmeist gegoogelte Person der Schweiz. Das Interesse an ihr schlug sich in herausragenden Click-Zahlen nieder. 19 Mal war eine Spiess-Hegglin Geschichte laut SMD unter den fünf meistgelesenen «Blick»-Geschichten. Das lässt sich gut kapitalisieren, wie ein grobes Rechenbeispiel zeigt.

Die meistgelesenen Geschichten werden beim «Blick», dem grössten oder zweitgrössten Newsportal der Schweiz, rund 800'000 bis eine Million mal angeklickt. Diese Top-Stories generieren jeweils rund 2,5 Millionen Werbeeinblendungen. Bei einem branchenüblichen Tausenderkontaktpreis dürfte so allein auf «Blick» online mit den 19 Top-5-Geschichten über Spiess-Hegglin ein Brutto-Umsatz von 80 - 100'000 Franken erzielt worden sein. Die breite Masse an Online-Artikeln zu Spiess-Hegglin, die nicht die «Blick»-Top-5-Position erreichten, die «Blick-am-Abend»-Artikel und die erzielten Print-Umsätze in «Blick» und «Sonntagsblick» sind nicht eingerechnet.

Ringier wurde wegen der Nennung der Namen der Beteiligten vom Presserat gerügt. Die Berichterstattung seitens «Blick» ist aber erst in dem Moment deutlich abgeflacht, als Spiess-Hegglin eine Klage gegen Ringier eingereicht hat. Der Prozess steht noch aus. 

Die Medien und das K.O.-Argument

Bild: KEYSTONE

Obwohl der an der Landammann-Feier bezeugte Verlauf ziemlich genau einer gut dosierten Reise durch die Nacht auf K.O.-Tropfen entspricht, nährt sich daraus bis heute die Unglaubwürdigkeit von Spiess-Hegglin und der Verlust ihrer Ehre. Die Vermutung liegt nahe, dass keiner der berichtenden Journalisten genaue Kenntnis über die Symptome nach Einnahme von K.O.-Tropfen hatte. Auf die zwei Fragen, ob sie heute noch ähnlich über den Fall berichten würden und ob sie damals irgendeine Ahnung von der Wirkung von K.O.-Tropfen gehabt hatten oder sich darüber informiert haben, wollte oder konnte keine (!) der angefragten Autoren oder Autorinnen, die für «Blick», «Tagesanzeiger» und «NZZ» schreiben, Auskunft geben.

«Wie die Tropfen wirken, haben glaub's die anderen irgendwann mal recherchiert. Ich habe das damals jedenfalls nicht gewusst und ja, das mit der umgekehrten Beweislast hat schon was.»
Auf Anonymität pochende/r «Reporter/in» zwei Jahre nach der Berichterstattung

Bei «Blick» verweist man an den Chefredaktor bzw. den Rechtsdienst und auf ein laufendes Verfahren, bei der «NZZ» auf Ferienaufenthalt, bei «Tages-Anzeiger» gab's gar kein Feedback. Der Verdacht, dass die gesamte Berichterstattung ohne genauere Vorstellung über die Wirkung von K.O.-Tropfen vonstatten ging, bestätigte sich in persönlichen und unter Zusicherung der Anonymität erfolgten mündlichen Gesprächen. Mindestens zwei Autoren/innen haben sich rein auf «ihr Gefühl» verlassen. Dass mit diesem «Gefühl» das Urteil gefällt wurde beziehungsweise die öffentliche Meinung bis heute gemacht wurde, gibt mindestens einer/m Redaktor/in zu denken. Er/Sie erklärt nachdenklich, dass er/sie das mit der euphorisierenden Wirkung von K.O.-Tropfen schlicht nicht gewusst habe, «und das mit der umgekehrten Beweislast hat schon was.»

