Das Thema Antisemitismus ist wieder ganz oben auf der politischen Agenda. Am Mittwoch sorgte der Fernsehsender Arte mit dem Entscheid für Aufregung, einen Doku-Film über Judenfeindlichkeit nicht auszustrahlen. Kritiker warfen dem deutsch-französischen Sender Zensur vor. Arte führte als Begründung für die Nicht-Ausstrahlung handwerkliche Mängel ins Feld. Die Boulevardzeitung «Bild» sprang in die Bresche und zeigte die Doku während 24 Stunden auf ihrer Website.
Währenddessen machte in der Schweiz SVP-Nationalrat Christian Imark mit einem umstrittenen Vorstoss von sich reden. Imark verlangte, hetzerischen, antisemitischen und rassistischen Nichtregierungsorganisationen im Ausland die Unterstützung durch Steuergelder zu versagen. Kritiker kreideten Imark an, mit dem Vorstoss kritische NGOs mundtot machen zu wollen. Der SVP-Nationalrat sei dabei von pro-israelischen Lobby-Organisationen instrumentalisiert worden. Der Ständerat nahm die Motion schliesslich an, wenn auch in abgeschwächter Form.
Für alt Nationalrat und Historiker Josef Lang ist der Vorstoss von Imark Teil eines Musters, das europaweit zu beobachten ist: rechtskonservative Parteien gerieren sich als Unterstützer des Staates Israels, ohne sich wirklich von ihrer antisemitischen Vergangenheit zu lösen. Lang, der während acht Jahren im Nationalrat für die Grüne politisiert hatte, wirft den rechtskonservativen Parteien beim Thema Israel Doppelmoral vor.
Ein Gespräch über Antisemitismus, Israelkritik und Muslimfeindlichkeit.
Herr Lang, dass sich gerade die SVP als Kämpfer gegen den Antisemitismus aufspielt, ist doch einigermassen erstaunlich.
Wenn man heute die parlamentarische Gruppe Schweiz-Israel, die hinter dem Vorstoss steht, anschaut, wird einem klar: Die meisten politischen Kräfte waren früher klassische Träger des Antisemitismus. Bei vielen rechtsnationalen Parteien in Europa hat die Muslimfeindlichkeit die Judenfeindlichkeit abgelöst hat.
Das müssen Sie genauer erklären.
Nach der Shoa, der grössten Katastrophe in der Geschichte der Menschheit, hatte der Antisemitismus nie mehr das gleiche Gewicht, auch wenn er mindestens latent immer vorhanden war. Eine SVP, ein Front national oder auch eine FPÖ waren noch in den 90er-Jahren stark judenfeindlich, wie die hitzige Diskussion um das Nazigold bewies. Dann, Ende der 90er, Anfang 00er-Jahre, konnte man in den konservativen und religiösen Parteien einen Umschwung beobachten.
Weshalb erfolgte dieser Umschwung?
Aus drei Gründen: Mit den zunehmenden Terroranschlägen von dschihadistischen Fanatikern erstarkte auch die Muslimfeindlichkeit – 9/11 war hier ein Wendepunkt. Zweitens erlebte Israel in den letzten Jahren einen massiven Rechtsruck, dadurch wurde das Land und seine Politik anschlussfähiger für die europäischen Rechtsnationalen. Der wichtigste Rechtsextremismus-Experte Zeev Sternhell, ein Israeli, hat einmal gesagt, die heutige israelische Politik ist genauso intolerant, militaristisch und ausgrenzend, wie sich das die Rechten für ihre eigenen Länder in Europa wünschen.
Und der dritte Punkt?
Mit dem Ende der Sowjetunion fiel das wichtigste Feindbild der rechtskonservativen Parteien, der böse Feind aus dem Osten, weg. Heute ist es absurderweise ja so, dass viele Rechte Putin-Fans sind. Bei den rechtsnationalen Christen kommt noch etwas anderes dazu. Gewisse christliche Strömungen erwarten von der Rückkehr der Juden nach Palästina die Erlösung, deshalb unterstützen sie das Recht der Juden auf die Besiedlung der palästinensischen Gebiete. Die Pointe, die dabei oft unterschlagen wird, ist, dass die Juden natürlich Jesus als Messias anerkennen müssten. Solche christlich-rechtsesoterische Kreise standen auch hinter der Motion Imark.
Auch Teile der CVP haben zugestimmt ...
Ja, beim reaktionären Flügel um Parteipräsident Gerhard Pfister fand der Vorstoss Anklang. Der liberale Flügel der Partei hingegen hat mit den Linken abgestimmt. Das ist auch ein Ausdruck der innerparteilichen Grabenkämpfe, die Pfister mit dem Ausruf der Wertedebatte ausgelöst hat.
Pfister hat letztes Jahr das christliche Wertefundament der Schweiz betont.
Ja, und die Stossrichtung dieser Wertedebatte ist ähnlich obrigkeitsgläubig und muslimfeindlich wie der Vorstoss von Herrn Imark.
Im Nationalrat gab es im Gegensatz zum Ständerat grosse Unterstützung für die ursprüngliche Form des Vorstosses.
