Es gibt Momente, da hat sie ihren Job nicht gern. Jüngst war sie in einer festlichen Runde, in der man sich nicht so gut kannte und jeder zu seinem Beruf befragt wurde. Nach den Bankern, Lehrern und Versicherungsangestellten war Regula Buder dran. «Ich arbeite in der Palliativpflege und begleite kranke und sterbende Kinder», erklärte sie. Danach herrschte Ruhe.
«Mein Job ist halt schon immer ein Stimmungskiller», sagt die Laufentalerin und lacht. «Da getraut sich niemand mehr, irgendwas zu sagen, weil das dann so banal wirkt.» Gelegentlich erzählt Buder stattdessen, sie sei Krankenschwester. Das ist für alle verdaulicher.
Aber Buder kann sich keinen anderen Job vorstellen. Schon zu Beginn ihrer psychiatrischen Pflegeausbildung wusste sie: Es interessiert sie insbesondere das, was von vielen als dunkelstes Kapitel des Lebens angeschaut wird: das letzte. «Die Frage hat mich umgetrieben: Was passiert mit einem Menschen, bevor er freiwillig oder unfreiwillig aus dem Leben scheidet»? Lange arbeitete sie in der Erwachsenenpalliativmedizin, vor zehn Jahren wechselte sie zu den Kindern und Jugendlichen.
Dazwischen gab es in ihrem privaten Leben eine Zäsur, die ihr fortan helfen sollte, zu verstehen, wie es in dieser scheinbar aussichtslosen Lage ist, wenn das eigene Kind plötzlich sehr schwer erkrankt. Bei ihrer Tochter wurde mit sechs Jahren Leukämie festgestellt. Die Ärzte gaben dem Mädchen keine gute Prognose. Von einem Tag auf den anderen hängte Regula Buder, die mit ihrer Familie in Nenzlingen lebt, den Job an den Nagel und kümmerte sich nur noch um ihre Tochter. Die junge «Kämpferin», wie die Mutter sie nennt, schaffte es. Ein Jahr intensiver Chemos, ein Jahr Erhaltungstherapie. Heute ist die Tochter 18 Jahre alt und gesund.
Der Wechsel in die Kinderpalliativmedizin sei indes eher zufällig erfolgt. Buder sagt, vieles sei gleich, wenn man Erwachsene und Kinder im letzten Abschnitt ihres Lebens begleite. Die Tragik beim Tod eines jungen Menschen sei natürlich noch grösser, alles sei für das Umfeld noch unbegreiflicher. Doch die Arbeit mit den todkranken Kindern berge viele Glücksmomente: «Sie leben im Jetzt, denken nicht an nächste Woche oder nächsten Monat, wie wir Erwachsenen das tun. Und so können sie überglücklich sein, wenn sie für einen Moment keinen körperlichen Schmerz fühlen und es ihnen einfach gut geht.»
Doch es hängt so viel mehr dran, wenn einem Kind eine lebensbedrohliche Diagnose gestellt wird. Das Umfeld wird erschüttert, nicht nur das engere. Man wird ausgegrenzt. Vor 100 Jahren waren Kindstode nicht selten; man war es sich gewohnt, an Kinderbegräbnisse zu gehen oder die Nachbarn zu besuchen, die ihr soeben verstorbenes Kind zu Hause aufgebahrt hatten. Heute ist die Kindersterblichkeit so tief, dass sie vollständig aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verschwunden ist und verdrängt werden kann.
Buder sagt: «Eltern todkranker Kinder müssen oft zusehen, wie sie isoliert werden. Bekannte beginnen, die Strassenseite zu wechseln, weil sie nicht wissen, wie sie mit dem Thema umgehen sollen – oder gar einen latenten Aberglauben in sich tragen, dass ihre eigenen Kinder irgendwie damit in Berührung kommen könnten.» Wann immer Buder auf Hausbesuche geht und von Nachbarn angesprochen wird, rät sie: «Einfach vorbeigehen und anklopfen.»
Ihre eigentliche Arbeit betrifft aber den engsten Familienkreis. Buder ist eine von 110 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kinderspitex Nordwestschweiz und tritt dann ins Leben ihrer Patienten, wenn diese die Gewissheit haben: Die Krankheit ist nicht mehr zu heilen.