Juristische Instanzen kennen eine Berufung. Die öffentliche Meinung kennt dieses Prinzip nicht. Dass sich Boulevard-Medien vergaloppieren können, ist bekannt. Aber auch die «klärende Rolle» von «Qualitätsmedien» blieb Spiess-Hegglin versagt. Im «Tages-Anzeiger»-wird im März 2015 von Michèle Binswanger attestiert, «Spiess-Hegglin schadet den Frauen». Die gleiche Autorin schiesst auch privat auf ihrem Twitter-Account gegen Spiess-Hegglin und gibt sich im Mai 2017 in einem Video als «Sachverständige» zuversichtlich, dass Philipp Gut den Prozess gegen Spiess Hegglin gewinnen (!) wird Einer anderen Journalistin gegenüber, die von ihr wissen wollte, worauf sie sich in ihrem so festen Urteil stütze, antwortete sie: «Mein Gefühl!»* Michèle Binswanger reagierte auf die entsprechenden Nachfragen nicht.

Die Zukunft

Bild: KEYSTONE

«Wenn man weiss, dass eine ganze Gruppe andauernd über einen berichtet, braucht es eine enorme Selbstdisziplin, diese Kommentare nicht zu lesen.» (...) Wer hingegen sachlich und distanziert mit den Kommentaren umgehen könne, dem rate er durchaus zum «Counter Speech». Jolanda Spiess-Hegglin sei ein gutes Beispiel, sagt der Pädagoge und Social Media Experte Philipp Wampfler: «Sie teilt jeden Hasskommentar auf Facebook.»

Jolanda Spiess-Hegglin im Einsatz für NetzCourage.
Jolanda Spiess-Hegglin im Einsatz für NetzCourage.Bild: Facebook

Was zunächst nach viraler Selbstzerstörung klingt, und von zahlreichen Betrachtern als Mediengeilheit ausgelegt worden ist, ist Jolanda Spiess-Hegglins Art, ihr Medien-Trauma zu überwinden. Sie lässt nichts unbeantwortet stehen und wehrt sich mit juristischen Mitteln gegen die Flut von analogen und digitalen Hassmeldungen. Vor einem Jahr, als die Ex-Kantonsrätin anfing, dem Internet und vor allem Facebook quasi im Alleingang Umgangsformen und schweizerische Rechtssprechung beizubringen, hätte niemand damit gerechnet, dass sie das durchhält. Aber Spiess-Hegglin ist zäh und wächst offenbar an der Aufgabe.

Inzwischen hat sie den Verein «NetzCourage» gegründet, der sich für die Opfer von Hate-Speech einsetzt. Seither hat sie rund 60 meist männliche Schreiber – die sich oft als Frauen ausgeben – angezeigt. Die Entschädigungen fliessen in den Verein. Spiess-Hegglin gilt inzwischen als Expertin in Sachen Shitstorm, Wutbürgertum und neue Medien. Politisch wird sie für ihr Engagement bezüglich Nettiquette heute mehr wahr genommen denn je. Ihr zunehmender Respekt äussert sich in einer schnell wachsenden Zahl an Social Media Followern, die sie inzwischen zu einer Influencerin von nationaler Bedeutung gemacht haben.

«‹Was guckst du mich denn so entgeistert an, mein Blümelein – ich schlage vor, dass wir jetzt erst einmal bumsen.› (…) und ich dachte: ‹Bumsen, meinetwegen›, und ich hab die Pistole rausgenommen und sofort auf ihn geschossen.»
K. Blum über den von ihr erschossenen Boulevard-Reporter Tötges

* Michèle Binswanger legt Wert auf die Feststellung, dass sie der betreffenden Journalistin gegenüber auf die Frage, was sie zu ihrer Haltung im Fall Spiess-Hegglin nicht gesagt hat «Mein Gefühl!» sondern: «Ich war bei Frau Hegglin zu Hause und habe stundenlang mit ihr über den Fall gesprochen, sowie mit allen anderen Beteiligten. Ich habe mir das Gespräch mehrmals angehört und bin nach reiflicher Überlegung und Erwägungen zu meinen Schlüssen gekommen.» 