Ja, das ist höchst bedenklich. Die Schweiz hätte sich damit zum Handlanger von Regimes gemacht, die kritische Gruppen verhindern und totschweigen wollten. Es wäre einer Solidaritätsaktion mit Obrigkeiten gleichgekommen, mit intoleranten Regimes, die kritische Gruppen verhindern wollen. Einzelne Parlamentarier zogen zurecht den Vergleich mit Putins Russland oder mit Klimaschutz-Organisationen in den USA, die man nicht mehr hätte unterstützen können, weil sie Trumps offizielle Politik ‹provoziert› hätten.
Auffallend viele Liberale haben den Vorstoss im Nationalrat unterstützt. Wieso?
Ich glaube, viele haben sich schlicht und einfach nicht allzu viel dabei überlegt. Zweitens dürften wohl viele nicht bedacht haben, wer da mit dem Stichwort ‹Antisemitismus› agiert.
Sie sprachen vorhin von Feindbildern ...
Ja, das Feindbild Muslime von gewissen rechten Parteien ist auch eine Bekräftigung der eigenen Identität. Die rechtskonservative Identität hat sich historisch immer aufgebaut über ein Feindbild, über die Einteilung in ein Schema von Freund und Feind.
Wieso?
Einfach ausgedrückt: Weil der Konservatismus im Vergleich zum Liberalismus, der ein Grundvertrauen in Mensch und Gesellschaft hat, ein negatives Welt- und Menschenbild propagiert. Diese Dichotomie kann man seit der Gegenaufklärung beobachten. Zuerst waren Liberalismus und die Moderne den Konservativen ein Dorn im Auge, dann der Kommunismus und Sozialismus. Und jetzt, im 21. Jahrhundert die Muslime. Die Juden hingegen waren immer und zu allen Zeiten im Visier der Rechtskonservativen. Deshalb ist es auch so heuchlerisch, wenn die neue Rechte jetzt derart philosemitisch auftritt.
Sie werfen den Rechtskonservativen Doppelmoral vor.
Ja, die SVP hat noch in den 90ern in einem ganzseitigen Inserat zum 80. Geburtstag der Zürcher SVP gegen den «Goldenen Internationalismus» gewettert. Damit war natürlich das Judentum gemeint. Aber: Es gibt für diese Leute zwei fiktive Typen von Juden. Der eine ist die traditionelle Karikatur des Juden: intellektuell, urban, links, in europäischen Grossstädten oder der US-Ostküste beheimatet. Der andere ist der israelische Jude: Soldat, männlich, heroisch. Mit letzterem können sich die rechtsnationalen nun viel mehr identifizieren.
Dieses Phänomen ist in ganz Europa zu beobachten. Le Pens Front National und Orbans Fidesz etwa gerieren sich als Freunde Israels. Parteien mit einer offen antisemitischen Vergangenheit.
Auch hier wurde die Judenfeindlichkeit im Rahmen der rechten Wende in Israel durch eine Muslimfeindlichkeit abgelöst – vorgeblich. Dass unter dem dünnen Mäntelchen des Philosemitismus aber nach wie vor ein tiefer Judenhass sitzt, merkte man etwa bei der Debatte um die Kollaboration der französischen Polizei mit der Gestapo im Zweiten Weltkrieg, die kürzlich wieder aufgeflammt ist. Da hat Marine Le Pen genau gleich reagiert wie ihr Vater, da ist das philosemitische Mäntelchen schnell weggeweht worden.
Politische Einstellungen können sich im Lauf der Zeit ändern, auf der individuellen wie auch auf der kollektiven Ebene. Es gibt genug Beispiele von Neonazis, die zu Humanisten wurden.
Es gibt zwei einfache Tests, um die anti-antisemitische Glaubwürdigkeit der Rechten zu überprüfen. Erstens: Wie stellt man sich der eigenen judenfeindlichen Vergangenheit, beispielsweise der Boot-ist-voll-Politik in der Schweiz.
Und?
Die Antwort wird jedes Mal deutlich, wenn der Bergier-Bericht wieder thematisiert wird: Die rechten Parteien stellen sich der eigenen Vergangenheit nicht, und wenn doch, dann wird sie verharmlost. Der zweite Test ist die Frage, wie die Basis tickt. Und auch da zeigt sich in Studien und Umfragen immer wieder: Ein überwiegender Teil der Basis ist zwar primär muslimfeindlich, aber sekundär auch noch immer judenfeindlich.
Der Vorwurf der Rechten an die Linken ist aber nicht aus der Luft gegriffen. Die Linke hat ja beim Thema Israel auch oftmals ein Problem mit der Abgrenzung zwischen Antisemitismus und Israelkritik.
Ich würde nicht sagen, dass die Linke als solche ein Problem hat. Die Linke hat eine anti-antisemitische und eine solidarische Tradition. Dass man sich vor diesem Hintergrund mit den Palästinensern solidarisch zeigt, liegt auf der Hand. Aber es stimmt: Es gibt Linke, die zu wenig differenzieren zwischen Israel als Nation, die eine Existenzberechtigung hat wie jede Nation und der israelischen Politik. Und die auch zu wenig unterscheiden, zwischen einem Staat, der seine Machtmittel missbraucht und dem Judentum, das sich nicht auf Israel reduzieren lässt.