Ihre Aufgabe ist es, ihnen zu zeigen, wie die letzten Tage gestaltet werden können. Das sind ganz pragmatische Dinge wie die Verabreichung von Schmerzmitteln oder das Aufzeigen, ob und wie das Kind zu Hause begleitet und verabschiedet werden kann. Und Gespräche führen: mit dem Kind selbst, mit den Geschwistern, mit den Eltern. «Immer», sagt Buder, «ist der Verlust des eigenen Kindes ein Einschnitt. Man teilt das Leben in ein ‹Davor› und ein ‹Danach›. Nur Betroffene können die Dimension des Schmerzes erfassen.»
Und trotzdem können Eltern und Familien die letzten Stunden so gestalten, dass man aus dem Unfassbaren Kraft schöpfen kann. Es gibt zwei Ebenen des Schmerzes. Diejenige, einen geliebten Menschen verloren zu haben. Dieser lässt sich kaum lindern. Und diejenige, in den letzten Stunden nicht alles getan zu haben für das möglichst schmerzfreie, friedliche Sterben. Buder setzt hier an.
Sie erinnert sich an einen besonders tragischen Fall, als die Eltern gleich kurz nacheinander die lebenslimitierende Diagnose für beide ihrer Kinder erhalten hatten. Der Tod des ersten Kinds war traumatisch gewesen. Denn die Eltern waren mit dem Gefühl konfrontiert, nicht bis zuletzt das Beste für ihr Kind getan zu haben.
Anders war es beim zweiten Kind, das im trauten Heim gehen durfte. Die Eltern hätten in der ganzen Tragik des Verlusts auch das Heilsame des guten Abschiednehmens erfahren. «Nachdem das Kind verstorben war, blieb es im Kreis der Familie. Wir assen, tranken, das verstorbene Kind neben uns, und es fühlte sich so natürlich an. Man bekam den Eindruck, dass in dieser Form von Abschied auch viel Tröstliches und Heilsames für die Zukunft liegt.»
Über 200 Kinder werden alleine in der Nordwestschweiz von der Kinderspitex betreut. Die meisten leben noch Jahre mit ihrer Diagnose. Sechs- bis achtmal jährlich begleitet Buder ein Kind in den Tod. Leicht ist das auch für einen Routinier wie sie nicht. Die Versuchung liegt nahe, um sich herum eine Wand zu errichten, einem Roboter ähnlich nichts an sich herankommen zu lassen. Es gebe durchaus auch solche Tendenzen in ihrem Berufsstand, der Palliativmedizin. «Wo man sich fast damit brüstet, wer das noch üblere Schicksal gesehen hat.»
Sie aber hat sich fürs Menschsein entschieden, baut innert kürzester Zeit eine Nähe zu den Patienten und den Familien auf, die «intimer nicht sein könnte». Sie besucht die Beerdigungen, sofern die Familien das wünschen. Und lässt auch mal bei der Arbeit den Tränen freien Lauf.
Sie erinnert sich an den Abschied eines Kindes einer Pflegefamilie. Kurz, nachdem sein Herz aufgehört hatte zu schlagen, kamen die Geschwister ans Bett und begannen zu schluchzen. «Da kullerten mir auch Tränen übers Gesicht.»
Abstumpfen wird Buder nicht. 50 Jahre alt ist sie jetzt und kann sich nicht vorstellen, noch einen anderen Job anzunehmen. «Natürlich gibt es auch die Tage, an denen ich alles hinschmeissen und Floristin werden will – aber die hat glaub jeder.» Doch einen Beruf zu haben, bei dem es keine Schubladen gibt, die man aufzieht, um dann das richtige Rezept in der Hand zu halten und tagtäglich konfrontiert wird mit Unvorhergesehenem, das wolle sie nicht missen.
Und es gibt ja auch diese märchenhaften Geschichten, um die sie selbst die Durchschnittsarbeitnehmer beneiden dürften. Wenige Jahre ist es her, da wurde bei einem Mädchen eine lebensbedrohliche Krankheit wegen eines Gendefekts diagnostiziert. Mediziner gaben ihr nur noch kurze Zeit. Buder war bereits damit beschäftigt, die Geschwister mit dem Schicksal zu konfrontieren. Plötzlich stabilisierte sich die Gesundheit der Kleinen, heute besucht sie den Kindergarten. Auch solche Wunder gibt es in diesem Job. Aber im Zentrum steht immer das Lebensende – jener Teil, dem so etwas «Lebendiges» innewohnt, wie Buder findet. (bzbasel.ch)