Erst das «Urteil», dann das Gespräch

Dokumente zur Einordnung
Nach der Veröffentlichung des Artikels nimmt Michèle Binswanger erstmals watson gegenüber Stellung zum Thema und verlangt eine Gegendarstellung. Insbesondere der Punkt, dass sie sich in ihrer Berichterstattung vor allem auf ihr «Gefühl» verlassen habe, stört die Autorin. Sie wirft watson vor, dass sie nicht mit dieser Aussage direkt konfrontiert wurde. Allerdings liess Binswanger die drei schriftlich gestellten Fragen – unter anderen «Was liess/lässt dich an der Version von Spiess-Hegglin (K.O.-Tropfen) zweifeln» – bis heute unbeantwortet. Eine Gegendarstellung ist ihr gutes Recht und sei gewährt. Allerdings enthält sie grobe Unwahrheiten. Das stundenlange Gespräch mit Jolanda Hegglin Spiess, auf das sich Michèle Binswanger in ihrer Antwort bezieht, fand erst am Mittwoch, 4. März statt. Der vernichtende Artikel «Wenn ein Vorwurf K.O. geht» mit der Aussage «Jolanda Spiess Hegglin schadet den Frauen, in deren Namen sie spricht»" erschien bereits am 3. März im Tages-Anzeiger. Also hatte Michèle Binswanger ihr vernichtendes Urteil schon vor dem Gespräch gefällt und veröffentlicht.
Im Folgenden: 1. Statement der Journalistin, die bestätigt, dass sich Michèle Binswanger im Gespräch und auf Nachfrage, lediglich «auf ihr Gefühl» verlassen habe. Das erklärt auch die Aufforderung, mal in der Vergangenheit zu graben. Hätte sie selber handfeste Anhaltspunkte gehabt, wäre das wohl nicht ihr Ratschlag gewesen.
2. Kopie der schriftlichen unbeantworteten Anfrage an Michele Binswanger zur Frage, was sie an Spiess-Hegglins Version zweifeln liess.
3. Erscheinungsdatum des Artikels «Spiess-Hegglin schadet den Frauen...» am 3. März 2015
4. Kalendereintrag Jolanda Hegglin Spiess: Treffen mit «MB» (Michèle Binswanger) am 4. März 2015 um 10 Uhr. Das stundenlange Gespräch fand erst nach Erscheinen des Artikels statt.

1. Statement der Journalistin, gegenüber der Michèle Binswanger sich auf ihr «Gefühl» verlässt – und zum «Schnüffeln» anregt

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2. Unbeantwortete schriftliche Anfrage an Michèle Binswanger: «Was liess/lässt dich an der Version von Spiess Hegglin zweifeln?»

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3. Spiess-Hegglin schadet den Frauen...: Niederschmetternder Artikel, erschienen im «Tages-Anzeiger» am 3. März

Quelle Schweizer Mediendatenbank
Quelle Schweizer Mediendatenbank

4. Kalendereintrag Jolanda Spiess-Hegglin: MB (Michèle Binswanger) kommt am 4. März, einen Tag nach Erscheinen des Artikels zum «stundenlangen Gespräch»

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77 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Nausicaä
07.07.2017 13:15registriert Juli 2016
Herr Voigt, Sie beweisen gerade, dass Watson Sie wieder / immer noch braucht. Bitte kommen Sie zurück.
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asdfghjkl1
07.07.2017 10:43registriert März 2015
Ich habe endlich alles durchgelesen. Herzlichen Dank für diesen Artikel. Es ist eine einzige Abrechnung mit Journalisten, die ihr Handwerk nicht beherrschen. Aber es ist eben eine sachliche Abrechnung, davon braucht es in der Schweiz definitiv mehr! Und schön, dass Hansi für einen Artikel zurückkommen durfte... Er ist aus Leser-Sicht der Einzige, der diese Kritik glaubwürdig vertreten kann.
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Randy Orton
07.07.2017 13:51registriert April 2016
Interessanter Artikel, regt zur Selbstreflexion an. Und schön, dass es journalistisch sauber aufgearbeitete Artikel noch gibt, man vermisst dies heutzutage leider in den Medien viel zu oft.
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