Wie kann man diese mangelnde Differenzierung erklären?
Links-Sein allein ist keine Garantie gegen Antisemitismus. Die Judenfeindlichkeit ist derart tief in unserer Kultur verankert, dass auch auf der Linken eine ständige Auseinandersetzung mit dem Thema unerlässlich ist. Schlussendlich ist es wahrscheinlich eine Kombination aus zwei Faktoren: Ein Mangel an anti-antisemitischer Sensibilität und gleichzeitig eine starke Empathie mit dem palästinensischen Volk.
Der Entscheid des Fernsehsenders Arte, eine Dokumentation über Antisemitismus nicht auszustrahlen, sorgte am Dienstag für harsche Kritik.
Ich muss vorausschicken, dass ich den Film nicht gesehen habe, insofern kann ich mich zum Inhalt nicht äussern. Die Entscheidung von Arte, den Film nicht zu zeigen, finde ich aber heikel, selbst wenn der Vorwurf handwerklicher Mängel zutrifft. Verbote pflegen eine Botschaft noch stärker zu verbreiten.
Im Film wird unter anderem die Lebenssituation von französischen Juden in den Banlieues thematisiert. Diese sähen sich, wie Juden in Europa allgemein, einem immer stärkeren Antisemitismus ausgesetzt ...
Es gibt tatsächlich eine wachsende Judenfeindlichkeit unter muslimischen Jugendlichen. Deren stärkste Ursache ist die Unterdrückung der Palästinenser durch Israel. Inhaltlich ist er zusätzlich durchsetzt mit Versatzstücken aus dem abendländischen Antisemitismus, insbesondere die Juden seien reich oder verschwörerisch. Diese Judenfeindlichkeit ist vor allem für die Schulen eine Herausforderung. Dazu braucht es auch spezifische Lehrmittel. In der NZZ habe ich gelesen, dass im Film die Lebenssituation in Paris mit der im Gazastreifen verglichen wird. Dabei wird offenbar unterschlagen, dass erstere völlige Bewegungsfreiheit haben, letztere aber in einem militärisch abgeschotteten Gebiet leben. Ich finde einen solchen Vergleich ebenso fragwürdig wie die Behauptung, dass Menschen in Gaza mit den Holocaust-Opfern gleichzusetzen seien.
Das Bewusstsein für den grassierenden Antisemitismus ist also Ihrer Meinung nach vorhanden?
Ja, zumindest in der Schweiz. Dazu beigetragen hat nicht zuletzt der Bergier-Bericht. Allerdings zeigt gerade die Verharmlosung der Boot-ist-voll-Politik durch die «Weltwoche», dass weiterhin Wachsamkeit geboten ist.
Sie sagten einmal, dass die «politische Polarisierung um Israel derjenigen um das Apartheid-Regime in Südafrika immer ähnlicher wird». Was meinen Sie damit?
Die Rechtsparteien, die jetzt für Israel sind, waren damals fürs Apartheid-Regime. Für die Rechten war das Apartheid-Regime ein Vorposten gegen den Kommunismus. Heute ist Israel in den Augen vieler Rechter der Vorposten gegen den Islam.
Der deutsche Historiker Volker Weiss schrieb, dass die neue Rechte den Begriff des jüdisch-christlichen Abendlands für sich zu besetzen versucht. Das zivilisierte Abendland als Gegensatz zum barbarischen Morgenland?
In den letzten 2000 Jahren haben die Christen die Juden meistens unterdrückt und häufig verfolgt. Der mörderische Antisemitismus der Nazis hat zwar den Rahmen des christlichen Antisemitismus gesprengt, aber ohne diesen Hintergrund hätte es den Holocaust nicht gegeben. Man darf nicht vergessen: Die überwiegende Mehrheit der Nazis waren Angehörige christlicher Kirchen. Besonders der Gottesmord-Vorwurf hatte radikalisierende Wirkung. Das Geschwätz vom jüdisch-christlichen Abendland ist eine Verhöhnung der 6 Millionen Shoa-Toten.
Die Schweizer Rechte orientiere sich auch am autoritären Kurs von Netanjahus Israel, schrieben Sie. Wird das zunehmen? Immerhin erklären uns Sicherheitsexperten seit Jahren, dass angesichts des Terrorismus Zustände wie in Israel die Norm werden ...
Die Gefahr autoritärer Reaktionen auf Gewalt ist immer da. Aber gerade die britische Wahl gibt Hoffnung, dass man auch rational auf diese Tragödie reagieren kann. Nicht im Sinn von Aufrüstung und Rachegelüste, sondern im Sinn von Integration und Inklusion, was gerade in der Schweiz relativ gut läuft. Das heisst aber auch Pflege des polizeilichen Service Public und Verzicht auf militärische Abenteuer im Ausland.